BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/3039 21. Wahlperiode 02.02.16 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Daniel Oetzel und Jennyfer Dutschke (FDP) vom 27.01.16 und Antwort des Senats Betr.: Verfahren zur Altersfeststellung bei minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen. Welche Rolle spielt der Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB)? § 42 f SGB VIII regelt das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung. Gemäß § 42 f Absatz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme der ausländischen Person gemäß § 42a SGB VIII deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen. Auf Grundlage der in einem Aufnahmegespräch ermittelten Informationen wird eine Altersfeststellung vorgenommen. Ist das Alter ohne Zweifel unter 18 Jahre, wird die Alterseinschätzung von mindestens zwei pädagogischen Fachkräften oder mindestens einer sozialpädagogischen Fachkraft und einer in der Sache kundigen Verwaltungskraft vorgenommen. Die mit der Altersschätzung beauftragten Fachkräfte besitzen in der Regel langjährige Berufserfahrung im Umgang mit jungen Menschen. Das Anforderungsprofil für die sozialpädagogischen Fachkräfte enthält mindestens folgende Merkmale: - staatliche Anerkennung und langjährige Berufserfahrung in der Kriseninterventionsarbeit oder gleichwertige Fachkenntnisse, - Erfahrungswissen in der sozialpädagogischen Arbeit mit jungen Menschen. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: 1. Wer nimmt erstmals eine Alterseinschätzung von Personen vor, die angeben minderjährige unbegleitete Flüchtlinge zu sein, aber keine Ausweispapiere vorlegen können? Die Altersfeststellung findet im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII statt. Die in Hamburg hierfür zuständige Stelle ist der KJND. Die Altersfeststellung wird im Regelfall von Mitarbeitern/-innen des Fachdienstes Flüchtlinge, außerhalb deren Dienstzeiten auch von Mitarbeitern/-innen des ambulanten Notdienst des KJND durchgeführt. 2. Wie und durch wen erfolgt die Einteilung in die Entscheidungsfälle (vergleiche Drs. 21/816): „unter 18 ohne Zweifel“, mindestens 18 ohne Zweifel “ beziehungsweise „offenkundig Zweifel an der Minderjährigkeit“ und nach welchen Kriterien erfolgt diese Ersteinschätzung? Zur Altersfeststellung werden die folgenden, in einem umfangreichen Aufnahmegespräch ermittelten Informationen herangezogen: Drucksache 21/3039 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 vorgelegte Dokumente zum Identitätsnachweis, soweit diese nicht offensichtlich für diesen Zweck untauglich sind, also die Identität und damit das Alter glaubhaft feststellen lassen. Die äußere Erscheinung, insbesondere deutlich postpubertäre Körpermerkmale, soweit diese im Rahmen einer Inaugenscheinnahme ohne Entkleiden oder Anwendung besonderer Untersuchungsmethoden erkennbar sind, sowie biografische Fakten wie altersmäßige Einordnung in die Familienkonstellation, eigene Elternschaft, zeitliche Lage und Dauer eines Schulbesuchs, einer Arbeitstätigkeit oder ähnlicher Lebensphasen. 3. Gibt es einen Kriterienkatalog im LEB zur Altersbestimmung minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge? a. Wenn ja: Welche Kriterien sind das? Gibt es Formulare beziehungsweise Vordrucke, die die Mitarbeiter beziehungsweise die Antragsteller ausfüllen beziehungsweise ankreuzen? Wie erfolgt gegebenenfalls die Gewichtung der Kriterien? b. Wenn nein, auf welcher sonstigen Grundlage erfolgt die Altersschätzung durch die Mitarbeiter des LEB? Zur Dokumentation der vorläufigen Inobhutnahme wird ein Formular genutzt, das die anzusprechenden Inhalte des Aufnahmegesprächs aufzeigt. Hierzu gehören neben Fragen und Einschätzungen zu Identität, Lebensgeschichte, Flucht und Einreise, Familienangehörige (insbesondere im Inland) auch die Dokumentation der körperliche Entwicklungsmerkmale und des Erscheinungsbildes wie ausgeprägte Stirnfalten, ergraute Haare, ausgeprägte Halsfalten, Bartwuchs, Stimmlage sowie Hinweise bezüglich eines sicheren Auftretens und der Äußerung klarer gereifter (Lebens-)Perspektiven. Grundsätzlich werden alle Ergebnisse in die abschließende Bewertung einbezogen. Eine vorgegebene Gewichtung gibt es nicht, da im Einzelfall bestimmte Informationen aus sich heraus ein hohes Gewicht erhalten. So haben beispielsweise Ausweispapiere , wenn sie gültig und glaubhaft sind, eine hohe Beweiskraft und damit für die Alterseinschätzung ein hohes Gewicht. c. Wird der Begriff „gereifter Gesamteindruck“ bei der Altersschätzung verwendet? Wenn ja, was bedeutet dieser Ausdruck? Wie wirkt sich dieses Kriterium auf die Altersfeststellung aus? d. Wird der Begriff „postpubertärer Körperbau“ bei der Altersschätzung verwendet? Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/3039 3 Wenn ja, was bedeutet dieser Ausdruck? Wie wirkt sich dieses Kriterium auf die Altersfeststellung aus? Welche medizinisch/wissenschaftliche Herkunft hat dieser Begriff? In den Ablehnungsbescheiden werden unterschiedliche Begriffe bezüglich der Wahrnehmung des äußeren Erscheinungsbildes und der persönlichen Reife verwendet. Der Begriff „gereifter Gesamteindruck“ meint in diesem Zusammenhang insbesondere ein Zusammentreffen eines sicheren zielgerichteten Auftretens mit Merkmalen eines postpubertären Körperbaus. Der Begriff „postpubertärer Körperbau“ ist an den Begriff der Pubertät aus der Entwicklungsphysiologie angelehnt. Danach ist bei einem postpubertären Körperbau die Entwicklung über die Geschlechtsreife hinaus zu einem körperlichen Entwicklungsstand eines erwachsenen Menschen erfolgt. Der verwendete Begriff drückt daher den Gesamteindruck aus, der durch Einzelwahrnehmungen wie Bartwuchs oder starke Körperbehaarung, Körpergröße und Größe der Gliedmaßen mitbestimmt wird. Die Bewertung des äußeren Erscheinungsbildes kann dazu führen, dass die von der Person gemachte Altersangabe in Zweifel gezogen werden muss. 4. Werden körperliche Inaugenscheinnahmen der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge durch Mitarbeiter des LEB vorgenommen? Wenn ja, in welchem Umfang und warum? Die Inaugenscheinnahme erfolgt im Rahmen der Anforderungen des § 42 f SGB VIII durch zwei Mitarbeiter des KJND unter Hinzuziehung eines Dolmetschers. Die Inaugenscheinnahme erfolgt ohne Entkleiden oder Anwendung besonderer Untersuchungsmethoden . 5. Wer muss beziehungsweise darf beziehungsweise kann außer den Minderjährigen und den Mitarbeitern des LEB zwecks Altersschätzungen an dem Aufnahmegespräch teilnehmen? a. Muss an jedem Aufnahmegespräch ein/e Dolmetscher/in zugegen sein? Wenn nein, warum nicht? b. Ist der/die Dolmetscher/in auch bei der körperlichen Inaugenscheinnahme anwesend? Wenn ja, wie wird die Intimsphäre der minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlinge geschützt? Wenn nein, warum nicht? Siehe Antwort zu 4. 6. Wie viele Mitarbeiter beim LEB sind berechtigt eine Altersschätzung durchzuführen? a. Welchen beruflichen Hintergrund haben diese Mitarbeiter im Einzelnen ? b. Wie viele dieser Mitarbeiter sind sogenannte kundige Verwaltungskräfte ? c. Wie wird man zur „kundigen“ Verwaltungskraft für Altersschätzungen bei minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen aus verschiedenen Auslandsstaaten? d. Welche Voraussetzungen muss eine „kundige“ Verwaltungskraft für Altersschätzungen bei minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen beim LEB erfüllen? e. Welche Aufgaben erfüllt eine „kundige“ Verwaltungskraft im Aufgabenbereich der Altersschätzungen? f. Gibt es Fortbildungsmaßnahmen beziehungsweise Studienabschlüsse , die eine „kundige“ Verwaltungskraft zusätzlich nachwei- Drucksache 21/3039 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 sen muss, um eine Altersschätzung zusammen mit einer sozialpädagogischen Fachkraft vornehmen zu können? Zurzeit sind 32 Mitarbeiter im LEB mit der Altersfeststellung betraut. 31 Mitarbeiter verfügen über eine pädagogische Qualifikation. Eine Mitarbeiterin ist eine kundige Verwaltungskraft. Diese verfügt über eine Verwaltungsausbildung und Berufserfahrung in diesem Arbeitsfeld, die verwaltungstechnische Vorbereitung von medizinischen Altersfeststellungsverfahren, deren Begleitung und Kenntnisnahme der individuellen , gutachterlichen Einschätzungen sowie Widerspruchs- und Klageverfahren in dieser Sache. Sie führt gemeinsam mit einer pädagogischen Fachkraft Aufnahmegespräche und prüft gegebenenfalls vorgelegte Ausweisdokumente. Am Ende des Gesprächs werden die Erkenntnisse gemeinsam zu einer Entscheidung verdichtet. g. Sind Fälle bekannt, in denen die Altersschätzung der mindestens zwei Mitarbeiter/-innen nicht einvernehmlich erfolgte? Wenn ja, wie wird dieser Konflikt gelöst? In Fällen, in denen keine übereinstimmende Einschätzung besteht, wird der Fall als Zweifelsfall bewertet. h. Sind außer den Mitarbeitern des LEB und des UKE noch andere berechtigt eine rechtswirksame Altersschätzung vorzunehmen? Wenn ja, wer? Nur das zuständige Jugendamt ist berechtigt, eine rechtswirksame Einschätzung bezüglich der Vollendung des 18. Lebensjahres vorzunehmen und hiermit über eine Inobhutnahme zu entscheiden. 7. Kommt es vor, dass Minderjährige älter oder jünger geschätzt werden, als sie selber angeben? Wenn ja, welche Gründe (zum Beispiel sachliche, wirtschaftliche oder pädagogische Gründe) gibt es dafür? a. Bei wie vielen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die zunächst angaben, i. 12 Jahre alt zu sein, ii. 14 Jahre alt zu sein, iii. 15 Jahre alt zu sein, iv. 16 Jahre alt zu sein, v. 17 Jahre alt zu sein, erfolgte eine Schätzung durch Mitarbeiter des LEB auf älter als angegeben? Um wie viele Monate beziehungsweise Jahre wurden die Minderjährigen älter beziehungsweise jünger geschätzt? Sofern Sie hierzu im Rahmen einer Schriftlichen Kleinen Anfrage keine Angaben machen können, wäre die Beantwortung im Rahmen einer Großen Anfrage möglich? Bei Divergenzen zwischen Angaben und Einschätzung widersprechen die ermittelten Informationen zur Person und die Wahrnehmung der äußeren Erscheinung den Angaben des jungen Menschen. Das Jugendamt hat hierbei ausschließlich die Aufgabe , die Vollendung beziehungsweise Nichtvollendung des 18. Lebensjahres festzustellen . Die Festlegung eines konkreten Geburtsdatums und damit des Alters erfolgt durch die Ausländerbehörde. Die Einschätzung einer deutlichen und damit auch mit Folgen für die beziehungsweise den Minderjährigen verbundenen abweichenden Altersangabe wird mitgeteilt. Die Ermittlung der unter 7. a. gewünschten Daten kann nur über die Auswertung von schriftlichen Aufzeichnungen zu Einzelfällen erfolgen und je nach Erhebungszeitraum Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/3039 5 bis zu 12.400 Fälle umfassen. Dies ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 8. Welche Dienstanweisung regelt das Verfahren der Altersschätzung? Das Verfahren der Alterseinschätzung ist in der „Dienstanweisung für die Inobhutnahme unbegleiteter, minderjähriger Ausländer“ geregelt. 9. Welche Möglichkeiten gibt es, um gegen das Ergebnis der Altersschätzung Einspruch einzulegen? a. Wird darauf hingewiesen? b. Wann, wo und in welcher Form erfolgt ein Hinweis? Nach § 42 f SGB VIII hat der Betroffene in Zweifelsfällen das Recht, im Rahmen der Altersfeststellung eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu fordern. Bei Ablehnung der Inobhutnahme oder Beendigung einer vorläufigen Inobhutnahme wegen der festgestellten Vollendung des 18. Lebensjahres wird jeweils ein Bescheid mit Rechtsbehelfsbelehrung ausgehändigt, übersetzt und gegebenenfalls erläutert. 10. Wie viele Widersprüche beziehungsweise Rechtsverfahren gab es im Einzelnen im Jahr 2015 gegen die Altersfeststellung des LEB? Wie viele davon waren erfolgreich? Im Jahr 2015 wurden in 157 Fällen Rechtsmittel gegen die Alterseinschätzung des Fachdienstes Flüchtlinge eingelegt beziehungsweise Rechtsverfahren angestrengt. Dies führte in 22 Fällen zur Korrektur der Entscheidung zur Alterseinschätzung.