BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/18972 21. Wahlperiode 19.11.19 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Dirk Nockemann und Dr. Alexander Wolf (AfD) vom 13.11.19 und Antwort des Senats Betr.: Kampf gegen Radikalisierung – Wie erfolgreich sind die Hamburger Ausstiegsprogramme? Öffentlich geförderte Stellen wie „Legato“ oder „Exit Nord“ bieten Ausstiegsberatungen für religiös oder rechtsextremistisch radikalisierte Personen und sind zugleich Fach- und Beratungsstellen zur Prävention extremistischer Entwicklungen. Wie aus einer Anfrage an die Landesregierung in Hessen hervorgeht, arbeiten die Beratungsstellen in Hessen derzeit mit 217 radikalisierten Muslimen beziehungsweise Gefährdern zusammen. Unter den Menschen, mit denen die 18 Mitarbeiter der Beratungsstelle Hessen arbeiten, seien auch Rückkehrer aus Syrien. Außerdem würden mehr als 200 Angehörige beraten und unterstützt, deren Kinder oder Freunde als gefährdet gelten. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: Der Senat hat bereits mehrfach über die Angebote zur Ausstiegsberatung für radikalisierte Personen berichtet (siehe zum Handlungsfeld religiös begründeter Extremismus , Drs. 21/5039 und Drs. 21/14037 sowie zum Handlungsfeld Rechtsextremismus Drs. 21/18643. Öffentlich gefördert werden die Beratungsstellen Legato – systemische Ausstiegsberatung – Fachstelle für religiös begründete Radikalisierung (Beratungsstelle Legato) (siehe https://legato-hamburg.de/) und „Kurswechsel – Ausstiegsarbeit Rechts“ (siehe http://kurswechsel-hamburg.de/). Keine öffentlich geförderten Beratungsstellen im Sinne der Fragestellung sind die folgenden Anlaufstellen der Sicherheitsbehörden mit Verweisberatung: https://www.polizei-beratung.de/themen-undtipps /extremismus/rechtsextremismus/aussteigerprogramme/#panel-16162-6, https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/afrechtsextremismus /aussteigerprogramm-rechtsextremismus und https://www.hamburg.de/innenbehoerde/service/233260/verfassungsschutzhinweistelefon -fhh-hamburg/. Im Übrigen siehe auch Drs. 21/1986. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen teilweise auf Grundlage von Auskünften der Beratungsstellen Legato und Kurswechsel – Ausstiegsarbeit Rechts wie folgt: Drucksache 21/18972 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 20. Wahlperiode 2 1. Welche öffentlich geförderten Beratungsstellen/Aussteigerprogramme gibt es derzeit für welche Extremismusbereiche (Islamismus, Rechtsextremismus , Linksextremismus) in Hamburg? 2. Wie viele radikalisierte Personen aus welchen Extremismusbereichen werden derzeit durch welche Beratungsstellen/Aussteigerprogramme betreut? 3. Welche Kenntnisse hat der Senat über die Altersstruktur und die Nationalität /en der radikalisierten Personen, welche derzeit durch die Beratungsstellen /Aussteigerprogramme betreut werden? 4. Wie viele Beratungsanfragen erhielten welche Beratungsstellen/ Aussteigerprogramme in den vergangenen fünf Jahren. Bitte jahrweise aufschlüsseln. 5. Wie viele Familienmitglieder und Freunde, deren Kinder oder Freunde als radikalisiert gelten, werden durch die Beratungsstellen/ Aussteigerprogramme derzeit mitberaten? Siehe Vorbemerkung. Darüber hinaus arbeitet die Beratungsstelle Legato nach dem sogenannten systemischen Ansatz, das heißt in der Regel werden Angehörige und Fachkräfte (zum Beispiel Lehrkräfte) beraten, die eine Bindung zu der als radikalisiert wahrgenommenen Person haben. Ziel ist es, diese Bindung zur (vermeintlich) radikalisierten Person zu stärken und deren Isolation zu verringern. In Einzelfällen werden auch direkt Personen beraten, die sich von einer extremistischen Szene und/oder Ideologie lösen wollen. Die Beratungsstelle Legato hat seit 1. Juli 2015 in 402 Fällen (Stand 30.09.2019) Beratungen durchgeführt. Eine Fallbearbeitung kann sich über einen längeren Zeitraum (also auch über Jahreswechsel) und über die Beratung zahlreicher Personen (Angehörige , Freunde, Fachkräfte) aus dem Umfeld der als radikalisiert wahrgenommenen Personen erstrecken. Eine jahresweise Ausschlüsselung ist daher nicht möglich. Die Altersstruktur der (vermeintlich) radikalisierten Personen, deren Angehörige beziehungsweise zuständige Fachkräfte Beratung in Anspruch genommen haben oder die aufgrund eines Distanzierungswunsches selbst auf Legato zugegangen sind, sieht derzeit wie folgt aus: rund 50 Prozent sind unter 20 Jahre, rund 28 Prozent unter 33 Jahre, rund 3 Prozent über 33 Jahre. In rund 19 Prozent der Fälle wurde das Alter nicht erhoben. Im 3. Quartal 2019 verzeichnete Legato 53 Ratsuchende. Kurswechsel – Ausstiegsarbeit Rechts betreut derzeit 12 distanzierungswillige Personen . Seit Projektbeginn wurden in 114 Fällen Beratungen durchgeführt. Die Altersstruktur wird im Projekt Kurswechsel etwas anders erfasst als bei Legato. Danach stellt sich die Altersstruktur wie folgt dar: rund 50 Prozent sind unter 20 Jahre, rund17 Prozent bis unter 30 Jahre und rund 33 Prozent bis unter 60 Jahre. Im 3. Quartal 2019 waren 34 Personen in den Beratungsfällen involviert. Beide Angebote sind niedrigschwellig gestaltet. Im Übrigen werden die für die Beantwortung erforderlichen Daten (unter anderem Nationalität) statistisch nicht erfasst. 6. Durch welche Personen erfolgt nach den Erfahrungen der Beratungsstellen /Aussteigerprogramme der Erstkontakt? Bitte hierbei auf das Verhältnis von radikalisierten Personen, die von sich aus die Stellen aufsuchen sowie von Familienmitglieder/Freunden von radikalisierten Personen erläutern. Bei der Beratungsstelle Legato melden sich vornehmlich Angehörige von als radikalisiert wahrgenommenen Personen. In vielen Fällen nehmen auch Fachkräfte (zum Beispiel Lehrkräfte) den Kontakt auf. Im Übrigen siehe Antwort zu 1. bis 5. und Vorbemerkung . An Kurswechsel – Ausstiegsarbeit Rechts wenden sich überwiegend Fachkräfte aus sozialen Einrichtungen, Behörden und anderen Beratungsstellen. Anders als im Handlungsfeld religiös begründeter Extremismus werden Eltern in der Regel erst spät aufmerksam. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/18972 3 7. In wie vielen Fällen ist durch Mitwirkung der Beratungsstellen/ Aussteigerprogramme in den vergangenen fünf Jahren ein nachweislicher Ausstieg aus welcher extremistischen Szene erreicht worden? Eindeutige Definitionen von „Radikalisierung“ und „Distanzierung“ gibt es aus wissenschaftlicher Sicht nicht. Darüber hinaus orientiert sich Soziale Arbeit grundsätzlich an den Anliegen der Klientinnen und Klienten. Eine objektive Messung einer Abkehr von Weltanschauungen und Einstellungen ist seriös nicht möglich. Das ist unter anderem auch damit zu erklären, dass die Programme erst wenige Jahre laufen und der Kontakt nach Abschluss der Beratungsprozesse irgendwann auch abreißt. Die Arbeit der beiden Beratungsstellen folgt vorrangig folgenden Zielsetzungen: Die Arbeit ist prozessorientiert, zeitlich nicht begrenzt und hat den Anspruch, dass die radikalisierten Personen sich im Verlauf dieses Prozesses von extremistischen Strukturen und Ideologien erkennbar distanzieren. Sie unterstützt die Etablierung beziehungsweise Reaktivierung eines nicht extremistischen sozialen Umfelds und den Aufbau neuer Bindungen und Ressourcen als Grundlage für eine Distanzierung, Die Beratungsstellen berichten, dass diese Ziele in der Mehrheit der Beratungsprozesse erreicht werden.