BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/18508 21. Wahlperiode 08.10.19 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Heike Sudmann (DIE LINKE) vom 30.09.19 und Antwort des Senats Betr.: Auswirkungen einer Bahnhofsverlagerung von Altona zum Diebsteich Für die Stilllegung des bisherigen Fern- und Regionalbahnhofs Hamburg- Altona besteht weiterhin ein gerichtlich verfügter Baustopp. In Gesprächen „Faktenchecks“ zwischen der Deutschen Bahn AG, dem Senat und den Klägern /-innen wurden diverse Vor- und Nachteile des Projekts erörtert. Insbesondere die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der derzeitigen Planung unter den Bedingungen einer entschiedenen Verkehrswende bleibt offen. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Mit der Entscheidung der Deutschen Bahn AG, den Fern- und Regionalbahnhof von Hamburg-Altona an die circa 1 800 Meter entfernte S-Bahn-Station Diebsteich zu verlegen , sind für Hamburg viele Vorteile verbunden. Der jetzige Kopfbahnhof in Hamburg-Altona soll durch einen Durchgangsbahnhof am S-Bahnhof Diebsteich ersetzt werden und damit Vorteile für Verkehrsfluss und Leistungsfähigkeit bringen. Eine Verlegung führt unter anderem zu zusätzlichen Anbindungs - und Umsteigemöglichkeiten und wird für viele Fahrgäste kürzere Fahrtzeiten bringen. Es entstehen wesentlich weniger Leerfahrten im Rahmen der Zug-Bereitstellung und die Gleisanlagen können erheblich reduziert werden. Der Bahnbetrieb wird deutlich einfacher und energiesparender zu bewerkstelligen sein. Außerdem bietet die Verlegung die Möglichkeiten der Stadtentwicklung: Geplant sind 1 900 Wohnungen, die im 2. Bauabschnitt Mitte Altona nur mit der Verlegung des Bahnhofes realisiert werden können. Die Räumung des Gleisfeldes macht zusätzlich einen geplanten Grünzug von der „Mitte Altona“ bis zum Altonaer Zentrum und darüber hinaus möglich. Ferner eröffnen sich durch den neuen Fernbahnhof am Diebsteich Möglichkeiten für die Weiterentwicklung des direkt angrenzenden Quartiers. Durch vorausschauenden Grunderwerb hat die Freie und Hansestadt Hamburg wichtige Grundstücke für die weitere Entwicklung im Umfeld gesichert. In diesem Quartier soll sich eine Mischung aus urbanem Wohnen, regionalen Sportangeboten und Gewerbe mit Büros und Kulturangeboten entwickeln. Eine Klage gegen die Verlegung des Fern- und Regionalbahnhof hat dazu geführt, dass weitere Arbeiten zurzeit nicht ausgeführt werden dürfen. Der Hamburger Senat nimmt die Fragen und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger sehr ernst. Deswegen hat der Präses der Finanzbehörde die beteiligten Akteure (Vertreter der beteiligten Behörden , der Deutschen Bahn AG, der ProHa Altona GmbH und Co.KG sowie des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) Landesverband Nord e.V. und der Bürgerinitiative Prellbock Altona e.V.) zu einem sogenannten Faktencheck eingeladen. Hier geht es darum, durch intensiven und vertrauensvollen Austausch der vorhandenen Fakten, Drucksache 21/18508 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 das gegenseitige Verständnis zu erhöhen und Vor- und Nachteile sorgfältig gegeneinander abzuwägen, um eine einvernehmliche Lösung zu finden. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen teilweise auf Grundlage von Auskünften der Deutschen Bahn AG (DB AG) wie folgt: 1. Aus welchen Gründen hält der Senat an einem Projekt fest, welches ursprünglich einmal in den 1990er-Jahren geplant wurde und heute nicht mehr in die geänderten umweltpolitischen und verkehrspolitischen Rahmenbedingungen passt? Die Entscheidung über die Verlegung des Fernbahnhofs Altona an den Standort Diebsteich hat die DB AG getroffen. Die DB Netz AG ist die Vorhabenträgerin und Bauherrin dieser Maßnahme. Im Übrigen siehe Vorbemerkung sowie Drs. 21/8808. 2. Welche Erkenntnisse liegen dem Senat darüber vor, ob der geplante Fern- und Regionalbahnhof Diebsteich den neuen Anforderungen (Verdoppelung der Fahrgastzahlen im Eisenbahnverkehr bis 2030, Einführung des Deutschlandtaktes) kapazitativ gewachsen ist? Falls dem Senat keine Erkenntnisse vorliegen: Weshalb hat er dazu keine Informationen eingefordert? Das Projekt des Bundes zur Konzipierung eines Deutschland-Takts befindet sich derzeit noch in Arbeit. Die Gutachter des Bundes haben am 7. Mai 2019 den zweiten Entwurf eines möglichen Fahrplans für den Deutschland-Takt vorgestellt. Dieser soll bis zum Frühjahr 2020 überarbeitet werden. Es ist daher davon auszugehen, dass es im Laufe der weiteren Planungen, Prüfungen und Beratungen weitere Änderungen geben wird. Die Planungen für den neuen Bahnhof wurden im Zeitraum 2009 bis 2015 vorbereitet und beim Eisenbahn-Bundesamt eingereicht. Bei Bedarf können diese auf künftige Veränderungen (zum Beispiel Deutschland-Takt) hin optimiert werden. Im Übrigen hat die DB AG im Faktencheck im Mai 2019 gegenüber dem VCD und der Bürgerinitiative Prellbock auf die Robustheit des neuen Bahnhofs verwiesen. 3. Welche eigenständige Untersuchungen – durch von der DB AG unabhängige Gutachter/-innen – hat beziehungsweise wird der Senat zur Frage der langfristig ausreichenden Kapazität erstellen lassen? Falls keine geplant sind: weshalb nicht? Vorhabenträgerin und Bauherrin der Maßnahme ist die DB Netz AG. Hinsichtlich des Schienenpersonenfernverkehrs hat der Bund im Übrigen einen grundgesetzlichen Gewährleistungsauftrag aus Artikel 87e Absatz 4 S. 1 GG. Vor diesem Hintergrund wurden keine eigenständigen Untersuchungen des Senats durchgeführt. 4. Wie hat der Senat die Auswirkungen der Bahnhofsverlagerung auf die Verkehrsströme (Fußgänger/-innen, Radler/-innen, MIV, ÖPNV) am alten und neuen Bahnhofsstandort zu untersucht? Bitte die Gutachten, Untersuchungen mit der jeweiligen Auftragsstellung, dem Auftragsdatum und den Ergebnissen nennen. Bedarfsträger dieses Verfahrens ist die DB. Im Planfeststellungsverfahren wurde seitens der DB eine Verkehrsstromanalyse für den inneren Bahnhofsbereich bis zu den Aus- und Eingängen durchgeführt. Die damalige Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) hat im Dezember des Jahres 2010 im Zuge der vorbereitenden Untersuchungen nach § 165 BauGB für das Projekt Mitte Altona eine „Verkehrsuntersuchung Mitte-Altona“ durchgeführt. Der neue Fernbahnhof Diebsteich liegt im städtebaulichen Entwicklungsgebiet und war somit Teil der Untersuchung. Beauftragt war das Büro SBI Beratende Ingenieure für Bau – Verkehr – Vermessung GmbH. Die Ergebnisse der Untersuchung sind unter https://www.hamburg.de/diebsteich-mittealtona/gutachten-rechtliche-grundlagen/ veröffentlicht worden. Über den sogenannten Modal-Split-Ansatz wurde der nicht motorisierte Verkehr bei den Planfällen „normaler Kfz-Nutzung“ und „gemäßigter Kfz- Nutzung“ berücksichtigt. Die damaligen verkehrlichen Annahmen für den neuen Fernbahnhof Diebsteich können der Langfassung der Untersuchung entnommen werden. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/18508 3 5. Wie hat der Senat die Auswirkungen der Bahnhofsverlagerung auf die rund 2 600 Gewerbebetriebe, die im Umkreis von 1 Kilometer um den jetzigen Bahnhof Altona liegen, untersucht? Bitte die Gutachten, Untersuchungen mit der jeweiligen Auftragsstellung, dem Auftragsdatum und den Ergebnissen nennen. Bedarfsträger dieses Verfahrens ist die DB. Es wurden hierzu keine Untersuchungen beauftragt. 6. Für die Bahnhofsverlagerung sollen bis zu 50 genehmigungspflichtige Bäume gefällt werden, für die nur 121 Bäume nachgepflanzt werden sollen . Die Ausgleichspflanzungen dafür sollen laut Planfeststellungsunterlagen im Duvenstedter Moor stattfinden. Der Verlust an Kühlkapazität und an CO2-Bindungskapazität tritt aber an Ort und Stelle der Entnahme der Bäume ein. Welche Maßnahmen sieht der Senat vor, um das Stadtklima an Ort und Stelle nicht weiter zu verschlechtern beziehungsweise den Verlust an Ort und Stelle zu kompensieren? Die genauen Standorte für die Ausgleichspflanzungen stehen noch nicht fest. 7. Welche Rodungen plant die Deutsche Bahn neben den Baufällungen im Umfeld der Baustelle des neuen Bahnhofs Diebsteich? Bitte aufschlüsseln nach Ort der Rodung, Flächengröße, Art und Umfang der betroffenen Vegetation sowie der Kompensation. Rodungen, die auf Vorhabensflächen stattfinden, sind im landschaftspflegerischen Begleitplan des Planfeststellungsverfahrens dargestellt. Baumfällarbeiten, die die DB AG aufgrund ihrer Verkehrssicherungspflicht durchführt, werden nicht zentral dokumentiert . 8. Die Hamburger Baumschutzverordnung und die Arbeitshinweise zum Vollzug der Baumschutzverordnung und der dabei zu beachtenden artenschutzrechtlichen Vorschriften sehen eine Nachpflanzverpflichtung von 1 Baum – 15 Bäumen (je nach Art und Qualität des gefällten Baumes , nur für die genehmigungspflichtigen Fällungen) vor. Es ist bekannt, dass ein alter Baum eine CO2-Minderungskapazität von 100 – 1 000 kleinen nachgepflanzten Bäumen hat. Wann werden die geplanten Ersatzpflanzungen die gleiche CO2-Minderungskapazität wie die gefällten Bäume haben? Die Anzahl der nachzupflanzenden Bäume entspricht den naturschutzfachlichen Anforderungen und wurde durch das Eisenbahn-Bundesamt planfestgestellt. Insgesamt werden mehr als doppelt so viele Bäume gepflanzt wie gefällt. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass der Begriff der CO2-Minderungskapazität in diesem Kontext weder in der Wissenschaft noch im Naturschutzrecht verwendet wird. 9. Wird der Senat die im Rahmen des Bahnhofprojektes erfolgenden Bauarbeiten an der Eisenbahnüberführung Stresemannstraße nutzen, um die gefährliche Engpasssituation für Radfahrer/-innen und Fußgänger/ -innen dort (jeweils nur ein knapp 1 m breiter, schlecht einsehbarer und beleuchteter Weg für Radfahrer/-innen und Fußgänger/-innen zusammen ) zu entschärfen? Derzeit sind keine Maßnahmen geplant. 10. Wenn ja, wann und mit welchen Maßnahmen? Wenn nein, weshalb nicht? Laut Presseveröffentlichungen soll die geplante S32 zur Science City Bahrenfeld am S-Bahnhof Holstenstraße ausgefädelt werden. Dies ist nicht nur technisch extrem aufwendig, sondern auch mit sehr hohen Kosten verbunden. a) Welche Mehrkosten entstehen durch eine Ausfädelung an der Holstenstraße statt am Diebsteich? Aufgrund der vorhandenen Planungstiefe (Stand: Machbarkeitsuntersuchung) sind derzeit keine Aussagen zu entstehenden Kosten möglich. Drucksache 21/18508 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 b) Weshalb wurde keine Ausfädelung am S-Bahnhof Diebsteich vorgesehen , der in diesem Zusammenhang zu einem viergleisigen S-Bahnhof ausgebaut werden könnte? Die Ausfädelung Holstenstraße ermöglicht eine direkte und somit schnelle Führung der S32 Richtung Innenstadt. Außerdem erschließen die hiermit möglichen Haltestellen in der Stresemannstraße deutlich mehr Einwohnerinnen und Einwohner und Arbeitsplätze als die im Fall einer Ausfädelung am Diebsteich denkbaren Haltestellen. 11. Das jetzige Bahnhofsgebäude in Altona ist anerkanntermaßen ein hässliches Objekt. Welche Pläne hat der Senat, diesen Standort zu verändern , zum Beispiel durch den Bau eines Büro- und Hotelturmes? Eine Neuordnung des Bahnhofskomplexes und seines Umfeldes ist erst nach Verlegung des Bahnhofes Altona an den Standort Diebsteich möglich. Dies wird voraussichtlich nicht vor dem Jahr 2026 erfolgt sein. Konkrete Planungen liegen daher noch nicht vor. 12. Welche Maßnahmen plant der Senat, um kurzfristig die Radabstellsituation am jetzigen Bahnhof Altona neu zu ordnen und zu verbessern? Die P+R-Betriebsgesellschaft mbH erarbeitet derzeit eine Machbarkeitsstudie zur Einrichtung einer Fahrradstation am Bahnhof Altona. Parallel wird die Einrichtung einer Interimsmaßnahme in Form von normalen B+R-Anlagen nach Hamburger Standard geprüft. 13. Der Bahnhof Altona könnte tagsüber auch als Umsteigepunkt für mit der Bahn anreisende Kreuzfahrtpassagiere genutzt werden. Dies würde den Hauptbahnhof entlasten und wäre für die Passagiere mit in der Regel viel Gepäck aufgrund der Ebenerdigkeit des Altonaer Bahnhofs bequemer . Ferner wäre der Weg zu den Kreuzfahrterminals kürzer als vom Hauptbahnhof aus. Hat der Senat Gespräche mit Kreuzfahrtanbietern/ -innen über eine derartige Nutzung des Bahnhofs Altona geführt? Wenn nein, weshalb nicht? Im Zuge der Debatte zu einer verbesserten Abfertigung für Kreuzfahrtgäste am Hauptbahnhof wurden die Varianten Altona und Harburg diskutiert. Die größtmögliche Bündelung der Fahrgäste, die mit dem Zug anreisen, ist nur am Hauptbahnhof gegeben . Eine Reihe von Fernzügen aus Nordrhein-Westfalen und den südlicheren Bundesländern verkehrt nicht über Altona. Gleiches gilt für den Bahnhof Hamburg- Harburg. Neben einer Abfertigung der Kreuzfahrtpassagiere in Altona müsste daher in jedem Fall auch der Hauptbahnhof genutzt werden. Eine Abfertigung an zwei Standorten ist logistisch jedoch nicht zweckmäßig. Hierzu trägt auch bei, dass die Wege und Fahrtzeiten zu den Cruise Centern in Steinwerder und in die HafenCity von Altona aus länger und langsamer sind. 14. Wann wurde die alte, vor 2019 gebaute Eisenbahnüberführung für die S- Bahn-Gleise über die Julius-Leber-Straße errichtet, wann das letzte Mal grundinstand gesetzt? 15. Wann wurde die alte Eisenbahnüberführung (Fernbahngleise) über die Julius-Leber-Straße errichtet, wann das letzte Mal grundinstand gesetzt und welche Restlebensdauer unter den derzeitigen betrieblichen Bedingungen hat das Bauwerk? Die Eisenbahnüberführung Julius-Leber-Straße wurde im Jahr 1891 errichtet, im Jahr 1913 umgebaut und im Jahr 1962 grundinstand gesetzt. Die Eisenbahnüberführung für die S-Bahn-Gleise wurde zwischen den Jahren 2017 und 2019 erneuert. Die Brückenbauwerke werden regelmäßig auf ihre Tragfähigkeit untersucht. Eine Grundinstandsetzung ist nicht mehr möglich. Das Bauwerk müsste durch einen Neubau ersetzt werden. 16. Wann wurde die Eisenbahnbrücke vom Bahnhof Hamburg-Altona (Gleis 490) zum Abzweig Rainweg („Eingleisbrücke“) errichtet, wann das letzte Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/18508 5 Mal grundinstand gesetzt und welche Restlebensdauer unter den derzeitigen betrieblichen Bedingungen hat das Bauwerk? Die Eingleisbrücke wurde im Jahr 1935 errichtet und in den Jahren 1960/1962 sowie im Jahr 1979 grundinstand gesetzt. Die Brückenbauwerke werden regelmäßig auf ihre Tragfähigkeit untersucht. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Eingleisbrücke ohne erneute Grundinstandsetzung wesentlich länger als bis zu der Umsetzung des Vorhabens in Betrieb gehalten werden kann. 17. Wird der Senat für den Fall, dass es zu einer Realisierung des Bahnhofsprojekts Diebsteich kommt, eine eigenständige Umweltverträglichkeitsprüfung für die von ihm übernommenen Abriss- und Dekontaminationsarbeiten durchführen? Wenn nein, weshalb nicht? Die Planungen und Überlegungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen, im Übrigen siehe Drs. 21/12195. Die Realisierung des Bahnhofprojekts Diebsteich liegt im Übrigen in den Händen der DB AG und privater Investoren. 18. Welche zukünftigen Nutzungen für den unter Denkmalschutz stehenden Schellfischtunnel sieht der Senat vor? Derzeit sieht die zuständige Behörde hierfür keine konkreten Nutzungen vor.