BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/2168 21. Wahlperiode 17.11.15 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Richard Seelmaecker (CDU) vom 10.11.15 und Antwort des Senats Betr.: Suizide und Todesfälle in Hamburgs Justizvollzugsanstalten Erneut hat sich in der Nacht von Sonntag, den 08.11.2015, auf Montag, den 09.11.2015, ein Insasse in der Untersuchungshaftanstalt das Leben genommen . Mitarbeiter der UHA fanden den 56-jährigen Gefangenen aus Lübeck bei der morgendlichen Kontrolle leblos vor. Laut Angaben der Justizbehörde war er ohne festen Wohnsitz und hinterlässt keine Angehörigen. Erst vor rund zwei Wochen hatte bereits ein weiterer Insasse der UHA Suizid begangen. In diesem Zusammenhang wies der Senator in einer Pressemitteilung darauf hin, dass seine Justizbehörde „seit dem Sommer 2010 bestehende Maßnahmen zur Suizidprävention ergänzt und in den folgenden Jahren weiterentwickelt hat. Anlass waren mehrere Suizide im Hamburger Justizvollzug in jenem Jahr. So sind in den Justizvollzugsanstalten gefährdungsarme Hafträume eingerichtet worden, um in Fällen latenter Suizidalität neben der Unterbringung in einem Beobachtungshaftraum oder der Unterbringung in einem der üblichen Hafträume über eine weitere Option zu verfügen. Die Beurteilung einer neu aufgetretenen oder anhaltenden Suizidgefährdung erfolgt nach dem „Vier-Augen-Prinzip“ mit einer psychologischen Fachkraft und einem vollzugserfahrenen Bediensteten. Außerdem wurde die Erreichbarkeit des psychologischen Dienstes erweitert, um Gefangene in suizidalen Krisen auch an Wochenenden und Feiertagen psychologisch betreuen zu können.“ Seit Beginn dieser Legislaturperiode starben zuvor bereits vier weitere Gefangene in Hamburger Justizvollzugsanstalten. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Der in der Anfrage erwähnte Gefangene verbüßte in der Justizvollzugsanstalt Lübeck eine Freiheitsstrafe wegen Körperverletzung von einem Jahr und sechs Monaten. In der Untersuchungshaftanstalt befand er sich seit dem 04.11.2015, weil am 5.11.2015 seine Hauptverhandlung wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte begann. Auf diesen Termin sollten noch sechs weitere Verhandlungstage in diesem Jahr folgen . Zur näheren Ausgestaltung der Praxis bei Überstellungen siehe Antwort zu 5. 1. Waren Anzeichen von Depressionen, Ängsten oder psychischen Beeinträchtigungen bei dem Gefangenen, der sich in der Nacht vom 8. auf den 9. November 2015 erhängte, zu erkennen? Falls ja, welche Maßnahmen wurden daraufhin wann von wem eingeleitet ? Nein. Drucksache 21/2168 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 2. Ist bekannt, ob der Gefangene betäubungsmittelabhängig war? Darüber liegen keine Erkenntnisse vor. 3. Hat die Untersuchungshaftanstalt aus der JVA Lübeck Informationen über den psychischen oder physischen Zustand des Gefangenen erhalten ? Nein. 4. Der Gefangene hatte weder einen Wohnsitz noch Angehörige. Gab es eine Begutachtung nach dem „Vier-Augen-Prinzip“ mit einer psychologischen Fachkraft und einem vollzugserfahrenen Bediensteten? Falls nein, weshalb nicht? Eine solche Begutachtung findet für überstellte Gefangene nur bei Auffälligkeiten statt, die in diesem Fall nicht vorlagen. Siehe im Übrigen Antwort zu 5. 5. Welche Maßnahmen zur Verhinderung von Suiziden werden in den Hamburger Justizvollzugsanstalten schon bei Inhaftierung eines Gefangenen ergriffen und welche Informationen werden über Gefangene, die aus anderen Vollzugsanstalten nach Hamburg kommen, regelhaft angefordert ? Zur Prüfung der Suizidgefahr wird im Rahmen des Aufnahmegesprächs in der Zuführungsabteilung der Untersuchungshaftanstalt mit jedem/r aufgenommenen Gefangenen ein spezielles Suizid-Screening, gegebenenfalls mit Beteiligung des Psychologischen oder Medizinischen Dienstes, durchgeführt. Dieses Suizidscreening ist ein speziell für die Abläufe und Erfordernisse der Untersuchungshaftanstalt entwickeltes Verfahren und wird im hamburgischen Justizvollzug dementsprechend nur in der Untersuchungshaft durchgeführt. Zudem werden in der Untersuchungshaftanstalt bei Gefangenen, die unter Umständen einem erhöhten Suizidrisiko unterliegen, weil ihnen schwerwiegende Straftaten wie beispielsweise ein Tötungs- oder Sexualdelikt oder eine Brandstiftung zur Last gelegt werden, grundsätzlich unmittelbar nach der Aufnahme besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet. Auch Strafgefangene, die der Untersuchungshaftanstalt zugeführt werden, weil sie aus dem offenen Vollzug insbesondere wegen des Verdachts neuer Straftaten herausgenommen wurden, werden nach der Zuführung zunächst im Kriseninterventionszentrum der Untersuchungshaftanstalt untergebracht. Bei Rückverlegungen aus dem offenen Vollzug direkt in den geschlossenen Vollzug wird in den Justizvollzugsanstalten ebenfalls die Suizidgefahr geprüft und werden im Zweifel bis zur vollständigen Abklärung des Sachverhalts die erforderlichen Sicherungs- und Beobachtungsmaßnahmen angeordnet. Besondere Sicherungsmaßnahmen werden darüber hinaus in der Untersuchungshaftanstalt regelmäßig bei Personen angeordnet, die sich bei der Aufnahme im Alkoholoder Drogenentzug befinden oder die aktuell psychiatrisch-neurologisch behandelt werden. In allen Hamburger Justizvollzugsanstalten wird darüber hinaus grundsätzlich unverzüglich nach der Aufnahme ein Aufnahmegespräch geführt. In diesem Gespräch sowie im Rahmen der medizinischen Aufnahmeuntersuchung und folgend im Zugangsgespräch mit der Vollzugsabteilungsleitung wird besonders geprüft, ob es Anhaltspunkte für eine Suizidgefährdung gibt. Bei einer akuten Suizidgefährdung werden zudem grundsätzlich besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet. Ergeben sich aus den Gesprächen, dem Verhalten der Gefangenen oder den vorliegenden schriftlichen Unterlagen Hinweise auf eine Suizidgefährdung, wird nach dem „VierAugen -Prinzip“ über weitere Maßnahmen entschieden. Zu den weitergehenden suizidpräventiven Maßnahmen, die in allen Hamburger Justizvollzugsanstalten angeordnet werden, können insbesondere Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen des Medizinischen und/oder Psychologischen Dienstes, gezielte Freizeitangebote, die Zuweisung von Arbeit, die Beschaffung eines Fernseh- Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/2168 3 gerätes, eines Radios oder von Büchern sowie die Förderung sozialer Kontakte zu anderen Gefangenen und von Außenkontakten gehören. Gefangene, die im Zuge einer Überstellung oder eines Transports in der Untersuchungshaftanstalt untergebracht sind, werden nicht zum Vollzug einer Freiheitsentziehung aufgenommen (Vollzugsgeschäftsordnung, Zweiter Teil, Aufnahmeverfahren). In solchen Fällen wird auf eine mögliche Suizidgefährdung reagiert, wenn sich diese aus den beigefügten Unterlagen oder akuten Verhaltensauffälligkeiten der/des Gefangenen ergeben. Informationen über Gefangene, die nur vorübergehend in eine Anstalt eines anderen Landes überstellt werden (zum Beispiel zur Wahrnehmung eines Gerichtstermins, zur Aufnahme in einem Vollzugskrankenhaus, zur Weiterleitung an andere Anstalten), werden von der vorübergehend zuständigen Anstalt grundsätzlich nicht gesondert angefordert. Vielmehr werden sie auf der Grundlage der Regelungen der bundeseinheitlichen Vollzugsgeschäftsordnung (VGO) vom abgebenden Land bei der Verlegung des Gefangenen mit übersandt. Gemäß Nummer 36 VGO ist bei einer Überstellung regelhaft ein Transportschein sowie ein Personal- und Vollstreckungsblatt (Daten zur Person und zur Inhaftierung) mitzugeben. Die Gefangenenpersonalakte verbleibt in der Stammanstalt des ursprünglich zuständigen Landes. Auf dem Transportschein gibt es Angaben zu folgenden Bereichen: persönliche Daten, Grund des Transportes, Transportweg, Verpflegung während des Transportes, Sicherungsmaßnahmen (während des Transportes und für Vorführungen bei Gericht), Trennungen von anderen Gefangenen, Hinweise und Warnungen (zum Beispiel in Bezug auf Betäubungsmittelabhängigkeit, Gewalttätigkeit) und zum Gesundheitszustand. Vor Beginn eines Transportes muss ein Arzt die Transportfähigkeit bescheinigen, außerdem werden Angaben zu Arzneimitteln gemacht, die dem Gefangenen verordnet wurden . 6. Wann und von wem wurde der Gefangene zuletzt lebend gesehen? Der Gefangene wurde lebend zuletzt am Abend des 8. November 2015 bei der Abendessenausgabe um circa 16.40 Uhr von dem Stationsbeamten gesehen. 7. Justizsenator Steffen wies auf die seit dem Sommer ergänzten Maßnahmen zur Suizidprävention hin, die in den Folgejahren weiterentwickelt wurden. a. Wie hat sich die Anzahl der Suizide, Suizidversuche und natürlichen Todesfälle seit dem Jahr 2009 in den einzelnen Justizvollzugsanstalten entwickelt? Bitte pro Jahr und JVA darstellen. JVA Billwerder Fuhlsbüttel Glasmoor Hahnöfer - sand Sozialthera - peutische Anstalt Untersu - chungs haftanstalt Gesamt 2009 Suizidversu - che 1 3 1 3 8 Suizide 2 2 natürliche Todesfälle 1 1 1 4 7 2010 Suizidversu - che 1 5 6 Suizide 2 1 3 natürliche Todesfälle 1 1 1 3 Drucksache 21/2168 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 JVA Billwerder Fuhlsbüttel Glasmoor Hahnöfer - sand Sozialthera - peutische Anstalt Untersu - chungs haftanstalt Gesamt 2011 Suizidversu - che 3 2 1 6 Suizide 2 2 natürliche Todesfälle 1 1 2012 Suizidversu - che 3 2 1 10 16 Suizide 1 2 3 natürliche Todesfälle 1 1 2 4 2013 Suizidversu - che 1 2 3 Suizide 1 1 natürliche Todesfälle 1 1 2014 Suizidversu - che 1 2 4 7 Suizide 0 natürliche Todesfälle 1 1 1 3 2015 bis 9.11. Suizidversu - che 1 1 1 4 7 Suizide 2 2 natürliche Todesfälle 2 1 1 2 6 b. Welche Maßnahmen zur Suizidprävention wurden konkret seit dem Jahr 2010 entwickelt? Sicherstellung der psychologischen Versorgung von Gefangenen auch am Wochenende und an Feiertagen, Einführung des „Vier-Augen-Prinzips“ bei der Beurteilung einer Suizidgefährdung, Teilnahme einer externen Fachkraft an der Nachbesprechung von Suiziden in Suizidkonferenzen , Schaffung gefährdungsarmer Hafträume in den Justizvollzugsanstalten Billwerder, Fuhlsbüttel, Hahnöfersand, der Sozialtherapeutischen Anstalt Hamburg und der Untersuchungshaftanstalt, Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/2168 5 Festlegung von Standards für den Umgang mit Gefangenen, die die Aufnahme von Nahrung verweigern, unter Berücksichtigung möglicher suizidaler Entwicklungen, Verbesserung der Unterbringungsbedingungen in der Untersuchungshaftanstalt durch die Modernisierung des A-Flügels, Absprache der Untersuchungshaftanstalt mit der Hamburger Arbeitsgemeinschaft der Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger über die Informationswege bei Hinweisen auf eine besondere psychische Belastung von Untersuchungsgefangenen, Ausweitung der Kontaktmöglichkeiten der Gefangenen untereinander sowie der Freizeitangebote in der Untersuchungshaftanstalt durch erweiterte Umschluss- und Aufschlusszeiten, zusätzliche Gemeinschaftsräume für Freizeitaufenthalte der Gefangenen, die Einrichtung von Gruppenfernsehräumen in der Station D4, die Ausweitung des Angebotes für Leih- und Mietfernseh- oder Radiogeräte, zusätzliche Freizeitgruppen sowie die Ausweitung des Sportangebotes durch die Einrichtung eines neuen Dienstpostens „Sportbeamter“, Weitere Differenzierung des Aufnahmeverfahrens der Untersuchungshaftanstalt durch die Einführung eines Suizidscreenings unmittelbar nach der Aufnahme in den Vollzug, Erweiterung der psychiatrischen Versorgung in der Untersuchungshaftanstalt durch die Kooperation mit der Forensischen Klinik der Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll, Verbesserung der Unterbringungsbedingungen in der Untersuchungshaftanstalt durch eine umfassende Sanierung des B-Flügels. c. Wie und durch wen wird gewährleistet, dass diese auch angewandt werden? Die Einhaltung und Umsetzung der bei der Suizidprävention zur Anwendung kommenden gesetzlichen Regelungen, Vorschriften und Maßnahmen werden im Rahmen der Aufsicht über die Vollzugsanstalten von der zuständigen Behörde geprüft. Grundlagen dafür sind ein schriftlicher Bericht der Justizvollzugsanstalt über das Ereignis, Gespräche mit der Anstaltsleitung und anderen Bediensteten nach den Erfordernissen des Einzelfalls sowie immer eine Suizidkonferenz mit der Beteiligung einer externen Fachkraft. Die Anstaltsleiterin oder der Anstaltsleiter trägt nach den einschlägigen Gesetzen die Verantwortung für den gesamten Vollzug, soweit nicht bestimmte Aufgabenbereiche der Verantwortung anderer Bediensteter oder ihrer gemeinsamen Verantwortung übertragen sind.