BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/20053 21. Wahlperiode 11.02.20 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Christiane Schneider (DIE LINKE) vom 04.02.20 und Antwort des Senats Betr.: Leistungskürzungen nach dem AsylbLG Mit Urteil vom 05.11.2019 hat das Bundesverfassungsgericht die Sanktionspraxis bei dem Bezug von Arbeitslosengeld II für verfassungswidrig erklärt (vergleiche BVerfG, Urteil vom 05.11.2019 - 1 BvL 7/16). Demnach sind Leistungskürzungen von über 30 Prozent des ALG-II-Regelsatzes als Sanktionsmaßnahme mit der Menschenwürde unvereinbar. Auch das Asylbewerberleistungsgesetz sieht nach § 1a AsylbLG die Möglichkeit von Leistungskürzungen als Sanktionsinstrument vor – auch über einen Anteil von 30 Prozent hinaus. Nur eine Woche nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat der Europäische Gerichtshof für das Geflüchtetensozialrecht entschieden, dass Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens unantastbar sind (vergleiche EuGH, Urteil vom 12.11.2019 - C-233/18). Ich frage den Senat: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16) betrifft die Sanktionierung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch (SGB II). Das Gericht stellt fest, dass eine verhältnismäßige Kürzung von Leistungen grundsätzlich zulässig ist. In seinen Ausführungen macht das BVerfG auch die wesentlichen Unterschiede zur Anspruchseinschränkung nach § 1a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) deutlich: Im Gegensatz zur streitigen Sanktion im SGB II werden trotz einer Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG stets weiter Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt. Hinzu kommt die Möglichkeit der fehlenden Nachholung von Mitwirkungspflichten gemäß § 1a Absatz 5 Satz 2 AsylbLG, die es im SGB II nicht gibt. Im Übrigen macht das BVerfG keine Ausführungen zur Verfassungsmäßigkeit der Anspruchseinschränkungen nach § 1a AsylbLG. Das Urteil des BVerfG hat somit keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Umsetzung der geltenden Rechtslage für Anspruchseinschränkungen nach § 1a AsylbLG. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in der Rechtssache C-233/18 betrifft die vollständige Sanktionierung von Leistungen eines minderjährigen Asylbewerbers in Belgien aufgrund gewalttätigen Verhaltens in einer Aufnahmeeinrichtung. Der Gerichtshof führt aus, dass eine Sanktionierung bei gewalttätigem Verhalten in Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des Artikels 20 Absatz 4 RL 2013/33/EU keine Versagung der Leistungen für Unterkunft, Verpflegung und Kleidung umfassen darf; dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich um eine minderjährige und somit besonders schutzwürdige Person im Sinne des Artikels 21 RL 2013/33/EU handelt. Zu Drucksache 21/20053 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 der Unionsrechtskonformität oder etwaiger Begrenzung anderer Leistungseinschränkungen gemäß Artikel 20 RL 2013/33/EU macht der EuGH keine Aussagen. Auch das EuGH-Urteil hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Umsetzung der geltenden Rechtslage für Anspruchseinschränkungen nach § 1a AsylbLG; Zum einen stellen die Tatbestände der Anspruchseinschränkungen nach § 1a AsylbLG nicht auf gewalttätiges Verhalten in Aufnahmeeinrichtungen ab. Außerdem werden für die Dauer der Einschränkung Leistungen für Unterkunft, Verpflegung und die Gesundheitsversorgung weiterhin gewährt. Minderjährige Leistungsberechtigte sind in der Regel nicht von Anspruchseinschränkungen betroffen. Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG in der ab dem 01.09.2019 geltenden Fassung kommt für folgende Fallgruppen in Betracht: - Leistungsberechtigte, für die ein Ausreisetermin und eine Ausreisemöglichkeit feststehen , ab dem auf den Ausreisetermin folgenden Tag (Absatz 1), - Einreise zur Leistungserlangung (Absatz 2), - Missbräuchliche Verhinderung des Vollzugs aufenthaltsbeendender Maßnahmen (Absatz 3), - Nichtbefolgung von Zuständigkeiten nach dem europäischen Flüchtlingsrecht (Absätze 4 und 7), - Fehlende Mitwirkung im Asylverfahren (Absatz 5) und - Nichtangabe von Vermögen (Absatz 6). Gemäß § 14 AsylbLG sind die Anspruchseinschränkungen auf sechs Monate befristet. Bei Einreise zur Erlangung von Leistungen (§ 1a Absatz 2 AsylbLG) und bei der Nichtangabe von Vermögen (§ 1a Absatz 6 AsylbLG) ist eine Anspruchseinschränkung einmalig auf sechs Monate zu befristen und nicht fortzusetzen. In den anderen Fällen ist die Anspruchseinschränkung bei fortbestehender Pflichtverletzung jeweils für weitere sechs Monate fortzusetzen, wenn die Voraussetzungen für die Anspruchseinschränkung weiterhin erfüllt werden. Bei einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Absatz 5 AsylbLG endet diese, sobald die fehlende Mitwirkungshandlung erbracht wurde. Der Leistungsumfang ist bei einer Anspruchseinschränkung gesetzlich in § 1a Absatz 1 AsylbLG festgelegt. Leistungsberechtigte erhalten weiterhin Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege. Die Gesundheitsversorgung wird weiterhin über die elektronische Gesundheitskarte (eGK) sichergestellt. Leistungsberechtigte mit einer Anspruchseinschränkung erhalten auch die HVV-Mobilitätskarte. Liegen im Einzelfall besondere Umstände vor, können darüber hinausgehende Leistungen, wie beispielsweise ein Mehrbedarf für werdende Mütter, gewährt werden. Bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben erfolgt eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles; insbesondere bei der Anspruchseinschränkung aufgrund von Verstößen gegen Mitwirkungspflichten. Eine Anspruchseinschränkung ist ausgeschlossen , wenn die Leistungsberechtigten die Verletzung der Mitwirkungspflichten oder die Nichtwahrnehmung des Termins nicht zu vertreten haben oder ihnen die Einhaltung der Mitwirkungspflichten oder die Wahrnehmung des Termins aus wichtigen Gründen nicht möglich war. Anspruchseinschränkungen bei Minderjährigen scheiden grundsätzlich aus, soweit sie sich auf die Verletzung von Mitwirkungspflichten (zum Beispiel Beschaffung von Ausweispapieren ) gründen. In diesen Fällen ist nicht von einem eigenen Fehlverhalten des Minderjährigen beziehungsweise der erforderlichen Einsichtsfähigkeit auszugehen und ein Fehlverhalten des Vertreters, zum Beispiel der Eltern, ist nicht zuzurechnen . Ausnahmsweise kann bei Minderjährigen im Alter von 14 bis 17 Jahren eine Anspruchseinschränkung nur in Betracht kommen, wenn der Vollzug der Ausreise beziehungsweise Abschiebung aktiv durch eigenes Verhalten selbst verhindert wird und die minderjährige Person die erforderliche Einsichtsfähigkeit besitzt. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/20053 3 1. Hat der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde die Auswirkungen des BVerfG-Urteils vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16) auf Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG geprüft? Wenn ja, mit welchem Ergebnis? Wenn nein, warum nicht? 2. Hat der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde die Auswirkungen des EuGH-Urteils vom 12.11.2019 (C-233/18) auf Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG geprüft? Wenn ja, mit welchem Ergebnis? Wenn nein, warum nicht? 3. Wie beurteilt der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde die Leistungskürzungen nach dem AsylbLG vor dem Hintergrund a. des BVerfG-Urteils? b. des EuGH-Urteils? Siehe Vorbemerkung. 4. Welche Erkenntnisse hat der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde über die Wirksamkeit der Sanktionen? 5. Inwieweit wird bei der derzeitigen Praxis der Leistungskürzungen berücksichtigt, ob die Person die Kürzung durch eigenes Verhalten abwenden kann? 6. Wie beurteilt der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde die Möglichkeit der betroffenen Person, die Leistungskürzung durch eigenes Verhalten abzuwenden bei den jeweiligen Kürzungstatbeständen nach § 1a AsylbLG? Bitte nach Absätzen und Nummern des § 1a AsylbLG differenzieren . Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG ist im Verhalten der Leistungsberechtigten begründet. Ob durch eine Verhaltensänderung die Anspruchseinschränkung aufgehoben werden kann, ist abhängig von der jeweiligen Fallgruppe und unterschiedlich zu beurteilen: Absatz 1: Eine Anspruchseinschränkung aufgrund der Nichtwahrnehmung eines Ausreisetermins hat in der Praxis nur eine geringe Relevanz. Entweder haben Personen die Gründe der nicht erfolgten Ausreise nicht zu vertreten (zum Beispiel aufgrund einer Erkrankung), oder eine Person ist untergetaucht, sodass die Leistungen ganz eingestellt wurden. Absatz 2: Die Einreise zur Erlangung von Leistungen nach dem AsylbLG ist ein einmaliges Fehlverhalten. Die Leistungskürzung ist immer auf sechs Monate begrenzt und kann nicht verlängert werden. Absatz 3: Bei einmaligem Fehlverhalten (zum Beispiel Widerstandshandlungen während der Abschiebung) ist die Leistungseinschränkung auf sechs Monate begrenzt und kann nicht verlängert werden. Bei andauerndem Fehlverhalten (zum Beispiel keine Mitwirkung bei der Passbeschaffung) wird die Leistungseinschränkung nach erfolgter Mitwirkung aufgehoben. Unabhängig davon wird das Vorliegen der Tatbestände regelhaft nach sechs Monaten überprüft. Absatz 4, Satz 1: Eine Sanktionierung kann nur abgewendet werden, wenn keine Einreise von einem Mitgliedstaat nach Deutschland erfolgt und eine Überstellung nach der Verordnung zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats , der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, nicht erforderlich werden würde. Drucksache 21/20053 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 Absatz 4, Satz 2: Ist bereits in einem anderen Mitgliedstaat der EU ein Aufenthaltsrecht gewährt worden, gilt die Anspruchseinschränkung bis zur Ausreise in den schutzgewährenden Staat oder bis zur Entscheidung des BAMF, eine erneute Prüfung im nationalen Verfahren durchzuführen. Die Anspruchseinschränkung kann darüber hinaus nicht durch eigenes Verhalten abgewendet werden. Absatz 5: Bei der Verletzung von Mitwirkungspflichten ist die Anspruchseinschränkung jederzeit durch Nachholung der Pflichten abwendbar. Absatz 6: Bei der Anspruchseinschränkung aufgrund der vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Nichtangabe von Vermögen handelt es sich um ein einmaliges Ereignis, das durch eine korrekte Angabe der Vermögensverhältnisse hätte verhindert werden können . Im Übrigen siehe Vorbemerkung. Absatz 7: Bei der Anspruchseinschränkung aufgrund der Ablehnung eines Asylantrags durch das BAMF, weil nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nummer 604/2013 ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist („Dublin- Fälle“), kann diese nicht durch eigenes Handeln abgewendet werden, da der Tatbestand bereits erfüllt wurde. 7. Inwieweit werden bei der derzeitigen Praxis der Leistungskürzungen besondere Schutzbedürfnisse der betroffenen Person berücksichtigt? Siehe Vorbemerkung. 8. Aus welchen Gründen wurden im Jahr 2019 Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG vorgenommen? Bitte nach den jeweiligen Absätzen und Nummern des § 1a AsylbLG differenzieren und nach Monaten aufschlüsseln . a. Wie lange dauerte die Sanktion jeweils an? b. In wie vielen Fällen wurden die Gründe, die zur Sanktion geführt haben, nach der Sanktionierung der Person durch die Person behoben ? c. In wie vielen Fällen richtete sich die Sanktion gegen Menschen, die ein besonderes Schutzbedürfnis haben (Schwangere, Menschen mit Behinderung, Menschen mit Erkrankung et cetera)? Die den Anspruchseinschränkungen nach § 1a AsylbLG zugrunde liegenden Tatbestände werden statistisch nicht erfasst und können somit nicht ausgewertet werden. Für die Beantwortung dieser Frage müssten rund 4 000 Fallakten von den Grundsicherungsdienststellen und der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung durchgesehen werden . In der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit ist dies nicht möglich.