BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/2247 21. Wahlperiode 20.11.15 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Deniz Celik (DIE LINKE) vom 13.11.15 und Antwort des Senats Betr.: Psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung der Flüchtlinge an den Standorten der ZEA und im Regelsystem Nach Experten-/-innenschätzungen leiden 50 – 60 Prozent der Flüchtlinge unter Posttraumatischen Belastungsstörungen. Darüber hinaus sind die Schutz suchenden Menschen in den Unterkünften auch von weiteren psychischen Erkrankungen betroffen. Viele leiden an Schlafstörungen, Depressionen , Suizidalität. Betroffen sind alle Altersgruppen – vom Kleinkind bis zum Erwachsenen. Die notdürftige, prekäre Unterbringung verstärkt zudem die Symptome, unter denen die Menschen leiden. Dies auch vor dem Hintergrund fehlender oder nicht ausreichender psychiatrischer und psychotherapeutischer Angebote. Sie benötigen nicht nur medizinische Versorgung, sondern gleichermaßen auch psychiatrische und psychologische Betreuung. Ohne die entsprechenden Angebote befinden sich die Betroffenen in einer permanenten Notsituation , die nachhaltige Folgen auf ihre weitere Entwicklung haben kann. Nach wie vor werden die bestehenden psychotherapeutischen Angebote in vielen Unterkünften von engagierten Psychiatern/-innen und Psychotherapeuten /-innen ermöglicht, die sich ehrenamtlich betätigen. Trotz dieses anzuerkennenden Einsatzes ist es auch wichtig sichtbar zu machen und zu problematisieren , wenn zum Beispiel eine Fachkraft nicht die richtige oder entsprechende Ausbildung/Qualifikation für die psychotherapeutische Arbeit mitbringt , da zum Beispiel die Therapeuten-/-innenausbildung noch nicht abgeschlossen ist oder eine notwendige Zusatzausbildung nicht vorhanden ist, sie somit ungeeignet ist. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Belastbare Erkenntnisse zu der Anzahl von posttraumatischen Belastungsstörungen bei Flüchtlingen liegen den zuständigen Behörden nicht vor. Trauma-Folgestörungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen stellen komplexe Reaktionen auf traumatisierende Erlebnisse dar. Aufgrund diverser Erscheinungs - und Ausprägungsformen, hoher Komorbidität und einzelfallbezogen unterschiedlicher Krankheitsverläufe erfordern Diagnostik und Therapie zeitaufwändige und komplexe Verfahren, die in der Regel während des befristeten Zeitraums der Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen nicht in der nach wissenschaftlichem Stand geforderten Weise erfolgen können. Eine leitliniengerechte Therapie diagnostisch abgesicherter Trauma-Folgestörungen beziehungsweise posttraumatischer Belastungsstörungen wird notwendigerweise eher während des Zeitraums der Folgeunterbringung im Rahmen der Regelversorgung erfolgen, wenn eine gewisse Stabilität in Drucksache 21/2247 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Lebenssituation und Umfeld der betroffenen Flüchtlinge eingetreten ist, in welcher die entsprechende Symptomatik zumeist erst in vollem Umfang auftritt und deutlich wird. Folglich beschränken sich psychiatrische Sprechstunden in Erstaufnahmeeinrichtung über Maßnahmen der Krisenintervention hinaus sich auf die Identifikation psychischer Auffälligkeiten beziehungsweise Störungen, erste diagnostische Einschätzungen sowie Beratung und erforderlichenfalls Vermittlung in weiterführende fachärztliche Behandlung beschränken. Zur weiteren Feststellung und Behandlung etwaiger psychischer Erkrankungen stehen Flüchtlingen in Hamburg grundsätzlich alle Einrichtungen der psychiatrischen beziehungsweise kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung in Hamburg sowie alle niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapeutinnen und -therapeuten zur Verfügung. Die Möglichkeiten der Behandlung unterliegen gegebenenfalls den Beschränkungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG). Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen, teilweise auf der Grundlage von Auskünften der Asklepios Kliniken Hamburg GmbH, wie folgt: 1. Welche psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungsangebote bestehen in den Unterkünften der ZEA aktuell? Wie hoch ist die Anzahl des im Versorgungsangebot eingesetzten ehrenamtlichen sowie entlohnten Fachpersonals (Bitte nach ZEA-Standort, Anzahl des Personals und nach Bezahlung aufschlüsseln – ob oder nicht und in welcher Höhe sowie durch wen oder was bezahlt) a) Welchen Fachrichtungen gehören sie jeweils an und über welche Qualifikationen verfügen sie? b) In welche Organisationen und Einrichtungen sind die ehrenamtlich und nicht ehrenamtlich tätigen Psychiater/-innen und Psychotherapeuten /-innen eingebunden (Kliniken, niedergelassene Praxen, Hilfsorganisationen)? c) Wie hoch ist die Anzahl der nicht organisierten ehrenamtlich Tätigen ? d) Wie sind die Angebote zeitlich bemessen? (Bitte alle Angaben nach Unterkunft aufschlüsseln.) 2. Laut Medienberichten werden in Kooperation mit Hamburger Kliniken die psychiatrischen Sprechstunden ausgebaut. a) In welchen ZEA werden die psychiatrischen Sprechstunden bereits angeboten? Krankenhäuser mit psychiatrischen Fachabteilungen vor Ort bieten psychiatrische Sprechstunden in Erstaufnahmeeinrichtungen an. Eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung im Sinne der Vorbemerkung erfolgt nicht ehrenamtlich. In folgenden Erstaufnahmeeinrichtungen werden psychiatrische Sprechstunden im Sinne der Vorbemerkung angeboten: Dratelnstraße, Holstenhofweg, Schnackenburgallee, Schwarzenbergstraße, Sportallee. b) Welches Fachpersonal aus welchen Kliniken wird eingesetzt? (Bitte nach ZEA-Standorten aufschlüsseln.) Die Asklepios Klinik Nord setzt an den Standorten Holstenhofweg und Sportallee Ärztinnen beziehungsweise Ärzte sowie Psychologinnen beziehungsweise Psychologen ein. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/2247 3 Das Asklepios Westklinikum Hamburg setzt am Standort Schnackenburgallee Ärztinnen beziehungsweise Ärzte ein. Das Asklepios Klinikum Harburg setzt an den Standorten Dratelnstraße und Schwarzenbergstraße einen Arzt und eine medizinische Fachangestellte ein. c) Zu welchen Zeiten finden die psychiatrischen Sprechstunden statt? (Bitte nach ZEA-Standorten aufschlüsseln.) Dratelnstraße: 4 Stunden pro Woche Holstenhofweg: 1,5 Stunden alle 14 Tage Schnackenburgallee: 4,5 Stunden pro Woche Schwarzenbergstraße: 4 Stunden pro Woche Sportallee: 3 Stunden pro Woche d) An welchen weiteren ZEA-Standorten und zu welchem Zeitpunkt werden in den Einrichtungen psychiatrische Sprechstunden geplant? Derzeit wird die Einrichtung einer psychiatrischen Sprechstunde des Asklepios Westklinikums Hamburg in der Erstaufnahmeeinrichtung Rugenbarg vorbereitet. Die Sprechstunde soll möglichst noch im Verlauf des Monats November aufgenommen werden. Darüber hinaus sind die Asklepios Klinik Nord und das Asklepios Klinikum Harburg nach Möglichkeit bereit, im Bereich ihres regionalen Pflichtversorgungssektors weitere psychiatrische Sprechstunden in Erstaufnahmeeinrichtungen anzubieten. 3. In welcher Form sind die Sozialpsychiatrischen Dienste in die psychologische und psychiatrische Versorgung der Flüchtlinge in den ZEA eingebunden ? Die Sozialpsychiatrischen Dienste (SpD) sind im Rahmen der üblichen Dienstzeiten zuständig für Kriseninterventionen und die Beurteilung, ob jemand nach § 12 des Hamburgischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten aufgrund akuter Eigen- oder Fremdgefährdung gegen seinen Willen geschlossen in einem psychiatrischen Krankenhaus oder der psychiatrischen Fachabteilung eines Krankenhauses untergebracht werden muss. Außerhalb der üblichen Dienstzeiten ist hierfür der Zentrale Zuführdienst beim Bezirksamt Altona zuständig, welcher einen Psychiatrischen Notdienst beinhaltet. Eine medizinische oder psychotherapeutische Behandlung gehört nicht zu den Aufgaben der SpD. Bei Bedarf werden vom SpD auch Stellungnahmen für Maßnahmen nach dem AsylbLG bearbeitet. 4. Wie wird gewährleistet, dass geeignete Dolmetscher/-innen in allen erforderlichen Sprachen und in ausreichender Anzahl eingesetzt werden ? (Bitte nach Unterkunft, Anzahl, Arbeitssprache(n), Arbeitszeiten, Honorar und Qualifikation aufschlüsseln.) Aufgrund der vorhandenen Fremdsprachenkenntnisse des Sozial-Unterkunftsmanagements , des Sicherheitsdienstes und der Bewohnerinnen und Bewohner, die sich gegebenenfalls als Sprachmittler zur Verfügung stellen, ist eine Verständigung in der Regel gewährleistet. Soweit darüber hinaus erforderlich, werden geeignete Dolmetscherinnen und Dolmetscher eingesetzt. Die hierzu im Einzelnen erbetenen Auskünfte müssten über das Sozial- und Unterkunftsmanagement der einzelnen dezentralen 31 Standorte der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung (ZEA) ermittelt werden. Um in der aktuellen Situation die Aufnahme und Versorgung aller ankommenden Flüchtlinge gewährleisten zu können, sind alle zur Verfügung stehenden Personalressourcen in den betroffenen Aufgabenbereichen dergestalt eingebunden, dass die zur Beantwortung dieser Fragestellungen erforderlichen Auswertungen nur durch Zurückstellen von Aufgaben zur Flüchtlingsunterbringung und -versorgung vorgenommen werden könnten. Bei dieser Sachlage ist eine detailliertere Beantwortung zurzeit nicht zu leisten. Drucksache 21/2247 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 Im Übrigen siehe Drs. 21/1511 und 21/1704. 5. Gibt es eine Koordinierung des ehrenamtlichen psychiatrischen und psychotherapeutischen Angebots von behördlicher Seite? Wenn ja, von welcher Stelle und in welcher Weise wird sie durchgeführt? Wenn nein, warum nicht? 6. § 6 AsylbLG sieht vor, eine psychotherapeutische Versorgung nur in Fällen zu gewähren, in denen Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt vorliegen. a) Welche Möglichkeiten der psychotherapeutischen Hilfe im Regelsystem haben Flüchtlinge, bei denen diese Bedingungen nicht vorliegen , die aber dennoch psychisch erkrankt sind? Flüchtlinge, die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG beziehen, werden in Hamburg durch eine Krankenkasse (AOK Bremen/Bremerhaven) gemäß § 264 Absatz 1 SGB V betreut. Diese Menschen können probatorische Sitzungen – wie Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – über die elektronische Gesundheitskarte in Anspruch nehmen. Kurzzeitpsychotherapien können von der AOK Bremen/ Bremerhaven unter den Leistungsvoraussetzungen der GKV bewilligt werden. Langzeitpsychotherapien können von der AOK Bremen/Bremerhaven bewilligt werden, wenn zum einen die Leistungsvoraussetzungen der GKV erfüllt sind und zum anderen von den Grundsicherungs- und Sozialdienststellen unter Beteiligung der Gesundheitsämter bestätigt wird, dass eine Kostenübernahme unter den Voraussetzungen von § 4 oder § 6 AsylbLG möglich ist. Die in der Frage genannten Voraussetzungen beziehen sich auf die gesetzliche Regelung in § 6 Absatz 2 AsylbLG, nach der Flüchtlingen, die eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 Absatz 1 AufenthG besitzen und die besondere Bedürfnisse haben, wie beispielsweise unbegleitete Minderjährige oder Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe gewährt wird. In diesen Fällen kann im Einzelfall die Bewilligung einer beantragten Langzeitpsychotherapie über § 6 Absatz 2 AsylbLG in Betracht kommen. Darüber hinaus kommt eine Bewilligung von Langzeitpsychotherapien im Einzelfall auch über § 6 Absatz 1 SGB V in Betracht, soweit die Behandlung zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich ist. In besonderen Ausnahmefällen käme auch eine Bewilligung einer Langzeitpsychotherapie nach § 4 Absatz 1 Satz 1 AsylbLG infrage, wenn eine akute Behandlungsnotwendigkeit im Sinne von § 4 AsylbLG die Behandlung erforderlich macht, sodass akute Erkrankungen oder Schmerzzustände kuriert werden können. Flüchtlinge, die Ansprüche nach dem SGB II, SGB VIII, SGB XII oder § 2 AsylbLG haben, werden über eine Krankenkasse im Leistungsrahmen der GKV versorgt, entweder im Rahmen einer Mitgliedschaft bei einer Krankenversicherung oder im Rahmen einer Krankenversorgung gemäß § 264 Absatz 2 SGB V. Diese Personen können Psychotherapien unter den Leistungsvoraussetzungen der GKV in Anspruch nehmen. b) Gibt es in der Stadt Hamburg eine auf Folteropfer und Opfer von Kriegsgewalt spezialisierte Behandlungseinrichtung beziehungsweise ein Therapiezentrum? Wenn ja, welche fachlichen Qualifikationen mit welcher Anzahl von eingestelltem Fachpersonal befähigen diese Einrichtung zu ihrer Arbeit? Falls nein, warum nicht, angesichts der Tatsache, dass die Arbeit mit Folteropfern und Opfern von Kriegsgewalt eine höhere fachliche Qualifikation , Spezialisierung und Erfahrung benötigt, als die allgemeinen Psychotherapien aufweisen? Für minderjährige und junge erwachsene Flüchtlinge, die in Folge von Krieg, Verfolgung und organisierter Gewalt ihr Heimatland verlassen mussten und nun in Hamburg leben, steht mit der „Flüchtlingsambulanz für Kinder und Jugendliche“ des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf ein spezialisiertes psychiatrisches und psychothe- Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/2247 5 rapeutisches Versorgungsangebot zur Behandlung der Trauma-Folgen zur Verfügung. Die Einrichtung wird von der Freien und Hansestadt Hamburg durch die Finanzierung von Dolmetscherkosten unterstützt. In der Flüchtlingsambulanz für Kinder und Jugendliche sind zehn Beschäftigte tätig (drei Psychotherapeuten/-innen, ein/e Kinder- und Jugendpsychiater/-in, ein/e Psychotherapeut /-in in Ausbildung, ein/e Kunsttherapeut/-in, zwei Sozialpädagogen/ -innen, zwei medizinische Fachangestellte).