BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/3162 21. Wahlperiode 12.02.16 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Prof. Dr. Jörn Kruse, Dirk Nockemann und Dr. Ludwig Flocken (AfD) vom 05.02.16 und Antwort des Senats Betr.: Flüchtlinge als Zielgruppe von Salafisten (2) In Drs. 21/2965, die das akute Risiko der ideologischen Beeinflussung von Flüchtlingen durch Salafisten beleuchtet, ist der Senat gefragt worden, wie er die Gefahr einschätzt, dass sich junge männliche Flüchtlinge mit unzureichender beruflicher Qualifikation infolge ihrer schlechten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt dem Salafismus zuwenden. In seiner Antwort behauptet der Senat, dass zwischen sozioökonomischer Perspektivlosigkeit und Radikalisierung grundsätzlich keine Korrelation bestehe, da Radikalisierungsverläufe in der Regel heterogene Entwicklungen beschrieben.1 Mit dieser Antwort hat der Senat es nicht nur versäumt, die wohl zentralste Frage der genannten Drucksache zu beantworten, sondern gleichzeitig auch eine Aussage getroffen, die offenkundig falsch ist, weil sie den aktuellen Erkenntnissen der Extremismusforschung kardinal widerspricht. Denn dass die Behauptung unzutreffend ist, der zufolge zwischen der sozioökonomischen Unterprivilegiertheit und der Affinität zu politischem beziehungsweise religiösem Extremismus keine Kausalität existiert, kann man unter anderem aus der Studie „Extremismus in Deutschland“ ersehen, die das Bundesministerium des Innern im Juni 2004 vorgelegt hat. Hier wird am Beispiel des Rechtsextremismus deutlich, dass die „relative Deprivation“ – also die wahrgenommenen Ungerechtigkeiten in Form von Diskrepanzen der aktuellen Lebensqualität zu den als berechtigt angesehen eigenen Ansprüchen – einen elementaren Faktor für die Genese vom Extremismus darstellt.2 Dieses Axiom lässt sich gut auf den Salafismus übertragen, weil dieser gleichermaßen zur Gruppe des religiösen und politischen Extremismus zählt, der auch der Rechtsextremismus angehört.3 Dieser Zusammenhang wird vollends erkennbar, wenn man berücksichtigt, dass sich beide Phänomene durch die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner 1 Confer Drs. 21/2965. 2 „Extremismus in Deutschland“. Seite 85. Abrufbar unter: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2004/Extremismus_in_Deut schland_Id_95150_de.pdf?__blob=publicationFile. 3 „Politisch motivierte Gewalt – die Vielfalt der Ursachen und Gegenstrategien“. Eine Studie über Rechtsextremisten, Linksextremisten, Linksterroristen, „autonome“ Krawallmacher und fundamentalistisch-religiöse Fanatiker. Herausgegeben von Professor Dr. Siegfried Preiser (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main), Mitglied des Expertenbeirats Prävention von Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit des nordrheinwestfälischen Landtags. Seite 4. Abrufbar unter: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_I/I.1/EK/EKALT/14_EK_III/Vortraege/Vortrag_Pr eiser.pdf. Drucksache 21/3162 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Werte, durch die Zurückweisung des Pluralismus sowie durch den Alleinvertretungsversuch für politische Deutungsmuster auszeichnen. In der Studie „Politisch motivierte Gewalt“, die vom Expertenrat „Prävention von Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“ des nordrheinwestfälischen Landtags unter der Leitung von Professor Dr. Siegfried Preiser von der Goethe-Universität Frankfurt erarbeitet worden ist, heißt es: „Mit Orientierungs - und Perspektivlosigkeit der gesellschaftlichen und der individuellen Entwicklung in Krisensituationen lässt sich sowohl die Extremismusanfälligkeit von Arbeitslosen, Studien- bzw. Ausbildungsabbrechern (…) erklären .“4 Hier wird deutlich, dass Menschen, die über kein festes Beschäftigungsverhältnis verfügen beziehungsweise beruflich gescheitert sind, eine verstärkte Affinität zum Extremismus haben. Das obige Zitat ist aber auch deshalb so gut auf die Flüchtlingsproblematik anwendbar, weil die in ihm genannten Umstände auch für die Situation der Asylsuchenden gelten. So steht außer Frage, dass sich ihre Angehörigen ebenfalls in einer Krisensituation befinden, die angesichts ihrer von Krieg und Armut geprägten Herkunftskontexte akuter kaum sein könnte. Die Feststellung, der zufolge der überwiegende Großteil der Flüchtlinge in Deutschland mittel- und langfristig zur Gruppe der Arbeitslosen zählen wird, ist hingegen derart offensichtlich, dass sie keiner gesonderten Erklärung bedarf.5 Schließlich sind aber auch die Erkenntnisse der Bertelsmann-Studie „Survey Violence, Extremism and Transformation“ von Bedeutung.6 Denn in ihr kommen die verantwortlichen Wissenschaftler zu folgendem Ergebnis: „Die wesentlichen Ursachen für politische Gewalt sind nach den Ergebnissen der Studie nicht religiöser Fundamentalismus, sondern Armut, ethnische Spaltung , Staatsschwäche, Mängel des politischen Systems und externe Intervention . (…) Vielmehr muss die westliche Entwicklungspolitik in die Lage versetzt werden, sich noch stärker in den Bereichen Armutsbekämpfung, Demokratieförderung und Unterstützung guter Regierungsführung zu engagieren , um so politischer Gewalt entgegen zu wirken.“7 Diesem Fazit kann man entnehmen, dass Armut – man könnte auch sagen, „sozioökonomische Perspektivlosigkeit“ – als die zentrale Bildungskomponente von Extremismus identifiziert wird. Hinzu kommt, dass die Brisanz der daraus resultierenden Problematik durch den Faktor der ethnischen Spaltung offenbar noch zusätzlich akzeleriert wird – ein Phänomen, das gegenwärtig auch in Deutschland zu beobachten ist. Eingedenk der oben dargelegten Zusammenhänge wird erneut darauf hingewiesen , dass die eingangs genannte Behauptung des Senats falsch ist, der zufolge eine Korrelation von sozioökonomischer Perspektivlosigkeit und einer Affinität zu Extremismus wissenschaftlich nicht nachweisbar ist. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: 1. Wie schätzt der Senat die Gefahr ein, dass sich junge männliche Flüchtlinge mit unzureichender beruflicher Qualifikation infolge ihrer schlechten 4 Confer „Politisch motivierte Gewalt – die Vielfalt der Ursachen und Gegenstrategien“. Seite 6. 5 Dies kommt unter anderem in einer aktuellen Stellungnahme von Detlef Scheele zum Ausdruck : „Wir sollten nicht zu hohe Erwartungen haben. Wenn es gut läuft, werden im ersten Jahr nach der Einreise vielleicht zehn Prozent eine Arbeit haben, nach fünf Jahren ist es die Hälfte, nach 15 Jahren 70 Prozent.“ Confer „Asylbewerber könnten mit Langzeitarbeitslosen um Jobs konkurrieren“. „Süddeutsche Zeitung“ online vom 1. Februar 2016. 6 Abrufbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/presse/pressemitteilungen/ pressemitteilung/pid/religioeser-fanatismus-nicht-die-hauptursache-von-politischer-gewaltund -terror/. 7 Confer Ibidem. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/3162 3 Aussichten auf dem Arbeitsmarkt dem Salafismus zuwenden, nachdem er die Erkenntnisse genannter Studien zur Kenntnis genommen hat? 2. Warum beantwortet der Senat Anfragen zu wichtigen politischen Themen der Gegenwart, ohne die wesentlichen Erkenntnisse des aktuellen Forschungsstandes zu berücksichtigen, die dafür notwendig sind? Die zuständigen Fachbehörden berücksichtigen für ihre Arbeit aktuelle Studien, die sich unter anderem mit der Frage der Gründe für individuelle Radikalisierungsprozesse beschäftigen. Im Übrigen siehe Drs. 21/2965 sowie unter anderem Drs. 21/1987, Drs. 21/2469, Drs. 21/2483 und Drs. 21/2578. Darüber hinaus hat sich der Senat damit nicht befasst.