BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/3345 21. Wahlperiode 26.02.16 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Jennyfer Dutschke und Daniel Oetzel (FDP) vom 18.02.16 und Antwort des Senats Betr.: Verschwundene Flüchtlingskinder Europol berichtete von mindestens 10.000 allein reisenden Flüchtlingskindern , die innerhalb Europas verschwunden seien, also auch in anderen europäischen Ländern nicht auffindbar sind. Medienberichten zufolge gibt es Hinweise auf sexuelle Ausbeutung und Versklavung allein reisender Flüchtlingskinder . Des Weiteren wird über den Aufbau krimineller Infrastrukturen des Kinderhandels durch Schlepperbanden berichtet. Aus Drs. 21/3174 geht hervor, dass der LEB nur eine Statistik darüber führt, wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit unbekanntem Ziel aus der Inobhutnahme „entweichen“. Ferner geht aus der Antwort auf diese Schriftliche Kleine Anfrage hervor, dass der Senat annähme, dass in vielen Fällen Hamburg nicht das Fluchtziel sei und die entwichenen Flüchtlingskinder weiterreisten. Eine Vermisstenanzeige bei der Polizei erfolge nur nach Einzelfallentscheidung. Allein im Jahr 2015 sind 841 Fälle von entwichenen Flüchtlingskindern bei insgesamt 2.574 in Obhut genommenen minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen durch den LEB erfasst worden. Damit ist ein Drittel aller allein reisenden, von städtischen Behörden in Obhut genommenen Flüchtlingskinder im Jahr 2015 aus Hamburg verschwunden. Dies vorausgeschickt fragen wir den Senat: Bei der in Drs. 21/3174 genannten Anzahl von 841 handelt es sich nicht um „Flüchtlingskinder “, sondern um Personen, die minderjährig waren oder sich vor der Altersfeststellung nach eigenen Angaben als minderjährig ausgaben. Kinder sind nach der Definition des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) Minderjährige, die noch nicht 14 Jahre alt sind. Unter den in Drs. 21/3345 genannten 841 Personen befanden sich 49 Kinder. Mehrfachnennungen sind möglich. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Liegen dem Senat Hinweise auf sexuelle Ausbeutung, Versklavung und Menschenhandel in Hamburg im oben genannten Kontext vor? Wenn ja, welche Erkenntnisse hat der Senat und welche Maßnahmen ergreift er dagegen? Erkenntnisse im Sinne der Fragestellung liegen den zuständigen Behörden nicht vor. 2. Gibt es im Hinblick auf sexuelle Ausbeutung, Kinderhandel und Versklavung ein Präventionskonzept der Freien und Hansestadt Hamburg? a. Wenn ja, welche Präventionsmaßnahmen beinhaltet es? Drucksache 21/3345 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 b. Gibt es im Hinblick auf sexuelle Ausbeutung, Kinderhandel und Versklavung ein Präventionskonzept speziell für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und/oder Flüchtlingskinder der Freien und Hansestadt Hamburg? Wenn ja, welche Präventionsmaßnahmen beinhaltet es? Das Landeskriminalamt, Fachkommissariat Menschenhandel (LKA 65), führt im Rahmen des Konzepts „Menschenhandel“ Präventionsmaßnahmen gegen die sexuelle Ausbeutung von Personen (auch bei Kindern/Jugendlichen) durch. Dieses sieht das offensive Aufsuchen von Orten und Umfeld der Prostitutionsausübung sowie die damit verbundenen Personenkontrollen vor. Darüber hinaus unterstützt die Koordinierungsstelle gegen Frauenhandel KOOFRA e.V. in Hamburg betroffene erwachsene Frauen, die Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung sowie zur Arbeitsausbeutung geworden sind. Die Unterstützungskonzepte sehen zudem präventive Maßnahmen wie Öffentlichkeitsarbeit und Beratung von Multiplikatorinnen (Behörden, Institutionen), gegebenenfalls auch Kontakt mit Betroffenen vor, damit diese die Betroffenen als Opfer von Menschenhandel identifizieren können. Für Kinder und Jugendliche, auch unbegleitete Minderjährige, obliegen Identifizierung, Schutz und Unterstützung der Jugendhilfe. Hierfür stehen in Hamburg unter anderem Plätze in anonymen Schutzeinrichtungen zur Verfügung. 3. In Drs. 21/3174 heißt es, dass nach Alter und Gefährdungseinschätzung eine Vermisstenanzeige aufgegeben würde. a. Bis zu welchem Alter folgt auf das Verschwinden aus der Obhut des LEB regelhaft eine Vermisstenanzeige? b. Anhand welcher Kriterien erfolgt die Gefährdungseinschätzung? c. Welche Gefährdungseinschätzung führt zu einer Vermisstenanzeige ? d. Wer ist für die Gefährdungseinschätzung zuständig? 4. Warum wird im Falle des Entweichens eines Flüchtlingskindes aus der Inobhutnahme des LEB nicht regelhaft Anzeige erstattet und ermittelt? Kommt ein Kind oder eine Jugendliche, beziehungsweise ein Jugendlicher nicht in die Einrichtung zurück, wird, insbesondere bezüglich der Aufgabe einer Vermisstenanzeige , wie folgt verfahren: - Das erforderliche Handeln ist in jedem Einzelfall individuell zu beurteilen. Es ist abhängig vom Alter des Kindes oder des beziehungsweise der Jugendlichen und seinen beziehungsweise ihren üblichen Verhaltensweisen. - Wenn Kinder oder Jugendliche zur verabredeten oder angeordneten Zeit nicht in die Einrichtung zurückkehren, ohne dass der Aufenthaltsort bekannt ist, ist der Versuch zu unternehmen, den Aufenthalt ausfindig zu machen. Hierzu gehört insbesondere , bekannte Personen oder Adressen abzufragen und sich gegebenenfalls bei der Familie zu erkundigen. Eine Vermisstenanzeige ist durch die Einrichtung unverzüglich aufgegeben, wenn Betreute ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben, ihr Aufenthalt unbekannt ist und eine erhebliche Kindeswohlgefährdung angenommen werden kann. Hierbei ist jeder Einzelfall individuell zu beurteilen . Beim bestimmen des Zeitpunktes der Vermisstenanzeige spielt insbesondere das Alter des Kindes oder Jugendlichen und dessen auffällige Verhaltensweisen eine Rolle. - Spätestens, wenn bekannt ist, dass ein Kind oder Jugendliche beziehungsweise Jugendlicher mehr als eine Nacht der stationären Einrichtung ferngeblieben ist, ohne dass der Aufenthaltsort trotz entsprechender Bemühungen ermittelt werden konnte, ist regelhaft eine Vermisstenanzeige zu stellen. Abweichungen von dieser Regel sind nur nach ausreichender Erörterung und Einzelfallprüfung zwischen den Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/3345 3 beteiligten Fachkräften, dem beteiligten Jugendamt und gegebenenfalls den Sorgeberechtigten möglich. 5. Aus welchen Einrichtungen sind die in Drs. 21/3174 genannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge „entwichen“? (Bitte jahresweise aufschlüsseln .) Siehe Anlage und Vorbemerkung. 6. Liegen dem Senat beziehungsweise dem LEB Erkenntnisse vor, über welchen Zeitraum sich die Flüchtlingskinder in der Obhut des LEB befanden, bevor sie verschwanden? Wenn ja, welche? Wenn nein, warum nicht? Ja, es sind dem LEB das Datum der Inohutnahme beziehungsweise Aufnahme in die Einrichtung und das Datum der Beendigung der Inobhutnahme nach der Entweichung bekannt. Die Aufenthaltsdauer im LEB vor dem Entweichen betrug im Durchschnitt: 2010: 28 Tage 2011: 13 Tage 2012: 10 Tage 2013: 26 Tage 2014: 25 Tage 2015: 29 Tage Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 7. Welche Informationen liegen dem Senat über die Herkunftsländer und Fluchtgründe der entwichenen Flüchtlingskinder vor? Siehe Anlage und Vorbemerkung. Eine statistisch auswertbare Übersicht über die Fluchtgründe liegt nicht vor. Die Angaben der Betroffenen sind oft unsicher und verdichten sich erst im Laufe der Zeit und im Asylverfahren zu verlässlichen Informationen . 8. Welche Daten werden im Rahmen der Inobhutnahme eines allein reisenden minderjährigen Flüchtlings erhoben? Durch wen werden diese Daten erhoben? Wer kann diese Daten einsehen? Im Rahmen eines Aufnahmegesprächs beim Fachdienst Flüchtlinge im LEB werden die für eine Entscheidung über die Inobhutnahme und die im Einzelfall gegebenenfalls unmittelbar einzuleitenden, besonderen Schutzmaßnahmen erforderliche Daten erhoben . Diese sind: - Personenbezogene Daten wie Name, Geschlecht, Geburtsdatum, Familienstand, Sprache, Geburts- und Herkunftsort, Nationalität beziehungsweise Staatsangehörigkeit ; - Familienbezüge; - Informationen zum Fluchtweg, Einreisedaten; - Angaben zur gesundheitlichen Situation; - Dokumente zur Identitätsfeststellung. 9. In welcher Form findet im Falle des Entweichens eines Flüchtlingskindes aus der Obhut des LEB ein regelmäßiger Abgleich mit europäischen Datenbanken statt? Sind im Zusammenhang mit Datenbankabgleichen Hinweise auf den Verbleib der entwichenen Flüchtlingskinder eingegangen ? Siehe Drs. 21/3174. 10. Ferner heißt es in Drs. 21/3174, dass viele unbegleitete Flüchtlingskinder für die Dauer der Minderjährigkeit keinen Asylantrag stellen. Drucksache 21/3345 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 a. Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge hat der LEB von 2010 bis 2015 jährlich in Obhut genommen? b. Wie viele der vom LEB in Obhut genommenen Flüchtlingskinder haben einen Asylantrag gestellt? (Bitte jährlich für 2010 bis 2015 aufschlüsseln.) c. Aus welchen Herkunftsländern stammten die unter b. genannten Flüchtlingskinder? Insgesamt wurden junge Flüchtlinge in nachstehender Anzahl vorläufig zur Feststellung der Voraussetzungen der Inobhutnahme sowie endgültig in Obhut genommen: 2010 2011 2012 2013 2014 2015 410 614 623 833 1198 3243 Fragen zu einer möglichen Asylantragstellung fallen nicht in den Aufgabenbereich der Erstversorgung im LEB, dies ist Aufgabe der Amts- und Privatvormünder. Um die Fragestellungen zu beantworten, müssten bis zu 6.900 Vormundschaftsakten händisch überprüft werden. Dies ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/3345 5 Anlage Anzahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, die sich der Inobhutnahme entzogen haben (einschließlich vorläufiger Inobhutnahmen zur Feststellung der Inobhutnahmevoraussetzungen ) Einrichtung 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Gesamt Kinder- und Jugendnotdienst 20 64 76 84 138 480 862 KJND Mädchenhaus 4 2 27 33 Erstaufnahme-Außenstellen 5 114 119 Erstversorgungseinrichtung 1 1 2 3 1 7 Erstversorgungseinrichtung 2 3 4 10 9 14 8 48 Erstversorgungseinrichtung 3 6 4 4 5 5 24 Erstversorgungseinrichtung 4 2 33 35 Erstversorgungseinrichtung 5 4 5 9 Erstversorgungseinrichtung 6 3 3 6 Erstversorgungseinrichtung 7 2 2 Erstversorgungseinrichtung 8 5 5 Erstversorgungseinrichtung 9 3 3 Erstversorgungseinrichtung 10 5 5 Erstversorgungseinrichtung 11 54 54 Erstversorgungseinrichtung 12 1 1 Erstversorgungseinrichtung 15 5 5 Erstversorgungseinrichtung A1 45 45 Erstversorgungseinrichtung A2 1 9 14 24 Erstversorgungseinrichtung A3 1 4 5 Erstversorgungseinrichtung A4 21 19 40 Erstversorgungseinrichtung für junge Frauen 2 2 Einrichtungen Freier Träger und sonstige Orte 2 1 3 Einrichtungen des LEB 1 1 2 3 9 16 davon Kinder 1 4 7 9 7 49 77 Herkunftsländer in Obhut genommener unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge * (einschließlich vorläufiger Inobhutnahmen zur Feststellung der Inobhutnahmevoraussetzungen ) Herkunftsland Jahr der Inobhutnahme 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Afghanistan 283 430 325 197 331 1349 Ägypten 17 13 37 152 193 87 Albanien 2 58 Algerien 10 17 30 51 83 44 Angola 1 3 Antigua 1 Armenien 1 Aserbaidschan 2 Äthiopien 1 1 1 1 8 Bangladesh 2 1 1 Benin 3 6 10 5 11 15 Bhutan 1 Bosnien-Herzegowina 1 1 1 1 Brasilien 1 Burkina-Faso 2 3 3 4 China 1 Elfenbeinküste 4 4 3 5 1 Drucksache 21/3345 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 6 Herkunftsland Jahr der Inobhutnahme 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Eritrea 1 17 93 400 Gambia 2 4 5 10 8 24 Ghana 2 1 8 5 3 1 Guinea 16 40 58 78 61 64 Guinea-Bissau 1 1 Indien 6 7 6 16 4 3 Irak 4 2 2 3 3 72 Iran 4 16 9 9 4 23 Jemen 1 Jugoslawien ehemalig 2 Kamerun 1 Kenia 3 4 2 Kolumbien 2 1 Kongo 1 Libanon 2 1 1 6 Liberia 1 1 2 Libyen 1 4 3 10 8 7 Macao 1 Mali 1 16 9 3 5 Marokko 4 8 23 63 108 100 Mauretanien 2 2 3 1 Mazedonien 2 Nepal 1 2 Niger 1 5 7 2 2 Nigeria 1 2 4 2 5 Pakistan 2 1 1 1 7 Palästina 23 9 11 21 10 7 Rumänien 1 Russische Föderation 3 4 7 8 3 1 Schweden 1 Senegal 2 3 4 1 2 Sierra Leone 2 3 1 4 1 Somalia 14 18 15 102 172 376 Sudan 4 3 1 3 1 Syrien 1 2 15 26 52 554 Tadschikistan 1 Tschad 1 Tschetschenien 2 1 1 2 Tunesien 2 4 1 3 5 4 Türkei 1 Uganda 1 Ukraine 1 1 Ungarn 1 Venezuela 1 Vietnam 5 1 1 Westsahara 3 3 7 1 * teilweise ausschließlich aufgrund eigener Angaben basierende Herkunftsländer