BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/18687 21. Wahlperiode 25.10.19 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Dennis Gladiator und Richard Seelmaecker (CDU) vom 17.10.19 und Antwort des Senats Betr.: Kriminell und doch nicht weg? – Die Auswirkungen des EuGH-Urteils zu unmenschlichen Haftbedingungen im Zielland für Hamburg Der Europäische Haftbefehl, der auf dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rats für Justiz und Inneres vom 13. Juni 2002 beruht und als Instrument zur Durchsetzung nationaler Haftbefehle auf dem Hoheitsgebiet der EU-Mitgliedsländer dient, sollte ursprünglich die Auslieferung von Straftätern beziehungsweise Verdächtigen vereinfachen und verkürzen. Mit Urteil vom 15.10.2019, Az. C-128/18, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) nun jedoch entschieden, dass ein Gericht die Auslieferung von Straftätern beziehungsweise Verdächtigen an einen EU-Mitgliedstaat bei Vorliegen etwaiger Anhaltspunkte für unmenschliche Haftbedingungen im EU-Zielstaat auch bei gegebener Möglichkeit eines Rechtsbehelfs gegen diese Haftbedingungen im Zielland nicht einfach so bewilligen dürfe.1 Das überstellende Gericht müsse vielmehr alle Haftumstände überprüfen und sich ein genaues Bild der Situation vor Ort verschaffen, bevor eine Auslieferung bewilligt werden und erfolgen könne.2 Da dies jedoch neben möglicherweise verheerenden Folgen für die hamburgische Bevölkerung auch mit einer signifikanten Verlängerung etwaiger Auslieferungsverfahren verbunden ist, erscheint eine parlamentarische Kontrolle geboten. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: Der mit Auslieferungen befasste Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts prüft die Haftbedingungen in den jeweiligen EU-Mitgliedstaaten dem verfassungsrechtlichen Grundsatz entsprechend in richterlicher Unabhängigkeit ausschließlich anlassbezogen bei Eingang eines Auslieferungsersuchens. Die Prüfung der Haftbedingungen in dem jeweiligen die Auslieferung einer verfolgten Person begehrenden Mitgliedstaat hat der Strafsenat dabei bereits vor der Entschei- 1 Vergleiche zum Beispiel: LTO.de, Die juristische Presseschau vom 16.Oktober 2019 - Musterfeststellung zur Mieterhöhung/Konsequenzen nach Halle-Attentat/EuGH zu Haftbedingungen , 16.10.2019; erhältlich unter: https://www.lto.de/recht/presseschau/p/presseschau- 16-10-2019-musterfeststellung-mieterhoehung-konsequenzen-haftbedingungen/ (Stand: 16.10.2019). 2 Vergleiche zum Beispiel: LTO.de, Auslieferung nach Rumänien – Der EuGH vermutet unmenschliche Haftbedingungen, 15.10.2019; erhältlich unter: https://www.lto.de/recht/ justiz/j/eugh-c128-18-auslieferung-rumaenien-haftraum-groesse-vorlage-olg-hamburgbverfg / (Stand: 16.10.2019). Drucksache 21/18687 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 dung des Europäischen Gerichtshofs über das Vorabentscheidungsersuchen des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 15. Oktober 2019 aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 5. April 2016 (Az.: C-404/15 und C-659/15 PPU) vorgenommen. Die zuständigen Gerichte hatten nämlich bei Anhaltspunkten für unmenschliche Haftbedingungen aufgrund objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat belegen, bereits in der Vergangenheit konkret und genau zu prüfen. Geprüft werden musste, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein zum Zweck der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassener Haftbefehl richtet, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung in diesem Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt sein wird, falls sie ihm übergeben wird (vergleiche EuGH, Urteil vom 5. April 2016 – C-404/15 und C-659/15 PPU). Dabei hat die vollstreckende Behörde in Deutschland die ausstellende Justizbehörde des Mitgliedstaats schon vor der aktuellen Entscheidung des EuGH um zusätzliche Informationen gebeten und der Strafsenat auch in der Vergangenheit seine Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung der betreffenden Person aufgeschoben, bis er die zusätzlichen Informationen erhalten hatte, die es ihm ggfs. gestatteten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen. Konnte das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, erklärte der Strafsenat die Auslieferung für unzulässig (vergleiche EuGH, Urteil vom 5. April 2016 – C-404/15 und C-659/15 PPU –, juris, Rn. 104). Zudem war der Strafsenat infolge der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 20. Oktober 2016 verpflichtet, die Haftraumgröße sowie die sonstigen Umstände der Inhaftierung wie Bewegungsfreiheit, bauliche Gegebenheiten und so weiter aufzuklären. Aus einer Unterschreitung des persönlichen Raums von 3 m² pro Gefangenem in einem Gemeinschaftshaftraum folgt nach der vorbezeichneten Entscheidung des EGMR die starke Vermutung einer Verletzung von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die normalerweise nur widerlegt werden kann, wenn es sich lediglich um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums handelt, ausreichende Bewegungsfreiheit und Aktivitäten außerhalb des Haftraums gewährleistet sind und die Strafe in einer geeigneten Haftanstalt vollzogen wird, wobei es keine die Haft erschwerenden Bedingungen geben darf (vergleiche EGMR, Rechtssache Muršić ./. Kroatien, Urteil vom 20. Oktober 2016 – 7334/13). Dieser Entscheidung des EMGR entspricht das Urteil des EuGH vom 15. Oktober 2019, wenn es die Berücksichtigung aller relevanten materiellen Aspekte der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der die auszuliefernde Person konkret inhaftiert werden soll, für erforderlich hält, wie etwa den persönlichen Raum, über den jeder Gefangene in einer Zelle dieser Anstalt verfügt, die sanitären Verhältnisse und das Ausmaß der Bewegungsfreiheit des Gefangenen innerhalb dieser Anstalt. Für eine solche Beurteilung muss die vollstreckende Behörde von der ausstellenden Justizbehörde des Mitgliedstaates die für – wie bereits zuvor aufgrund des Urteils des EGMR vom 20. Oktober 2016 – notwendig erachteten Informationen erbitten (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2019 – C-128/18 –, juris). Der EuGH hat nunmehr aber ausdrücklich bei einer Haftraumgröße von unter 3 m² pro Inhaftiertem noch eine Gesamtabwägung unter Berücksichtigung aller relevanten materiellen Aspekte der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der diese Person konkret inhaftiert werden soll, für möglich und geboten gehalten (EuGH, a.a.O., Rn. 61 juris). Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Bezüglich der Haftbedingungen jeweils welcher EU-Mitgliedstaaten liegen aktuell Anhaltspunkte einer „unmenschlichen“ beziehungsweise „erniedrigenden “ Behandlung im Sinne der EuGH- beziehungsweise EGMR-Rechtsprechung vor? Bitte anhand der jeweils einschlägigen Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/18687 3 Rechtsprechung der Gerichtshöfe nach jeweiligem Gerichtshof gesondert detailliert erläutern. Der für Auslieferungen zuständige Senat des Hanseatischen Oberlandesgerichts hat aktuell Anhaltspunkte für „unmenschliche“ beziehungsweise „erniedrigende“ Haftbedingungen im Sinne der vorbenannten Rechtsprechung des EuGH und EGMR in den Mitgliedstaaten Rumänien (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2019 (C-128/18)) und Ungarn (EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018 (C-220/18 PPU (ML)). Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 2. Wie viele Auslieferungsverfahren bezüglich jeweils wie vieler Personen aus jeweils welchen Ländern sind in Hamburg derzeit jeweils wie vom Urteil des Europäischen Gerichtshofs (Az. C-128/18) betroffen? Derzeit sind ausschließlich Auslieferungsverfahren des Strafsenats mit Rumänien von dem Urteil des EuGH (Az. C-128/18) betroffen. Es handelt sich um fünf Verfahren, die jeweils eine Person betreffen. 3. Jeweils wann und durch jeweils wen sollen jeweils welche Haftumstände jeweils wie überprüft werden, um dem Gericht ein genaues Bild der Situation vor Ort und damit eine Entscheidungsgrundlage zu verschaffen? Bitte detailliert erläutern. Zunächst prüft die Generalstaatsanwaltschaft im Rahmen der Entscheidung über die Antragstellung bei Gericht neben den von der ausstellenden Justizbehörde des Mitgliedstaats mitgeteilten Informationen sämtliche weiteren verfügbaren Informationen über die Haftumstände in dem jeweiligen Mitgliedstaat. Dazu gehören zum Beispiel Lageberichte des Auswärtigen Amtes, Berichte des Komitees des Europarates zur Verhütung von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) sowie Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch (vergleiche „objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben“, EuGH, Urteil vom 5. April 2016 – C-404/15 und C-659/15 PPU). Wird der Antrag gestellt, prüft das Gericht im Rahmen seiner Entscheidung über den Antrag sodann die vorgelegten Informationen ebenfalls. 4. Welche konkreten Befugnisse stehen dem jeweiligen Gericht zur Verfügung , um die Haftumstände des EU-Zielstaates bei Anhaltspunkten auf unmenschliche Behandlung hin zu überprüfen und sich ein genaues Bild der Situation vor Ort zu verschaffen? Bitte detailliert erläutern. Das Gericht hat die Möglichkeit der Anfrage hinsichtlich der Haftbedingungen an den Ausstellungsmitgliedstaat und kann sich bei problematischen Haftbedingungen über die Generalstaatsanwaltschaft im Einzelfall um die Einholung von Zusicherungen des Ausstellungsmitgliedsstaates bemühen. Gegebenenfalls kann eine Einschätzung der Belastbarkeit dieser Zusicherung beim Auswärtigen Amt eingeholt werden, was aufgrund des gegenseitigen Vertrauens innerhalb der Europäischen Union bislang nicht der Fall war. Nach erfolgter Auslieferung kann der Strafsenat nach entsprechender vorheriger Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaates das Auswärtige Amt darum ersuchen, die Einhaltung der Zusicherung des entsprechenden Mitgliedsstaates bezüglich der Haftbedingungen der verfolgten Person nach Überstellung der verfolgten Person durch einen Besuch vor Ort zu verifizieren. Innerhalb der Europäischen Union hat der Strafsenat von der Einschaltung des Auswärtigen Amtes bislang keinen Gebrauch gemacht. 5. Von jeweils welcher zu erwartenden durchschnittlichen zeitlichen Verlängerung der Auslieferungsverfahren gehen der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde infolge der Verankerung der obligatorischen Überprüfung bei Anhaltspunkten unmenschlicher Haftbedingungen im EU-Zielstaat derzeit aus? Bitte detailliert erläutern. Infolge des Urteils des EuGH vom 15. Oktober 2019 treten keine weiteren Verzögerungen im Auslieferungsverfahren auf, da auch bislang schon, soweit Anhaltspunkte dafür bestanden, detaillierte Informationen über die Haftbedingungen im Ausstel- Drucksache 21/18687 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 lungsmitgliedsstaat eingeholt wurden. Die Einholung der Informationen und gegebenenfalls Zusicherungen verlängert naturgemäß das Verfahren. Es lässt sich jedoch keine durchschnittliche Zeit der Verlängerung des Verfahrens benennen, da die jeweils zuständigen Behörden sehr unterschiedlich schnell und auch in unterschiedlicher Güte antworten. 6. Wie schätzen der Senat oder die zuständige Behörde das Gefahrenpotenzial eines möglichen Verbleibs eines per EU-Haftbefehl gesuchten Straftäters beziehungsweise Verdächtigen für die hamburgische Bevölkerung ein? Bitte detailliert erläutern. Durch das Urteil des EuGH (Az. C-128/18) ist angesichts des weitestgehend unverändert gebliebenen Prüfungsmaßstabes der zuständigen Gerichte und der geringen Anzahl der von dem Urteil betroffenen Personen im Vergleich zu der bisherigen Rechtslage von keiner signifikant geänderten Lage auszugehen.