BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/19842 21. Wahlperiode 31.01.20 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Sabine Boeddinghaus (DIE LINKE) vom 23.01.20 und Antwort des Senats Betr.: Weiterbildungen und Einarbeitungen in Hamburger Jugendämtern Aufgrund der deutlich gestiegenen Anzahl von Inobhutnahmen Minderjähriger hat der Deutsche Bundestag in Mainz eine Forschungsstelle eingerichtet, die problematische Kinderschutzverläufe analysieren soll. Das Ergebnis der Studie steht noch aus. Im Zuge dessen mehren sich inzwischen auch außerhalb der Studie bundesweit Hinweise auf ungerechtfertigte Fallverläufe von Inobhutnahmen1 insbesondere bei Kindern alleinerziehender Mütter sowie Umplatzierungen zum anderen Elternteil und einer fachlich fragwürdigen Begründung durch die betreffenden Jugendämter. Bundesweit wurden von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in verschiedenen Fällen Inobhutnahmen mit einer „zu engen Bindung“ beziehungsweise krankhaften „Mutter- Kind-Symbiose“ begründet, ohne eine solche Diagnose durch entsprechende Fachleute (Ärzte, Gutachter) absichern zu lassen. Doch bereits diese Diagnose gilt unter Fachleuten als „Scheindiagnose, ein Label ohne Aussagekraft “, weil es keine Störung sei, „für die überprüfbare diagnostische Kriterien definiert sind“, sagt zum Beispiel Jörg Fichtner, familienpsychologischer Sachverständiger2. Der Soziologe und Referatsleiter des Hamburger Jugendamtes a.D., Dr. Wolfgang Hammer, wirft zudem im Kontext seiner Fallstudie zu ungerechtfertigten Inobhutnahmen die Frage nach einer gemeinsamen ideologischen Quelle auf. Um zu verstehen, wie es zu solch tiefgreifenden Fehlbeurteilungen und -entscheidungen durch Jugendämter kommen kann, bedarf es Nachfragen und entsprechender Antworten. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Der Kinderschutz ist für den Senat eine der obersten Prioritäten. Dies betrifft sowohl die fachliche Umsetzung nach überprüfbaren Kriterien, einheitlichen Standards und vereinbarten Prozessabläufen aller Beteiligten, als auch eine gute personelle Ausstattung und hohe fachliche Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) in den Jugendämtern. Die Situation in den ASD der bezirklichen Fachämter für Jugend- und Familienhilfe hat sich seit Erscheinen der Studie von Prof. Dr. Christian Schrapper im Organisationslagebild 2012 vor acht Jah- 1 Fallstudie von Dr. Wolfgang Hammer, Mitglied im Beirat des Deutschen Kinderhilfswerks und bis zu seinem Ruhestand 2013 Abteilungsleiter für Jugendhilfe in der Hamburger Sozialbehörde , zu ungerechtfertigten Inobhutnahmen von Kindern alleinerziehender Mütter: https://bremerbuendnissozialearbeit.jimdofree.com/stellungnahmen/fachlichhumanit %C3%A4r-und-verfassungsrechtlich-untragbare-fallverl%C3%A4ufe-in-der-kinderund -jugendhilfe/, 11.11.2019 sowie weitere publizierte Fälle durch Medienrecherchen. 2 Jörg Fichtner, familienpsychologischer Sachverständiger, in der „Süddeutschen Zeitung“: https://www.sueddeutsche.de/leben/erziehung-familie-jugendamt-inobhutname-kindereltern -1.472844518.12.2019. Drucksache 21/19842 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 ren grundlegend gebessert. Siehe hierzu insbesondere Drs. 21/18560 sowie Drs. 21/18333. Die Empfehlung Nummer 2 aus der oben genannten Untersuchung, („Eine professionelle Kampagne zur Anwerbung, Auswahl und Einarbeitung von Fachpersonal für den ASD ist erforderlich“) wurde schrittweise umgesetzt: Auf der Grundlage einer Personalbemessung wurden über 75 Stellen für sozialpädagogische Fachkräfte schon in 2015 neu geschaffen und besetzt. Es wurden die Positionen der stellvertretenden Leitungen eingeführt und besetzt. Bezirksämter und das Sozialpädagogische Fortbildungszentrum (SPFZ) der Fachbehörde haben ein Einarbeitungskonzept und eine verpflichtende Weiterbildungsreihe „Neu im ASD“ umgesetzt. Fachbehörde und Bezirksämter führen auf der Grundlage der oben genannten Untersuchung ein regelmäßiges Monitoring der Arbeitsfähigkeit aller ASD-Abteilungen in Hamburg durch und ergreifen bei Bedarf geeignete Maßnahmen. Darüber hinaus sichert das zertifizierte Qualitätsmanagement einen einheitlich hohen Standard insbesondere bei der Bearbeitung von Kinderschutzfällen. Entscheidungen in solchen Fällen werden von mindestens zwei Fachkräften bewertet. Die Inobhutnahme ist für den ASD stets das letzte Mittel, um Kinder vor körperlicher oder psychischer Gewalt zu schützen. Stimmen die Eltern nicht zu, muss die Inobhutnahme unverzüglich einem Familiengericht mitgeteilt werden und bei anhaltender Gefährdungslage Entscheidungen des Familiengerichtes berücksichtigt werden. Somit wird die Inobhutnahme von einem unabhängigen Gericht überprüft. Im Übrigen siehe Drs. 21/15022 und Drs. 21/10236. Die Fallstudie von Dr. Hammer ist der zuständigen Behörde bekannt. Die Ergebnisse der Forschungsstelle in Mainz werden für Sommer 2020 erwartet und können daher noch nicht bewertet werden. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter sind seit 2010 in Hamburg im Bereich hoch konflikthafter Trennungen und deren Beurteilung sowie im Rahmen dessen zu Kindeswohlgefährdung und Kinderschutz in Bezug auf Alleinerziehende fortgebildet worden? Bitte jahrweise tabellarisch auflisten unter Nennung des Titels der Fortbildung, der Anzahl der Teilnehmer/-innen, des Bezirkes und des Anbieters beziehungsweise der Referentin. Das Sozialpädagogische Fortbildungszentrum (SPFZ) der zuständigen Behörde bietet dazu seit 2013 in seinem zentralen Programm eine offen ausgeschriebene Veranstaltung „Hochstrittige Elternkonflikte als Herausforderung für die Beratungsarbeit“ im Umfang von drei Tagen für Fachkräfte öffentlicher und freier Träger an (siehe Anlage). Insgesamt haben 68 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hamburger Jugendämter seit 2010 an dieser Veranstaltung teilgenommen. Das Thema hochkonflikthafter Trennungen kann bei Bedarf auch im Rahmen weiterer Fortbildungsmaßnahmen thematisiert werden, insbesondere im Rahmen von Fortbildungen der Rubrik „Kinderschutz und Kinderrechte“ des zentralen Fortbildungsprogramms , im Rahmen der Weiterbildung „Neu im ASD“ für ASD-Fachkräfte, die sich in der Einarbeitung befinden, sowie im Rahmen von Teamsupervisionen für die ASD- Abteilungen, in denen die Fachkräfte Einzelfälle zur Beratung einbringen, und schließlich auch bei Einzelsupervisionen, die bei besonders schwierigen Fallkonstellation zusätzlich durchgeführt werden können. 2. Welche Entscheidungs- und Gütekriterien werden vom Senat beziehungsweise der Fachbehörde für die Auswahl von Fortbildungen der Jugendämter herangezogen? 3. Welche Stelle hat die unter Frage 1. erfragten Weiterbildungen beauftragt beziehungsweise freigegeben? Wurden diese vorab unabhängig, auch gegebenenfalls auf ihre Inhalte und wissenschaftliche Fundierung geprüft und falls ja, wie und durch welche Stelle? Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/19842 3 Für jede Veranstaltung bewertet das SPFZ Fortbildungskonzept und fachliche sowie didaktische Qualifikation der Fortbildungsreferentinnen und -referenten. Für die Auswahl der Fortbildungen sind aktuelle fachliche, fachpolitische und wissenschaftliche Entwicklungen, rechtliche Änderungen an der Aufgabenwahrnehmung der Fachkräfte und politische Zielvorgaben bedeutsam, soweit sich daraus Anforderungen an die Qualifikation der Fachkräfte ergeben. Im Rahmen einer Bedarfserhebung werden die aktuellen Bedarfe der bezirklichen Fachämter und Fachreferate der Fachbehörden erhoben, um zu bewerten, inwieweit und in welchem Umfang ein Qualifikationsbedarf besteht. Besonders relevante Themen finden regelhaften Einzug in das Jahresprogramm . Das offen ausgeschriebene Fortbildungsprogramm des SPFZ wird durch einen Fortbildungsbeirat geprüft und bestätigt oder gegebenenfalls ergänzt oder verändert . Der Beirat setzt sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Fachbehörden, der bezirklichen Fachämter, freier Träger, Experten und Expertinnen, Personalräten sowie Fachreferenten und -referentinnen des SPFZ zusammen. Das Programm wird durch den Beirat fachlich, inhaltlich und in Bezug auf die Referenten/-innen geprüft und diskutiert . Gegebenenfalls werden im Rahmen der Beiratssitzung Änderungen veranlasst und abschließend freigegeben. Die letzte Freigabe erfolgt durch die Leitung des Amtes für Familie der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) und die beteiligten Personalräte. Darüber hinaus ist es möglich, dass die Fachämter für Jugend- und Familienhilfe der Bezirksämter mit Unterstützung des SPFZ weitere Fortbildungen anbieten. 4. Sind dem Senat beziehungsweise der Fachbehörde bisher ähnliche problematische Fehlentscheidungen aufgrund solcher Begründungen von Jugendämtern in Hamburg zu Inobhutnahmen bekannt? Wenn ja, seit wann und wie viele? Der zuständigen Behörde sind keine Fehlentscheidungen aufgrund solcher Begründungen bekannt. Das Bezirksamt Nord hat in 2019 eine Inobhutnahme durchgeführt, die im weiteren Verlauf aber wieder aufgehoben wurde. Im Übrigen hat sich der Senat damit nicht befasst. 5. Wie bewertet der Senat beziehungsweise die Fachbehörde die Bedeutung von Arbeitserfahrung und verlässlicher Kenntnis der Gegebenheiten vor Ort in Hinblick auf die effektive sowie bestmögliche Praxis im komplexen und anspruchsvollen Aufgabenfeld des Allgemeinen Sozialen Dienstes in Hamburg? 6. Welche Rolle spielt aus Sicht des Senates beziehungsweise der Fachbehörde das Verhältnis von erfahrenen und nicht erfahrenen Fachkräften bei der Beurteilung von problematischen Fallverläufen? Ab wann gilt eine Fachkraft als erfahren? 7. Wie viele erfahrene Mitarbeiter/-innen müssen nach Auffassung des Senates beziehungsweise der Fachbehörde auf wie viele unerfahrene Mitarbeiter/-innen kommen, damit die Einarbeitungen erfolgreich verlaufen ? Arbeitserfahrung und verlässliche Kenntnis der Gegebenheiten vor Ort sind hilfreich für die Bearbeitung des anspruchsvollen Aufgabenfeldes des Allgemeinen Sozialen Dienstes, sie sind jedoch nicht allein ausschlaggebend. Von hoher Bedeutung sind darüber hinaus sozialpädagogische Fachkenntnisse, Kenntnisse der rechtlichen und fachlichen Grundlagen, methodische Fertigkeiten und personale wie soziale Kompetenzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Leitungskräfte, sowie strukturelle Rahmenbedingungen in den ASD-Abteilungen, wie zum Beispiel eine hinreichende Personalausstattung. Das Einarbeitungsprogramm mit der Weiterbildungsreihe „Neu im ASD“ erstreckt sich über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren. Fachbehörde und Bezirksämter gehen davon aus, dass Fachkräfte, die drei Jahre und länger in einem ASD tätig sind, im Allgemeinen über eine hinreichende berufliche Erfahrung verfügen. Dabei ist Fachbehörde wie Bezirksämtern bewusst, dass Erfahrung nicht allein aus einer zeitlichen Komponente abgeleitet werden kann. Andere Faktoren, wie zum Beispiel Lebenser- Drucksache 21/19842 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 fahrung, personale und soziale Kompetenzen, Lern- und Veränderungsfähigkeit sind ebenfalls zu berücksichtigen. Fachbehörde und Bezirksämter gehen davon aus, dass Handlungsbedarf immer dann bestehen kann, wenn der Anteil erfahrener Fachkräfte in einer Abteilung unterhalb von 33 Prozent liegt. Dabei handelt es sich um einen Richtwert und andere Faktoren, wie zum Beispiel Abteilungsgröße, Erfahrung der Abteilungsleitung und die bereits genannten Faktoren werden zusätzlich zur Bewertung herangezogen. Dieses Thema ist auch regelmäßig Gegenstand der Steuerungsgruppe Jugendhilfe. 8. Werden die Empfehlungen von Prof. Dr. Christian Schrapper im Organisationslagebild 2012 den Einarbeitungen im ASD zugrunde gelegt?3 Wenn nein, warum nicht? Siehe Vorbemerkung. 3 Vergleiche https://www.hamburg.de/contentblob/3546916/ 7ccc5f379d068522dd02a6eaa1a1f70c/data/asd-bericht-uni-koblenz.pdf. Fo rt bi ld un ge n de s So zi al pä da go gi sc he n Fo rt bi ld un gs ze nt ru m s (S PF Z) z um T he m en fe ld h oc hk on fli kt ha fte r T re nn un ge n Ja hr Ve ra ns ta ltu ng R ef er en t G es am tza hl T N au s Ju ge nd - äm te rn H H -M itt e A lto na Ei m sb üt te l H H -N or d W an ds be k B er ge do rf H ar bu rg 20 13 H oc hs tri tti ge E lte rn ko nf lik te a ls H er au sf or de ru ng fü r d ie Be ra tu ng sa rb ei t U li Al be rs tö tte r 11 1 1 4 2 3 0 0 20 14 H oc hs tri tti ge E lte rn ko nf lik te a ls H er au sf or de ru ng fü r d ie Be ra tu ng sa rb ei t U li Al be rs tö tte r 11 2 1 1 3 3 1 0 20 15 H oc hs tri tti ge E lte rn ko nf lik te a ls H er au sf or de ru ng fü r d ie Be ra tu ng sa rb ei t U li Al be rs tö tte r 9 0 0 3 2 2 1 1 20 16 H oc hs tri tti ge E lte rn ko nf lik te a ls H er au sf or de ru ng fü r d ie Be ra tu ng sa rb ei t U li Al be rs tö tte r 11 2 0 2 3 3 1 0 20 17 H oc hs tri tti ge E lte rn ko nf lik te a ls H er au sf or de ru ng fü r d ie Be ra tu ng sa rb ei t U li Al be rs tö tte r 10 2 0 3 1 2 1 1 20 18 H oc hs tri tti ge E lte rn ko nf lik te a ls H er au sf or de ru ng fü r d ie Be ra tu ng sa rb ei t U li Al be rs tö tte r 8 2 1 0 1 3 0 1 20 19 H oc hs tri tti ge E lte rn ko nf lik te a ls H er au sf or de ru ng fü r d ie Be ra tu ng sa rb ei t U li Al be rs tö tte r 8 2 2 1 0 1 1 1 G es am t 68 11 5 14 12 17 5 4 Q ue lle : S PF Z de r z us tä nd ig en B eh ör de Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/19842 5 Anlage 19842ska_Text 19842ska_Anlage