BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/2109 21. Wahlperiode 10.11.15 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Karin Prien (CDU) vom 03.11.15 und Antwort des Senats Betr.: Gewalt an Schulen – Verschleierung des Ausmaßes durch Änderung der Meldungspflichten? Im Jahr 2009 wurde die Richtlinie zur Meldung und Bearbeitung von Gewaltvorfällen in Schulen erlassen, die im Sommer 2015 überarbeitet wurde. Die Neufassung, die im Mitteilungsblatt der Behörde für Schule und Berufsbildung am 9. Oktober 2015 veröffentlicht wurde, gilt für den Umgang mit folgenden Straftaten: Raub, Erpressung, gefährliche Körperverletzung, Straftaten gegen das Leben. Für Sexualdelikte oder Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gilt sie nur, wenn diese gegenwärtig sind und daher durch sofortiges Handeln unterbunden werden müssen. In allen anderen Fällen findet für diese Taten die „Richtlinie für den Umfang mit dem Verdacht auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ Anwendung. Bei allen übrigen Straftaten, Vorfällen, Vorkommnissen und besonderen Ereignissen in Schulen gilt § 49 Absatz 8 HmbSG beziehungsweise die Verwaltungsvorschrift zur Meldung Besonderer Vorkommnisse. Dies betrifft auch Straftaten wie Verstöße gegen das Waffen- oder Betäubungsmittelgesetz, die nach der vorherigen Fassung der Richtlinie bereits zu den „anzeigepflichtigen Gewalttaten“ (Kategorie I) gehörten. Die vorherige Richtlinie umfasste auch eine Meldepflicht für „leichtere Straftaten “ (Kategorie II) wie zum Beispiel Diebstahl, einfache Körperverletzung, schwere Fälle der Beleidigung und der Sachbeschädigung sowie Tierquälerei . Wie sich aus den Antworten des Senats auf eine Vielzahl von Schriftlichen Kleinen Anfragen seit der 20. Legislaturperiode ergab, ist die Anzahl der Gewaltmeldungen an Hamburgs Schulen seit Erlass der Richtlinie im Jahr 2009 erheblich gestiegen: Während die Zahl der Meldungen im Schuljahr 2010/2011 noch bei 883 lag, waren es im vergangenen Schuljahr bereits 1.888, wie die Antwort des Senats auf die Große Anfrage Drs. 21/1599 ergab. Nunmehr scheint der Senat mit der Aktualisierung der Richtlinie den Anstieg der Gewalt auf Hamburgs Schulhöfen verschleiern zu wollen, indem er die Meldepflichten für eine Vielzahl der Delikte lockert. Die Öffentlichkeit hat jedoch ein Recht darauf zu erfahren, welchen Gefahren Hamburgs Schüler ausgesetzt sind. Zudem ist es äußerst wichtig, bei Kindern und Jugendlichen, die ein delinquentes Verhalten zeigen, frühzeitig gegenzusteuern, um dem Aufbau krimineller Karrieren schnellstmöglich entgegenzuwirken . Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Der Anstieg der Gewaltmeldungen an Hamburger Schulen seit dem Schuljahr 2008/ 2009 ist nicht zwangsläufig auf vermehrte Vorfälle zurückzuführen, sondern auf die Drucksache 21/2109 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 gestiegene Beteiligungsquote der Schulen am Meldeverfahren. Während die Quote der meldenden Schulen im Schuljahr 2008/2009 noch 32 Prozent betrug, beteiligten sich in den Schuljahren 2013/2014 und 2014/2015 jeweils knapp 70 Prozent aller Schulen am Meldeverfahren. In den Schuljahren 2013/2014 (1.908 Vorfälle) und 2014/2015 (1.888 Vorfälle) stagnierten die gemeldeten Gewaltvorfälle. Bei der Interpretation von Angaben zu Gewaltvorfällen an den Schulen ist zu berücksichtigen , dass es sich bei sämtlichen Gewaltvorfällen, die gemeldet und dokumentiert wurden, um subjektive Ersteinschätzungen durch pädagogische Fachkräfte der Schulen handelt. So kann es dazu kommen, dass Schubsen oder das Werfen eines Schneeballs bereits als einfache Körperverletzung angegeben wird. Auch bei der Deliktart der gefährlichen Körperverletzung ist eine differenzierte Betrachtung erforderlich , da zunächst jeder tätliche Einsatz eines Gegenstandes (Stift oder Stock) oder eine Tätlichkeit, an der mehrere Personen beteiligt sind, unterschiedslos als gefährliche Körperverletzung eingestuft wird. Das bisherige Meldeverfahren mit der Einteilung der gemeldeten Vorfälle in die Deliktkategorien 1 und 2 hat sich nicht bewährt, weil sich die Erstbeurteilungen durch pädagogische Kräfte vor Ort von den Ergebnissen der polizeilichen Ermittlungen oft erheblich unterscheiden und in vielen Fällen als übertrieben eingestuft werden müssen . So hat ein Abgleich der 89 von den Schulen für das Schuljahr 2014/2015 gemeldeten Fälle von gefährlicher Körperverletzung ergeben, dass seitens der Polizei im Zuge der von der für Bildung zuständigen Behörde übermittelten Personen- und Kalenderdaten im elektronischen Tagebuch der Polizei (ComVor-Index) nur acht Personen mit angezeigten gefährlichen Körperverletzungen verifiziert werden konnten. Eine überbehördliche Expertengruppe hat daher der für Bildung zuständigen Behörde vorgeschlagen, sich bei den Meldungen von Gewaltvorfällen stärker auf objektivierbare Kriterien zu stützen und sich deshalb auf überprüfbare, feststellbare Straftaten im Kontext der Gewaltkriminalität zu konzentrieren und diese jährlich mit der Statistik der Polizei Hamburg abzugleichen. Des Weiteren sollen Schulleitungen einen klaren und eindeutigen Handlungsplan für die Bearbeitung und Meldung von Gewaltvorfällen in ihren Schulen umsetzen. Aufgrund dieser Empfehlungen erfolgte in der für Bildung zuständigen Behörde eine Überarbeitung der Richtlinie und des Meldebogens. Der Meldebogen erhielt mit der Aktualisierung eine inhaltliche Fokussierung auf anzeigepflichtige Straftaten, auf den anlassbezogenen, dringenden Unterstützungsbedarf der meldenden Schule, eine Konkretisierung der gewünschten Hilfestellung und eine stärkere Differenzierung in Maßnahmen für die geschädigten Personen und die Tatverdächtigen. Zudem wurde der Meldebogen im Hinblick auf eine transparentere Struktur, eine eindeutige Handlungs - und Zuständigkeitsfolge und die zusätzlichen Berücksichtigung von Maßnahmen beim Opferschutz überarbeitet. Um eine Vergleichbarkeit mit der Polizeilichen Kriminalstatistik herzustellen, sind seit dem Schuljahr 2015/2016 folgende Delikte gegenüber der für Bildung zuständigen Behörde meldepflichtig und gegenüber der Polizei Hamburg anzeigepflichtig: Straftaten gegen das Leben, Sexualdelikte, Raub/Erpressung und gefährliche Körperverletzung . Vorfälle und Straftaten, die nicht zur Definition der Gewaltkriminalität gehören, werden zukünftig schulintern dokumentiert. Solche Vorfälle werden auch der Polizei mitgeteilt, wenn dies nicht wegen der geringen Schwere der Tat, dem Lebensalter oder der Einsichtsfähigkeit des Schülers oder sonstigen Umständen unverhältnismäßig wäre. In allen Fällen können die Schulen weiterhin geeignete Beratungs- und Unterstützungsleistungen der Schulaufsicht, der regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ), des Beratungs- und Unterstützungszentrums Berufliche Schulen (BZBS) sowie der Beratungsstelle Gewaltprävention in Anspruch nehmen, die regelhaft auf die polizeiliche Anzeige in der Beratung hinweisen. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/2109 3 1. Aus welchem Grund und aufgrund welcher Überlegungen wurde die Anzahl der Delikte im Rahmen der Aktualisierung der Richtlinie zur Bearbeitung und Meldung von Gewaltvorfällen in Schulen erheblich eingeschränkt ? 2. Aus welchen Gründen wurden nicht alle Kategorie-I-Delikte der vorherigen Fassung der Richtlinie, insbesondere Verstöße gegen das Waffenoder Betäubungsmittelgesetz sowie besonders schwerer Fall des Diebstahls und ein Diebstahl mit Waffen, in diese Richtlinie übernommen? 3. Wie wollen der Senat beziehungsweise die zuständigen Behörden gewährleisten, dass diese ehemaligen Kategorie-I-Delikte künftig stets angezeigt werden? 4. Halten der Senat beziehungsweise die zuständigen Behörden KategorieII -Delikte wie a. Einfache Körperverletzung, b. Diebstahl, c. Tierquälerei, d. Schwerer Fall der Sachbeschädigung, e. Schwerer Fall der Beleidigung, f. Politisch motivierte Straftaten bei Kindern und Jugendlichen für sozialadäquates Verhalten? Falls nicht, weshalb sollen auch diese Delikte nicht mehr verbindlich gemeldet werden? Siehe Vorbemerkung. 5. Was genau sieht die Verwaltungsvorschrift zur Meldung Besonderer Vorkommnisse vor? Jede Schulleitung informiert ihre zuständige Schulaufsicht über Vorfälle, Ereignisse beziehungsweise relevante Sachverhalte, die gegebenenfalls das Wohlergehen Einzelner oder der gesamten Schulgemeinschaft betreffen und/oder den Schulalltag kurzfristig oder nachhaltig beeinträchtigen. Im Gespräch berät die Schulaufsicht die Schulleitungen über die Einleitung weiterer Maßnahmen, inklusive der Einschaltung der Polizei (siehe auch Drs. 21/1599). Im Detail siehe unter: http://www.schulrecht.hamburg.de/jportal/portal/t/1fs7/bs/18/page/sammlung.psml;jses sionid=CE47B08E6D3B8373D49A1D5DD59CC250.jp10?doc.hl=1&doc.id=VVHAVVHA 000000106&documentnumber=4&numberofresults=4&doctyp=vvhhschulr&sho wdoccase=1&doc.part=F¶mfromHL=true#focuspoint.