BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/18867 21. Wahlperiode 12.11.19 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Sabine Boeddinghaus (DIE LINKE) vom 04.11.19 und Antwort des Senats Betr.: Konzernmacht im Klassenzimmer? Die marode Lage des bundesdeutschen Schulsystems öffnet der Lobbypolitik von Konzernen Tür und Tor. Die Ideologie der privatwirtschaftlichen Lösung für staatliche Aufgaben sorgt für einen immer weiter fortschreitenden Ausverkauf des Gemeinwesens im Interesse der ökonomisch Mächtigen. Fehlende Gelder im systematisch unterfinanzierten Bildungswesen machen es für die unmittelbar „kostenfreien“ Unterrichtsmaterialien der Konzerne, ihrer Interessensverbände und/oder ihrer Lobbyorganisationen (die auch die Form von Vereinen und gGmbHs haben können) anfällig. „Das Thema „Lobbyismus an Schulen“ ist in seiner Trag- und Reichweite kaum zu überschätzen.“1 Allein im Internet sind rund 800 000 kostenfreie Lehr- und Lernmittel verfügbar. Private Gewinn- und schulische Gemeinwohlorientierung prallen in der Schule unmittelbar aufeinander. Sechzehn der zwanzig umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland bieten mittlerweile Unterrichtsmaterialien an, die ihre Sicht, ihr Weltbild und ihre Interessen an Schulen verbreiten. Es besteht ein vierfacher Faktor der Beeinflussbarkeit junger Menschen durch Werbung (im Gegensatz zu Erwachsenen). „Effizienter als im Klassenraum wird eine PR-Agentur oder ein Unternehmen den „Werbe“-Etat kaum einsetzen können.“2 Materiell ist der Bereich Schule durchaus interessant, nicht nur durch die hohe Wirkung der Firmenwerbung, sondern auch durch Fort- und Weiterbildungen . Die laufenden und künftigen Bauaufträge für Neu- und Umbauten bieten große Anreize für Bauunternehmen. Von den mit dem Digitalpakt formell Fahrt aufgenommenen Digitalisierungsbemühungen3 profitieren die digitalen Konzerne und Anbieter entsprechender Hard- und Software. Zudem quälen sich Millionen von Schülern/-innen zu privaten Nachhilfeeinrichtungen – hier schafft es der Staat nicht, fachlich und qualitativ angemessene Bildungswege zu eröffnen, sondern delegiert seinen Bildungsauftrag an externe Dienstleister. 1 Tim Engartner: Wie DAX-Unternehmen Schule machen. Lehr- und Lernmaterialien als Türöffner für den Lobbyismus, OBS-Arbeitshefte 100, Frankfurt am Main 2019, Seite 1. 2 Tim Engartner: Wie DAX-Unternehmen Schule machen. Lehr- und Lernmaterialien als Türöffner für den Lobbyismus, OBS-Arbeitshefte 100, Frankfurt am Main 2019, Seite 1. 3 Lisa Becker: Ist der Digitalpakt eine große Verschwendung?, „Frankfurter Allgemeine Zeitung “, 30.10.2019, Seite 17. Drucksache 21/18867 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Das angedeutete umfangreiche Feld potenzieller lukrativer Absatzmärkte und Einflussmöglichkeiten ist groß und umfasst also neben dem unmittelbaren und mittelbaren Unterricht mit seinen Lehr- und Lernmitteln auch die baulichen Maßnahmen im Bereich des Neu- und Umbaus von Schulen wie den gesamten Bereich der Digitalisierung. Die Gefährdung der demokratischen Verfasstheit unserer Gesellschaft, die unter anderem einen konkurrierenden Meinungspluralismus zur Grundlage hat, wird in der Tiefen- und Breitenwirkung des Lobbyismus der ökonomisch Mächtigen deutlich. Aber, provokant gefragt, entspricht nicht einer normenentleerten „wirtschaftskonformen Demokratie“ eine ebenfalls normenentleerte wirtschaftskonforme Bildung? Die Problematik des Lobbyismus ist nicht abstrakt, sondern sie betrifft, zuletzt angesichts der ambitionierten Planungen im jüngst verabschiedeten Schulentwicklungsplan , ebenfalls die Hansestadt Hamburg. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Die für Bildung zuständige Behörde bewertet die finanzielle Ausstattung der Hamburger Schulen auch im Bundesvergleich als gut. Um guten Unterricht zu gewährleisten, sind private Zuwendungen deshalb grundsätzlich nicht erforderlich. Im schulischen Bereich gilt die Richtlinie zu Werbung, Sponsoring und sonstigen wirtschaftlichen Aktivitäten in staatlichen Schulen vom 11. November 1998: https://www.hamburg.de/contentblob/69574/01d821188c4bf3ac8b9cff1a934e0aa4/dat a/bbs-richtl-sponsoring-schulen-05- 00.pdf;jsessionid=50CED02DB9E3F532A8516DDEFA7269E2.liveWorker2. Oberster Maßstab für die rechtliche Beurteilung aller schulischen Aktivitäten ist deren Vereinbarkeit mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule. Der ordnungsgemäße Schulbetrieb und die Beachtung anerkannter Grundsätze von Unterricht und Erziehung müssen sichergestellt sein. Die Rechte von Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften dürfen nicht beeinträchtigt werden. Rechte Dritter, etwa von Konkurrenten im Wettbewerb, müssen beachtet werden. Die Verwendung von Zuwendungen zur Finanzierung von Pflicht- oder Wahlpflichtunterricht nach Maßgabe der Stundentafel ist nicht zulässig. Die Verwendung privater Zuwendungen für schulische Belange ist daher immer als additiv zu originären schulischen Aufgaben anzusehen. Die Annahme von Spenden und Zuwendungen sowie das Erzielen von Einnahmen aus schulischen Aktivitäten bedürfen der vorherigen Genehmigung durch die Schulleitung . Die Schulleitung gewährleistet die Vereinbarkeit der Maßnahme mit dem Bildungs - und Erziehungsauftrag und sorgt für die ordnungsgemäße Abrechnung und Verwendung der Einnahmen. Die Schulkonferenz kann im Rahmen des Schulprogramms konkretisierende Grundsätze zur Annahme von Spenden und Zuwendungen sowie zur Erzielung von Einnahmen durch schulische Aktivitäten beschließen. Zuwendungen werden zu erheblichem Anteil durch Stiftungen geleistet, die entweder die Schulen direkt oder entsprechende Schulvereine im Sinne des Stiftungszwecks fördern. Mit über 1 500 Stiftungen zählt die Freie und Hansestadt Hamburg zu den „Stiftungshauptstädten“ der Bundesrepublik Deutschland. Rund ein Viertel der Hamburger Stiftungen haben als Stiftungszweck „Bildung und Erziehung“ festgelegt und unterstützen sowohl Kindertagesstätten und Schulen als auch Projekte und Institutionen der freien Jugendhilfe. Schulen profitieren von diesem bürgerschaftlichen und uneigennützigen Engagement in vielfältiger Weise, zum Beispiel durch Mentoring- und Patenprogramme in der Leseförderung, bei der Berufsorientierung, durch die Vermittlung von Kontakten oder Förderung von Fächern wie MINT, Sprachen und anderen. Sie fördern dabei nicht kommerziell und erheben keine Forderungen nach Gegenleistungen . Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/18867 3 In diesem Zusammenhang sind auch Preisgelder zu nennen, die Schulen im Rahmen von Wettbewerben zugesprochen werden, die von Stiftungen gefördert werden. Des Weiteren werden viele Zuwendungen durch Schulvereine geleistet, die wiederum durch vielfältige Aktivitäten Spenden akquirieren. Das ehrenamtliche Engagement in Schulvereinen zeigt damit, dass eine funktionierende Schulgemeinschaft aus Lehrkräften, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer Schule , Schülerinnen und Schülern und Eltern besteht. Bezüglich von Baumaßnahmen ist die Vergabe von Bauaufträgen durch den Deutschen Vergabe- und Vertragsausschuss für Bauleistungen (DVA) rechtsverbindlich geregelt und in der Verdingungsordnung für Bauleistungen (VOB) festgeschrieben. Die darin enthaltenen Regelungen für die Vergabe von Bauleistungen (Beauftragung von Bauunternehmen) sind für die öffentliche Hand in Deutschland verpflichtend. Geregelt sind alle Vergaben bis hin zur europaweiten Ausschreibung von Bau- und Betriebsleistungen. Die vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Welche Formen der Unterstützung, des Sponsorings, der Werbung und des Lobbyismus sind an Hamburger Schulen zulässig, welche sind unzulässig und wie definiert der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde die verschiedenen Formen? Siehe Vorbemerkung. 2. Wie hoch ist der Umfang externer Mittel von privatwirtschaftlichen Anbietern , ihren Lobbyorganisationen oder den ihnen nahestehenden Interessensverbänden , die im Bereich der schulischen Bildung (inklusive Berufsschulen) in den letzten fünf Jahren eingesetzt wurden? (Bitte nach Schulform und Jahrgangsstufen die Art des eingesetzten Angebots und den Anbieter und die jeweiligen Summen in einer Excel-Tabelle aufführen .) 3. In welchem Umfang sind in den letzten fünf Jahren privatwirtschaftliche Unternehmen, Lobbyorganisationen und/oder Interessensvertretungen im Sponsoring von schulischen Veranstaltungen oder Projekten tätig? (Bitte die entsprechenden Institutionen mit Umfang, Schulen, einbezogenen Jahrgangsstufen, Schulform, Sozialindex und Bezirk in einer Excel-Tabelle angeben.) Bezüglich des Umfangs der von Externen geleisteten Geld- und Sachspenden sowie ihres Sponsorings ergeben sich die verfügbaren Informationen für die Jahre 2013 bis 2016 aus der Drs. 21/8441, für die Jahre ab 2017 bis zum letzten Auswertungs- und Erhebungszeitraum siehe https://www.hamburg.de/sponsoring (Stand bis 30.6.2019). Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 4. In welchem Umfang sind in den letzten fünf Jahren privatwirtschaftliche Unternehmen, Lobbyorganisationen und/oder Interessensvertretungen in Schulvereinen tätig? (Bitte die entsprechenden Institutionen mit Umfang, Schulen, betreffenden Jahrgangsstufen, Schulform, Sozialindex und Bezirk in einer Excel-Tabelle angeben.) Schulvereine sind nicht Teil der für Bildung zuständigen Behörde. Daher liegen dieser keine Informationen hierzu vor. 5. Welche privatwirtschaftlichen Unternehmen, ihre Lobbyorganisationen oder Interessensvertretungen waren in den letzten fünf Jahren in welchem Umfang im Bereich der Lehrer-/-innenfort- oder -weiterbildung tätig? (Bitte Umfang und Art der Tätigkeit, Veranstaltungstitel, institutionelle Anbindung/Unternehmen und Teilnehmer-/-innenzahlen angeben.) Das Zentrum für Schule und Wirtschaft (ZSW) am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) kooperiert mit verschiedenen Akteuren aus dem Bereich der Wirtschaft, siehe unter anderem Drs. 21/15067. Im Rahmen der Lehrerfortbildung kooperiert das ZSW primär mit dem Bildungswerk der Wirtschaft Hamburg e.V., der Drucksache 21/18867 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 Handelskammer sowie der Handwerkskammer. Weitere Kooperationen im Rahmen der Ausgestaltung der Berufs- und Studienorientierung bestehen mit der Joachim Herz Stiftung, Universitäten und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Im Zeitraum 5. November 2014 bis 5. November 2019 gab es folgende Kooperationen : Kooperationspartner Anzahl Fortbildungen Anzahl Teilnehmerinnen und Teilnehmer Bildungswerk der Wirtschaft Hamburg e.V. 30 402 Handwerkskammer 30 420 Handelskammer 6 114 Joachim Herz Stiftung 8 125 6. Welche privatwirtschaftlichen Unternehmen, welche ihrer Lobbyorganisationen oder Interessensvertretungen waren in den letzten fünf Jahren in welchem Umfang an welchen Schulen als „corporate volunteers“ tätig? (Bitte Umfang und Art der Tätigkeit an den jeweiligen Schulen mit Sozialindex , Schulform und Bezirk angeben.) Siehe Drs. 21/15067. Eine zentrale Erfassung der schulischen Aktivitäten in diesem Bereich erfolgt nicht. Im Rahmen des NFTE-Projektes (Network for Teaching Entrepreneurship) werden Schulen in Kontakt mit jungen Gründerinnen und Gründern gebracht. 7. An welche Firmen wurden externe Dienstleistungen der staatlichen Schulen Hamburgs in den letzten fünf Jahren für welche Zwecke und in welchem Umfang vergeben? (Bitte die Firmen nach Dienstleistung differenziert im Zeitverlauf angeben, die Schulen mit Schulformen und Sozialindizes und Bezirken angeben.) An den staatlichen Schulen Hamburgs wird eine Vielzahl von Dienstleistungen durch externe Dienstleister erbracht. Diese betreffen beispielweise die Durchführung von Betreuungsleistungen im Rahmen der Ganztägigen Bildung und Betreuung (GBS), die Bewirtschaftung der Schulgebäude, die Durchführung des Vertretungsunterrichts in Vorschulklassen, unterschiedliche Wartungsdienstleistungen, die Lernförderung oder die Behindertenbeförderung. Da die erfragten Daten durch die für Bildung zuständige Behörde nicht in der erfragten Detaillierung erfasst werden, müssten sie aus den jährlich rund 180 000 schulbezogenen Belegen einzelfallbezogen herausgesucht werden. Dies ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 8. Welche Unternehmen sind in welchem Umfang und mit welcher Art des Einsatzes in den letzten fünf Jahren im Bereich des bestehenden und des geplanten Ausbaus der digitalen Angebote an staatlichen Schulen involviert? (Bitte die Firmen nach Dienstleistung differenziert im Zeitverlauf angeben, die Schulen mit Schulformen und Sozialindizes und Bezirken angeben.) Die IT-Ausstattung mit digitalen Endgeräten an den staatlichen allgemeinbildenden Schulen wird entsprechend der vergaberechtlichen Anforderungen regelhaft europaweit ausgeschrieben. Die Beschaffung erfolgt dann aus den abgeschlossenen zentralen Rahmenverträgen. Folgende Firmen waren beziehungsweise sind Lieferanten in den letzten fünf Jahren. Mobile Endgeräte wie unter anderem Notebooks, Tablets: on line Datensysteme GmbH von November 2011 bis November 2015 CANCOM on line GmbH von November 2015 bis November 2019. Stationäre Endgeräte wie unter anderem Multimediacomputer, Monitore, Drucker: on line Datensysteme GmbH von April 2012 bis April 2016. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/18867 5 CANCOM on line GmbH von April 2016 bis April 2020. Präsentationsgeräte wie unter anderem interaktive Whiteboards/Präsentationssysteme , Displays und Projektoren: LCD media GmbH von September 2013 bis Januar 2018. CANCOM on line GmbH von Januar 2018 bis Dezember 2019. Router mit integriertem Jugendschutzfilter: Weis IT-Systeme GmbH & Co. KG von Mai 2014 bis April 2018. Die für Bildung zuständige Behörde erfasst nicht systematisch, welche Software in den Schulen eingesetzt wird. Die Schulen können eigenverantwortlich über den Einsatz der Software entscheiden. In der Kürze der für eine Parlamentarische Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit ist es nicht möglich, diese Information zu ermitteln. Von der für Bildung zuständigen Behörde werden zentral zwei Lernangebote für das Fach Mathematik seit August 2018 zur Verfügung gestellt, das Programm bettermarks der bettermarks GmbH und das Programm kapiert.de der Westermanngruppe. Außerdem wird seit August 2014 das Stundenplanprogramm der Firma Untis GmbH eingesetzt . Darüber hinaus werden verschiedene Leistungen des Dienstleisters der Freien und Hansestadt Hamburg Dataport AöR in Anspruch genommen. 9. Wie bewertet der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde wirtschaftsnahes Lobbying, Sponsoring und sonstige privatwirtschaftliche Werbung an Schulen? Siehe Vorbemerkung. 10. Wie bewertet der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde die Einrichtung eines landesweiten Lobbyregisters/Transparenzregisters, wie es beispielsweise die Organisation Lobbycontrol vorgelegt hat?4 Inhaltlich gewährleisten die halbjährlichen Berichte über die Annahme von Zuwendungen in Form von Sponsoring, Spenden und mäzenatischen Schenkungen (https://www.hamburg.de/sponsoring), das Transparenzregister sowie die Antworten des Senats auf Parlamentarische Anfragen, insbesondere auch zu Gutachten und Beraterverträgen, die notwendige Transparenz. Im Übrigen hat sich der Senat damit nicht befasst. 4 https://www.lobbycontrol.de/wp-content/uploads/2017_01_27_Lobby_ Transparenzgesetz.pdf.