BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/19843 21. Wahlperiode 31.01.20 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Carola Ensslen und Sabine Boeddinghaus (DIE LINKE) vom 23.01.20 und Antwort des Senats Betr.: Ehemalige Zwangsarbeiter-/-innenlager in Eimsbütteler und Hamburger Schulen Von 1939 bis 1945 waren rund 500 000 Menschen in Hamburg als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt. Über 1 000 Hamburger Unternehmen aller Wirtschaftszweige setzten sie ein. Sie waren in annähernd 1 300 Lagern untergebracht, die auf die ganze Stadt verteilt waren. Sammellager wurden in Räumlichkeiten der Stadt Hamburg auf Anweisung der Nationalsozialisten eingerichtet. Bei vielen der Lager handelte es sich um menschenunwürdige Baracken, aber auch Festsäle in Gasthäusern, Lagerhäuser und andere Gebäude dienten als Unterkünfte für die Betroffenen. Ab 1942/1943 mussten zudem Schulen diese Menschen unterbringen. Auf der Website www.zwangsarbeit-in-hamburg.de – in Verantwortung der Landeszentrale für politische Bildung – sind 22 Schulen aufgeführt. Für Eimsbüttel sind insbesondere die Wolfgang-Borchert-Schule, Schwenckestraße 91 – 93, die Ida-Ehre-Schule, Bogenstraße 34 – 36, sowie die katholische Schule Am Weiher 29 zu nennen. Bei Letzterer besteht darüber hinaus die Besonderheit , dass dort bei der Beiersdorf AG eingesetzte Zwangsarbeiter/-innen untergebracht waren. Einige Schulen haben in der jüngsten Vergangenheit Projekte durchgeführt, um an die Lager in ihrer Schule, an die von Zwangsarbeit betroffenen Menschen zu erinnern und eine Form des Gedenkens zu schaffen. Schulklassen widmen sich außerdem in Projektwochen dem Thema „Zwangsarbeit“ in ihrer Nachbarschaft. Viele Schulen sehen sich aber bisher nicht in der Lage, diese wichtige Arbeit zu leisten und etwa Initiativen der Zivilgesellschaft aufzugreifen . Dabei ist Zwangsarbeit kein Randthema, denn insgesamt wurden 26 Millionen Menschen verhaftet und verschleppt. Die Geschichte dieser Menschen vollständig aufzuarbeiten und in das heutige Leben zu integrieren – auch und vor allem an Schulen und durch die Schülerinnen und Schüler wie auch durch Lehrkräfte – ist ein bedeutender Beitrag, nicht zu vergessen. Auch und gerade im 75. Jahr der Befreiung von Faschismus. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: Den Millionen Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges in Deutschland Zwangsarbeit haben leisten müssen, wurde schweres Unrecht zugefügt. Allein in Hamburg waren schätzungsweise 500 000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt, siehe https://www.hamburg.de/zwangsarbeiterlager/. Dem Senat ist es ein wichtiges Anliegen, über die nationalsozialistischen Verbrechen und die historischen Geschehnisse aufzuklären und die Folgen der NS-Verbrechen sowie den gesellschaftlichen Umgang damit kritisch zu reflektieren. Drucksache 21/19843 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Der Senat hat mit dem Besuchsprogramm für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nicht nur ein Zeichen der Anerkennung gesetzt, er hat damit auch einen Beitrag zur Aufarbeitung geleistet und durch die Zeitzeugengespräche in Hamburger Schulen ermöglicht, dass ihre Erfahrungen und Schicksale an die junge Generation weitergegeben werden. Das Besuchsprogramm, das von 2001 bis 2013 stattfand, richtete sich an ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Osteuropa, die ohne eine Einladung aus Deutschland aus materiellen und organisatorischen Gründen keine Möglichkeit hatten, die Reise nach Hamburg zu realisieren. Die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter erhielten die Möglichkeit, die Orte ihres damaligen Leidens noch einmal aufzusuchen. Außerdem trafen die Gruppen regelmäßig mit Schulklassen und anderen Gruppen zusammen, denen sie über ihre Erfahrungen berichteten. Jede Besuchergruppe wurde offiziell im Rathaus von einer Vertreterin oder einem Vertreter des Senats oder der Bürgerschaft begrüßt. Insgesamt kamen rund 400 ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Polen, Russland, der Tschechischen Republik, Lettland, Litauen, Weißrussland und der Ukraine nach Hamburg. Das Besuchsprogramm fand seinen Abschluss mit der Ausstellung „Ich hätte nicht geglaubt, noch einmal hierher zu kommen“ im Rathaus vom 21. August bis 13. September 2014. Die als Wanderausstellung konzipierte Ausstellung wurde unter anderem auch im Altonaer Rathaus und im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung gezeigt. Der Ausstellungskatalog mit Grußworten der Präsidentin der Bürgerschaft und des Ersten Bürgermeisters dokumentiert unter anderem Schicksale von Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Programms anhand von persönlichen Briefen und Texten und ist online verfügbar unter https://www.hamburg.de/ausstellung-zwangsarbeiter/. Darüber hinaus ist die Vermittlung der historischen Ereignisse der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands eine wichtige Aufgabe Hamburger Schulen. Die Auseinandersetzung mit Elementen der Erinnerungskultur ist eine verbindliche inhaltliche Vorgabe im Fach Geschichte für den Unterricht in den Sekundarstufen I und II. Es ist Aufgabe der Schulen, im Rahmen ihrer einzelschulischen Selbstverantwortung die schuleigenen Curricula zu gestalten und die Bildungspläne inhaltlich zu konkretisieren . Hierzu kann im Fach Geschichte auch das Thema Zwangsarbeit zählen. Über die schuleigenen Curricula hinaus legen die Schulen im Rahmen von Absprachen mit der jeweiligen Fachleitung fest, in welchen Jahrgangsstufen, in welchen Fächern, in welcher didaktischen Form (beispielsweise Zeitzeugengespräche, Thementage , Projektwochen) Aspekte der Erinnerungskultur in Schule und Unterricht berücksichtigt und in welchem Umfang dabei Besuche außerschulischer Lernorte, wie Orte des Erinnerns, Gedenkstätten, Museen, Ausstellungen, in die Gestaltung der Lern- und Bildungsprozesse einbezogen werden. Leitend ist dabei der zum Beispiel im Rahmenplan Geschichte für die Sekundarstufe I des Gymnasiums enthaltene Hinweis : „Realbegegnungen an außerschulischen Lernorten, der Besuch von Gedenkstätten , Ausstellungen und Geschichtswerkstätten sowie das Gespräch mit Zeitzeugen machen die Gegenstände des Unterrichts für die Schülerinnen und Schüler konkret erlebbar“ (siehe Bildungsplan Gymnasium Sekundarstufe I Geschichte, Seite 16). Soweit an einer Schule, als Institution beziehungsweise Gebäude, in der Zeit der NS-Diktatur Zwangsarbeiterinnen beziehungsweise Zwangsarbeiter untergebracht waren und hierzu historisch gesichertes Wissen vorliegt, kann dies beispielsweise im Rahmen des Unterrichts im Fach Geschichte in der Sekundarstufe I entlang der Leitfrage „Welches Leid brachten Diktatur, Judenverfolgung und Krieg in den Jahren 1933 bis 1945?“ exemplarisch thematisiert werden. Schulen verfügen über ein ausreichend großes Schulbudget, das ihnen auch die Finanzierung von Unterricht in besonderer Form, zum Beispiel Projekte, und den Besuch außerschulischer Lernorte, wie zum Beispiel Museumsbesuche und Ausflüge zu Gedenkstätten, ermöglicht. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/19843 3 Darüber hinaus kann grundsätzlich die Projektarbeit mit Schülerinnen und Schülern zu dem Thema Nationalsozialismus und Verfolgung aus Mitteln der Senatskanzlei finanziert werden. Jeder Einzelantrag ist zu prüfen und steht in Abhängigkeit der zur Verfügung stehenden Mittel. Die in der Vorbemerkung erwähnte Homepage www.zwangsarbeit-in-hamburg.de hat die Landeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Freundeskreis KZ-Gedenkstätte Neuengamme veröffentlicht. Sie dokumentiert die Zwangsarbeit in der Hamburger Kriegswirtschaft von 1939 bis 1945. Ausgehend von bekannten Orten in der Stadt ist es möglich, nach Lagerstandorten zu suchen, und sie ist so ein idealer Anreiz und Ausgangspunkt zu weiterführenden lokalen Recherchen, zum Beispiel für Schülerprojektgruppen und Stadtteilarchive . So haben sich beispielsweise Schülerinnen und Schüler der Max-Brauer-Schule mit dem früheren Lager „Moortwiete“, das sich auf dem heutigen Schulgelände befand, befasst. Archivrecherchen, Zeitzeugenbefragungen und Begegnungen mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern führten dazu, dass im April 2007 die erste Gedenktafel in Hamburg für ein früheres Zwangsarbeiterlager an der Schule angebracht wurde. Auch die Stadtteilschule Bergedorf hat sich mit dem Thema Zwangsarbeit beschäftigt und einen der BERTINI-Preise 2017 für ihre Dokumentation „Erinnern an die Schicksale russischer Zwangsarbeiter in Bergedorf“ erhalten, siehe https://bertinipreis .hamburg.de/die-kinder-vom-bullenhuser-damm-die-geschichte-von-walterjungleib /. Darüber hinaus ist eine pädagogische Handreichung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit abrufbar unter https://li.hamburg.de/publikationen/4338882/ handreichung-zwangsarbeit/. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Welche politische Verantwortung sehen Senat beziehungsweise zuständige Behörde für sich bei der Aufarbeitung der Situation von Menschen, die unter Zwangsarbeit gelitten haben? 2. Welche politische Verantwortung sehen sie in Bezug auf die heutigen Schulen, in denen einst Sammellager eingerichtet gewesen waren? Siehe Vorbemerkung. 3. Inwieweit wird eine Eigenverantwortung dieser Schulen gesehen? a. Welche Maßnahmen – etwa in Form von Projekten, Projektwochen et cetera – wurden seit 2011 an welchen Schulen ergriffen? b. Welche Maßnahmen sollen in 2020 ergriffen werden? Falls keine, warum nicht? Die erfragten Daten werden von der für Bildung zuständigen Behörde nicht zentral erfasst. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. c. Werden speziell für diese Erinnerungsarbeit – Projekte und Dokumentationen – Gelder zur Verfügung gestellt und wenn ja, von wem und in welcher Höhe? d. Wo können Schulleitungen, Lehrkräfte oder auch Schülerinnen und Schüler Gelder speziell für diese Form der Erinnerungskultur zur Unterstützung finanzieller oder anderer Art erhalten? Bitte genau darlegen, auch unter Angabe von Unterstützungsleistungen für die unter a. genannten Maßnahmen. 4. In welchen der auf der Website aufgeführten Lager in Hamburger Schulen bis 1945 gibt es über die unter 3. a. genannten Maßnahmen hinaus weitere Erinnerungsformen an die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ? Welche sind dies? Siehe Vorbemerkung. Drucksache 21/19843 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 5. In dem seit 1891 bestehenden Schulgebäude an der Schwenckestraße 91 – 93 hat es mehrere Schulwechsel gegeben. Seit 2019 ist dort nunmehr eine Grundschule angesiedelt. a. Welche Anstrengungen haben Senat beziehungsweise zuständige Behörden unternommen, um die Erinnerung über die verschiedenen Schulformen hinweg zu bewahren? b. Welche Konzepte gibt es, um an einer Grundschule die Erinnerung kindgerecht aufzubereiten? c. Was genau wird die neu gegründete Grundschule umsetzen? Nach der Schließung der Grund-, Haupt- und Realschule Wolfgang-Borchert-Schule zum Schuljahr 2009/2010 bezog die Marie-Beschütz-Schule das Gebäude, die ihrerseits das ehrende Andenken an eine von den Nationalsozialisten ermordete jüdische Lehrerin wahrt. Daher kam eine Umbenennung der Marie-Beschütz-Schule nicht infrage. Stattdessen sollte bei der nächstmöglichen Schulneugründung im Eimsbütteler Stadtgebiet der Name Wolfgang Borchert wieder mit einer schulischen Einrichtung verbunden werden. Dies geschah mit der Gründung der Wolfgang-Borchert-Schule zum 1. August 2019 in der Schwenckestraße. Die Schule hat das Schulgebäude in der Schwenckestraße zwar noch nicht bezogen, weil dort Umbauarbeiten durchgeführt werden. Der Bezug des Gebäudes findet jedoch zum Schuljahr 2020/2021 statt. Wolfgang Borchert, der als bedeutender deutscher Schriftsteller der Nachkriegszeit gilt, wurde mehrfach wegen der Kritik am Regime des Nationalsozialismus inhaftiert und hat sich in seinen Werken kritisch mit den Auswirkungen der Naziherrschaft auseinandergesetzt . So ist die Benennung der Grundschule nach Wolfgang Borchert ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur der Freien und Hansestadt Hamburg. Ziel der Schule ist es, einen grundschulgerechten Bezug zum Schriftsteller Wolfgang Borchert herzustellen. Daher finden sich im Gründungskonzept das Schullogo in Form eines Löwenzahns, das sich auf die Erzählung „Die Hundeblume“ von Wolfgang Borchert bezieht, und ein Theaterschwerpunkt. Weiter gehende pädagogische Konzepte einschließlich einer grundschulgerechten Erinnerungskultur können folgen, wenn die Schule ihre Räume bezogen haben wird und beschlussfähige Gremien entsprechende Konzepte in Eigenverantwortung entwickeln werden. 6. Wie bereits erwähnt, beherbergte die katholische Schule Am Weiher 29 Zwangsarbeiter/-innen der Beiersdorf AG. Gibt es eine Zusammenarbeit mit der Beiersdorf AG im Hinblick auf die Erinnerung und Aufarbeitung? Wenn ja, wie sieht diese genau aus? Wenn nein, warum nicht? Es handelt sich bei der katholischen Schule Am Weiher um eine Schule in freier Trägerschaft unter Verantwortung des Erzbistums Hamburg. Auf Grundlage der Privatschulfreiheit obliegt die Ausgestaltung von pädagogischen und inhaltlichen Aspekten, die in ihrer Zielsetzung über die Gleichwertigkeit der Bildungsangebote in Vergleich zu einer entsprechenden staatlichen Schule hinausgehen, dem Schulträger beziehungsweise der Schule. 7. Die Aufarbeitung und Darstellung von Zwangsarbeit in Hamburgs Schulen ist bislang lückenhaft. Für die Schule Schanzenstraße beispielsweise ist lediglich „von einem Lager“ die Rede. Mehr ist nicht bekannt. Gedenken Senat beziehungsweise zuständige Behörde, die ehemaligen Lager in Hamburger Schulen systematischer als bisher zu erfassen und die Geschichte aufzuarbeiten? Wenn ja, was genau ist geplant? Wenn nein, warum nicht? Siehe Vorbemerkung.