BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/20240 21. Wahlperiode 28.02.20 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Philipp Heißner (CDU) vom 20.02.20 und Antwort des Senats Betr.: Aufarbeitung der Unterbringung von Hamburger Kindern in Verschickungsheimen in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren Nach der von ehemaligen Heimkindern und -jugendlichen vorangetriebenen Aufarbeitung der gewalttätigen und vielfach entwürdigenden Heimerziehung in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren fordern nunmehr auch Kinder, die in diesen Jahrzehnten zur „Erholung“ für mehrwöchige Aufenthalte in Verschickungsheimen untergebracht waren und dort durch Erfahrungen mit Gewalt und Erniedrigungen traumatisiert worden sind, die Aufarbeitung. Die Freie und Hansestadt Hamburg unterhielt über die Rudolf-Ballin-Stiftung e.V. mindestens ein Kurheim, in das Hamburger Kinder verschickt wurden. Am 1. September 1971 berichtete das „Hamburger Abendblatt“ darüber unter der Überschrift „Zur Strafe in den Keller: Heimleiterin wusste nichts davon“ über Erziehungspraktiken in diesen Kinderheimen „Lindenau“ in Lüneburg. Danach sollen „lediglich am 18. November 1970 (…) von dem damaligen Heimarzt und der damaligen Heimpsychologin mehrere Kinder, die sich bei einer Zwischenuntersuchung „besonders renitent“ zeigten, in den Keller gesperrt worden (sein).“ Zum Vorwurf, dass weitere Kinder für längere Dauer kalt geduscht seien, erklärte seinerzeit der Vorstand der Rudolf-Ballin- Stiftung e.V.: „In zwei Fällen ist im Mai mit Billigung des Heimarztes eine solche Dusche bei zwei Kindern vorgenommen worden, die sich in einem Zustand schwerer Aggression befanden und mit anderen Mitteln nicht beruhigt werden konnten.“1 Hans Karl Winkelmann, leitender Regierungsdirektor in der Arbeits- und Sozialbehörde und Vorsitzender der Rudolf-Ballin-Stiftung e.V., erklärte im „Hamburger Abendblatt“ vom 4./5. September 1971, die dort angewandten „Methoden (…) mögen veraltet sein, aber sie sind zweifellos ausschließlich von pädagogischen Gesichtspunkten bestimmt gewesen.“2 Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Der Senat nimmt die bisher vorliegenden Informationen und Hinweise auf entstandenes Leid von Kindern, die vor allem aus gesundheitlichen Gründen in Kurheime verschickt wurden („Verschickungskinder“), sehr ernst. Der in öffentlichen Interviews von Betroffenen geschilderte Umgang entspringt teils den in den Fünfziger- bis in die 1 „Hamburger Abendblatt“, „Zur Strafe in den Keller: Heimleiterin wusste nichts davon“, 1. September 1971, Seite 4. 2 „Hamburger Abendblatt“, „Dreißig Eltern holten ihre Kinder sofort nach Hause“, 4./5. September 1971, Seite 4. Drucksache 21/20240 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts vielfach vorherrschenden Erziehungsvorstellungen , die nicht mehr dem gegenwärtigen Stand der pädagogischen Praxis entsprechen . Der Senat lehnt einen Umgang mit Kindern und Jugendlichen, der grenzüberschreitend ist und unter Einsatz repressiver Erziehungsmethoden durchgeführt wird, entschieden ab. Auf Schilderungen der „Verschickungskinder“ wurde die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) im Spätherbst 2019 durch die zu diesem Zeitpunkt erfolgte Berichterstattung aufmerksam. Da es sich um Vorgänge aus den Fünfzigerbis Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts handelt, liegen viele Informationen nicht mehr vor und/oder bedürften einer intensiven Recherche. Da die Verschickung auch der Heilbehandlung diente, ist neben der BASFI die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (BGV) involviert. Die Fragestellungen zu den „Verschickungskindern“ betrifft nicht nur Hamburg, sondern nach derzeitigen Erkenntnissen mehrere Bundesländer , und wird deswegen Gegenstand des Austausches der Familien- und Jugendressorts der Länder. Hamburg steht einer bundesweiten wissenschaftlichen Untersuchung mit dem Ziel, Grundlagen für die Aufarbeitung zu schaffen, aufgeschlossen gegenüber. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Wie viele Kinder aus Hamburg sind in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren in Kurheime verschickt worden? Für die Fünfziger- bis Siebzigerjahre liegen keine verwertbaren Daten vor. Eine gesicherte Darstellung der Gesamtzahlen der in Kurheime verschickten Kinder sowie eine Abgrenzung der Spezialkliniken und Heime sind auf Basis der vorliegenden Informationen daher nicht möglich. Lediglich der der zuständigen Behörde vorliegende Erste Jugendbericht der Freien und Hansestadt Hamburg aus dem Jahr 1973 stellt Zahlen für das Jahr 1972 dar. Demnach wurden in jenem Jahr 1 814 Säuglinge und kleine Kinder sowie 2 129 Schülerinnen und Schüler überwiegend in Heimen des Vereins für Kinder- und Jugendgenesungsfürsorge e.V. und der Rudolf-Ballin-Stiftung e.V. betreut. Außerdem waren 643 Kinder in anderen ärztlich geleiteten Spezialkliniken oder Heimen aufgenommen. 2. Welche der Verschickung dienenden Kurheime sind von der Freien und Hansestadt Hamburg beziehungsweise von den in Hamburg ansässigen Trägern der freien Jugendhilfe in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren unterhalten worden? a. Wo waren die Standorte? b. Wie viele Kinder sind in den einzelnen Heimen untergebracht worden ? Unter den in Hamburg ansässigen Trägern sind nach derzeitigem Stand Einrichtungen des Vereins für Kinder- und Jugendgenesungsfürsorge e.V. und der Rudolf-Ballin- Stiftung e.V. identifiziert worden, für die der Senat jedoch in Ermangelung der Einsicht in die entsprechenden Aufzeichnungen der Träger keine Kenntnisse über Belegungen hat. Name der Einrichtung Anschrift Platzzahl Dr. Meyer-Delius-Heim Parkallee 45, Ahrensburg 28 Emma-Heim Ernst-Ziese-Str. 15, Ahrensburg 36 Gertrudheim Bredenbekstr. 44, Hamburg 44 Birkenhöhe Ehestorf 37 Paulinenheim Hanredder 5a, Voßloch 40 Haus Hanna Niederkleveez 40 Timmendorfer Strand Waldstr. 11, Timmendorfer Strand 50 Haus Ballenberg St. Blasien 50 Wyk Sandwall 78, Wyk auf Föhr 176 Hubertushof Rettenberg, Allgäu 36 Kinderhaus Linden-Au Uelzener Str. 112, Lüneburg ca. 110 – 145 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/20240 3 3. Sind dem Senat gewaltsame und erniedrigende Erziehungsmethoden aus solchen Heimen bekannt? Wenn ja, welche und seit wann? Die Rudolf-Ballin-Stiftung e.V. hat die BASFI aktuell über zwei Fälle informiert, in denen Personen vortragen, betroffen gewesen zu sein. Die geschilderten Darstellungen beziehen sich auf Aufenthalte in Wyk auf Föhr im Jahr 1967 sowie im Kinderheim Linden-Au in Lüneburg im Jahr 1954. In beiden Fällen werden von den betroffenen Personen der Zwang zu essen, Gruppenzwang und Erniedrigungen vor der Gruppe benannt. 4. Hält der Senat eine Aufarbeitung der teils traumatisierenden Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen in Verschickungsheimen für erforderlich ? Wenn ja, welche Schritte wurden beziehungsweise werden hierzu unternommen ? Siehe Vorbemerkung. 5. Welche Kurheime hat die Rudolf-Ballin-Stiftung e.V. in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren unterhalten? Bitte die Namen und Standort auflisten. a. Wie viele Kinder sind dorthin insgesamt verschickt worden? b. Sind dem Senat gewalttätige und erniedrigende pädagogische Praktiken aus diesen Heimen bekannt? Wenn ja, welche und seit wann? Siehe Antworten zu 2. und zu 3. 6. Haben sich die Organe der Rudolf-Ballin-Stiftung e.V. beziehungsweise die der Ballin-Stiftung vorstehenden Staatsräte der Sozialbehörde inzwischen aufarbeitend mit den Vorgängen, die aus dem Herbst 1971 über das Kurheim in Lüneburg berichtet worden sind, befasst? Ja. Der Verwaltungsrat der Rudolf-Ballin-Stiftung e.V. hat sich bereits zweimal mit der Thematik befasst. Die Verwaltungsratsvorsitzende ist darüber hinaus mit dem geschäftsführenden Vorstand im Gespräch über die Frage einer möglichen wissenschaftlichen Aufbereitung und der Frage, wie betroffene Personen ermutigt werden können, sich konkret mit ihren Anliegen an die Rudolf-Ballin-Stiftung e.V. zu wenden. 7. Haben die Organe beziehungsweise Staatsräte sich inzwischen bei den damals betroffenen Kindern entschuldigt? a. Wenn ja, wer hat sich wann entschuldigt? b. Wenn nein, warum gab es keine Entschuldigung? c. Wird dies nachgeholt? Der geschäftsführende Vorstand der Rudolf-Ballin-Stiftung e.V. hat sich bei den beiden namentlich bekannten Betroffenen für das erfahrene Leid entschuldigt. Der zuständige Abteilungsleiter der BASFI wird mit dem Hamburger Landeskoordinator der neu gegründeten Initiative für Verschickungskinder ein bereits terminiertes Gespräch führen; die Rudolf-Ballin-Stiftung e.V. steht ebenfalls mit den Beschwerdeführern in Kontakt. 8. Sieht der Senat sich veranlasst und ist er bereit dazu, die Aufarbeitung des Kapitels „Verschickungsheime“ durch Betroffene in Bezug auf Hamburger „Kurheime“ beziehungsweise sonst verschickte Hamburger Kinder mit finanziellen Mitteln zu unterstützen? a. Wenn ja, in welcher Form und in welchem Umfang? b. Wenn nein, warum nicht? Siehe Antwort zu 6. sowie Vorbemerkung.