BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/19119 21. Wahlperiode 29.11.19 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Sabine Boeddinghaus (DIE LINKE) vom 21.11.19 und Antwort des Senats Betr.: Was bedeutet das Neutralitätsgebot für den demokratischen Bildungsauftrag ? Derzeit findet eine kontroverse Auseinandersetzung über die Art und Weise in der politische Werte und Normen im Hamburger Schulwesen vertreten werden dürfen statt.1 Schulen, Schüler/-innen und Lehrkräfte werden auf die Artikulation ihrer Gesinnung hin begutachtet. Medial meistbeachteter Fall dürfte die Auseinandersetzung um die Ida-Ehre-Schule gewesen sein. Schulgemeinschaften sind verunsichert und wenn sie Haltung für eine diverse , demokratische Kultur zeigen, wird ihnen seitens der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) selten der Rücken gestärkt. Dabei steht hinter den Schulen und ihren Lehrkräften ein starkes bildungspolitisches Selbstverständnis, das sich in § 2 des Schulgesetzes ausdrückt, der unter anderem Erziehung zu Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität gebietet und die Stärkung der Befähigung und Bereitschaft an der Gestaltung einer der Humanität verpflichteten demokratischen Gesellschaft mitzuwirken, fordert. Als praktische Richtschnur im PGW-Unterricht gilt laut Behörde für Schule und Berufsbildung der „Beutelsbacher Konsens“ – Maßstab politischer Bildung in der Bundesrepublik überhaupt, wenngleich auch wegen seiner vergeblichen politischen Neutralität nicht unumstritten.2 Weil die Behörde für Schule und Berufsbildung wiederholt in die am Beutelsbacher Konsens orientierte Ausgestaltung des Unterrichts3 an inkriminierten Schulen und damit in die Prozesse der politischen Meinungs- und Willensbildung eingreift, ist ihre Bestimmung und Auslegung des Rahmens politischer Bildung von eklatanter Bedeutung. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Die für Bildung zuständige Behörde greift nicht in die politische Meinungs- und Willensbildung ein. Vielmehr fördert sie durch die Einhaltung des Neutralitätsgebots und des Beutelsbacher Konsens gemäß § 2 Hamburgisches Schulgesetz (HmbSG) die 1 Vergleiche „Haltung zeigen statt Zurückhaltung üben!“ Die Bildungspolitik der AfD-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, GEW Hamburg. 2 David Salomon: Konsens und Dissens, in: Benedikt Widmaier/Peter Zorn (Hg.), Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung, Bonn 2016, Seite 285 fortfolgende. 3 Vergleiche Bildungsplan Stadtteilschule, Jahrgangsstufen 7–11. Politik/Gesellschaft/ Wirtschaft, https://www.hamburg.de/contentblob/4327788/ 17598c6658e4d96e61981dbd8287f589/data/pgw-sts.pdf. Drucksache 21/19119 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu politisch gebildeten, mündigen, demokratisch denkenden Bürgern, unterstützt ihre Meinungsbildung und begrüßt ihre Meinungsäußerung auch dort, wo diese kritisch und unbequem ist. Das Gebot zur politischen Neutralität „im Innenverhältnis“ zum Dienstherrn ergibt sich für Beamte aus § 33 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) und gilt für Tarifbeschäftigte des öffentlichen Dienstes gleichermaßen. Parteipolitische Neutralität meint dabei, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst jeder verfassungsmäßigen Regierung zur Verfügung stehen. Sowohl für Beamte als auch für Arbeitnehmer gilt gleichwohl die Meinungs- und Meinungsäußerungsfreiheit und damit auch die Freiheit der politischen Gesinnung und Betätigung, siehe auch Drs. 21/10085. Das dagegen „nach außen“ gerichtete Neutralitätsgebot findet seinen Rechtsgrund in Artikel 20 und Artikel 21 Grundgesetz (GG) und beinhaltet, dass Staatsorgane weder zugunsten noch zulasten einer politischen Partei in den Wahlkampf beziehungsweise über Zeiten des Wahlkampfes hinaus wirken dürfen. Neutralität gegenüber allen nicht durch das Bundesverfassungsgericht verbotenen Parteien ist demnach ein Wesensmerkmal aller Verwaltungsarbeit im demokratischen Rechtsstaat. Alle Präzisierungen für das schulische Handeln finden sich in den §§ 2 und 3 Hamburgisches Schulgesetz (HmbSG) sowie in den Bildungsplänen und der Geschäftsordnungsbestimmung Nummer 14 der für Bildung zuständigen Behörde bezüglich politischer Werbung in Diensträumen (SchulRHH 5.11.2). Die Geschäftsordnungsbestimmung Nummer 14 der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) (vom 17. Januar 1974 mit den ab 1. März 1980 geltenden Änderungen) ist eine behördeninterne Anordnung und betrifft die politische Werbung in Diensträumen. Danach ist die Werbung für politische Parteien und Organisationen in den Diensträumen der für Bildung zuständigen Behörde, zu denen auch Schulgebäude und Schulgrundstücke gehören, grundsätzlich untersagt (Ziffer 1). Die nicht zulässige Werbung erstreckt sich gemäß Ziffer 2.1 insbesondere auch auf die Verteilung von Druckschriften, Flugblättern oder Plakaten von politischen Parteien, Gewerkschaften und Verbänden, in welchen zu Aktivitäten aufgerufen wird, die die politische Neutralität der Schule und die Loyalität von Schulleitern und Lehrern infrage stellen. Von dieser Anordnung werden unter anderem Einladungen von Schulen an Vertreter politischer Parteien im Rahmen des politischen Unterrichts nicht berührt, sofern sichergestellt ist, dass alle in der Bürgerschaft vertretenen Parteien gleichmäßig berücksichtigt werden (Ziffer 2.2 erster Spiegelstrich). Der sogenannte Beutelsbacher Konsens ist hingegen nicht das Ergebnis eines formalen Entscheidungs- beziehungsweise Gesetzgebungsprozesses, sondern eine Zusammenfassung eines Expertengesprächs, das im Herbst 1976 in Beutelsbach stattfand. Er hat als Grundsätze das „Kontroversitätsgebot“, das „Indoktrinations-/ Überwältigungsverbot“ und die „Schülerorientierung“ aufgestellt, die Bestandteile des „Berufsethos“ all derer geworden sind, die politische Bildung betreiben. Er ist zentrale Arbeitsgrundlage für den professionellen Diskurs politischer Bildung in Schule und Erwachsenenbildung. Insofern ist die Auseinandersetzung mit dem Beutelsbacher Konsens in allen Phasen der Lehrerbildung (erste Phase: universitäre Ausbildung, zweite Phase: Vorbereitungsdienst, dritte Phase: Weiterbildung) für die gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereiche und Aufgabengebiete integraler Bestandteil der Veranstaltungen im Rahmen der Lehrerbildung und somit auch leitend für die Lehrkräfte. Der Beutelsbacher Konsens ist jedoch, ebenso wenig wie das Münchner Manifest, als eine Rechtsvorschrift zu verstehen, sondern als Leitlinie des professionellpädagogischen Ethos und Diskurses. Die Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses sind Grundlagen einer freiheitlich-demokratisch politischen Bildung. Im Sinne des Überwältigungsverbotes muss zum Beispiel den Schülerinnen und Schülern stets klar sein, dass die Positionierung der Lehrkraft eine unter vielen möglichen ist. Im Zusammenspiel mit dem Gebot der Schülerorientierung bedeutet dies auch, dass je jünger Lernende sind, desto zurückhaltender eine Lehrkraft mit eigenen Positionierungen sein sollte. Das Kontroversitätsgebot ist in der konkreten Umsetzung durch die Notwendigkeit zur didaktischen Reduktion begrenzt, so kann nicht jederzeit zu jeder Fragestellung jedmögliche Position betrachtet werden. Die Bezugsnorm zur Auswahl von legitimen Positionen in Lernprozessen politischer Bildung bildet die freiheitlich- Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/19119 3 demokratische Grundordnung. Werden im Diskurs die Grenzen der freiheitlichdemokratischen Grundordnung, so zum Beispiel der Menschenwürde, überschritten, sind Lehrkräfte angehalten, Position für Menschenwürde und die Grundrechte zu beziehen sowie mögliche Menschenverachtung und Demokratiefeindlichkeit entsprechend zu markieren. Siehe hierzu auch http://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/ politische-bildung/193225/kontroversitaet. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Welchen Inhalts war die „Information“ des Leiters der Rechtsabteilung der BSB über das „Neutralitätsgebot“ am Kaiser-Friedrich-Gymnasium im Nachgang nach einer Anschwärzung der AfD? Der Leiter der Rechtsabteilung der für Bildung zuständigen Behörde hat die Schulleitungen über die bestehende Rechtslage, namentlich die Geschäftsordnungsbestimmung des Senats zur politischen Werbung im dienstlichen Bereich informiert. 2. Aufgrund welcher Sachlage ist die Rechtsabteilung der BSB mit der Auslegung des „Neutralitätsgebots“ betraut? Die Rechtsabteilung der für Bildung zuständigen Behörde berät die Schulen in Fragen der Rechtsauslegung. 3. Welche Konsequenzen kann es nach Auffassung der BSB haben, wenn eine Lehrkraft eine andere Auffassung von der Bedeutung des „Neutralitätsgebots “ hat als die Rechtsabteilung der BSB? Auf hypothetische Fragen antwortet der Senat nicht. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 4. Wie viele Disziplinarverfahren wurden wegen vermeintlicher Verletzung des Neutralitätsgebots bis zum jetzigen Zeitpunkt eingeleitet? Wenn sie beendet sind, mit welchen Ergebnissen? (Bitte die Verfahren wenn möglich nach Schulformen und Schulbezirken aufschlüsseln.) Keine. 5. Wie bewertet der Senat/die zuständige Behörde das „Neutralitätsgebot“ in der Schule vor dem Hintergrund des Beutelsbacher Konsenses – der Kontroversität gebietet – und der Verpflichtung der beamteten und angestellten Lehrer/-innen, rassistische und rechtsextreme Positionen als solche zu kennzeichnen? 6. Wie bewertet der Senat/die zuständige Behörde den Entschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) von 2018 („Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung in der Schule“, 11.10.2018),4 dass Schule kein „wertneutraler Raum“ sei, sondern das pädagogische Handeln von „demokratischen Werten und Haltungen“ getragen sei? 7. Wie bewertet der Senat/die zuständige Behörde die Einschätzung der KMK, dass hinsichtlich des Kontroversitätsgebots der politischen Bildung , „Meinung des Andersdenkenden (…) jedoch nicht Beliebigkeit und Neutralität bedeutet. Kinder und Jugendliche sollen die Vorzüge, Leistungen und Chancen der rechtsstaatlich verfassten Demokratie erfahren und erkennen, dass demokratische Grundwerte wie Freiheit, Gerechtigkeit , Solidarität und Toleranz niemals zur Disposition stehen dürfen.“5 8. Die KMK bestimmte 2018 den Beutelsbacher Konsens zur zentralen Grundlage des demokratischen Lernens in der Schule. Kann der Senat/ die zuständige Behörde darlegen, wie an Hamburgs Schulen der Beutelsbacher Konsens mit seinen drei Punkten – „Überwältigungsverbot“, 4 https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018/ Beschluss_Demokratieerziehung.pdf. 5 https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018/ Beschluss_Demokratieerziehung.pdf. Drucksache 21/19119 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 „Kontroversitätsgebot“ und „Schüler/-innenorientierung“ – im Unterricht praktisch angewendet werden soll? 9. Wie bewertet der Senat/die zuständige Behörde folgende Einschätzung des Instituts für Menschenrechte: „Lehrer_innen (…) müssen daher auch rassistische und rechtsextreme Positionen von politischen Parteien kritisch thematisieren. Dem stehen für den Bereich der schulischen Bildung weder Regelungen des Beamten- oder Schulrechts noch der Beutelsbacher Konsens entgegen“6 10. Wie bewertet der Senat/die zuständige Behörde die Expertise des Arbeitsbereichs Gesellschaftswissenschaften, Geschichte und PGW am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung? a. Warum wurde statt der Rechtsabteilung nicht diese Stelle zur Information über das „Neutralitätsgebot“ zurate gezogen? 11. Wie soll nach Ansicht der zuständigen Behörde § 2 des HmbSG praktisch im Unterricht umgesetzt werden und zum Zwecke normativer und ethischer Demokratiebildung herangezogen werden? Dem parlamentarischen Fragerecht korrespondiert ein Anspruch auf Auskünfte, nicht aber auf meinungsbildende Stellungnahmen (vergleiche Thüringer Verfassungsgerichtshof , Urteil vom 19. Dezember .2008 – 35/07 –, juris Rn. 177), von denen der Senat deshalb auch im vorliegenden Fall absieht. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 6 Hendrik Cremer: Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien? Berlin 2019, Seite 32.