BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/3782 21. Wahlperiode 01.04.16 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrea Oelschlaeger (AfD) vom 24.03.16 und Antwort des Senats Betr.: Der Fall des Hamburger IS-Kämpfers Florent – Hätte die Radikalisierung verhindert werden können? Das „Hamburger Abendblatt“ berichtet in seiner Ausgabe vom 24.03.2016 von der religiösen Radikalisierung des 17 Jahre alten Hamburgers Florent, seinem Abgleiten in die Hamburger Salafistenszene und schließlich seiner Ausreise nach Syrien als IS-Kämpfer. In dem Artikel werden Wegbegleiter Florents befragt, ob seine religiöse Radikalisierung sowie die Teilnahme als aktiver IS-Kämpfer hätten verhindert werden können. Dazu heißt es: „Die Veränderungen entgehen auch der Schule nicht. Runde Tische mit der Polizei, mit Schulvertretern und Sozialarbeitern werden anberaumt. Schließlich setzt die Schule durch, dass Florent wieder alltagstaugliche Klamotten trägt – viel mehr passiert aber nicht. Während der Junge äußerlich wieder einem normalen Teenager ähnelt, setzt sich die Radikalisierung im Innern fort. An den Wochenenden, meist am Hauptbahnhof, verteilt er an den Ständen der Kampagne „Lies!“ den Koran. Ende 2014 trifft Wilm den Jungen dort zufällig. Es ist das letzte Mal, dass er ihn sieht. Die beiden geben sich die Hand, wechseln ein paar Worte. „Diese natürliche Fröhlichkeit, die war bei Florent schon nicht mehr da“, sagt Wilm. Dass sich der Junge religiös radikalisiert hatte, wusste Wilm schon lange, „aber dass er zur Gewalt bereit ist – das hätte ich ihm nicht zugetraut. So war Florent nie“, sagt Wilm. Hätte Florent vor den Rattenfängern des IS gerettet werden können? „Ich vermute es, aber leider hat sich St. Pauli hier nicht mit Ruhm bekleckert“, sagt Wilm. Termine seien verschoben, beschlossene Maßnahmen nicht umgesetzt worden , so hätten sich „Übergabelücken“ aufgetan. „Man hätte sofort handeln müssen, doch das Problem wurde verschleppt“, sagt Wilm. „Wir brauchen künftig kompetente Menschen, die sich mit der Salafistenszene sehr gut auskennen , am besten eine Art Kriseninterventionsteam – damit so etwas nicht noch einmal passiert.““ („Hamburger Abendblatt“ vom 24.03.2016, Seite 12.) Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: 1. Seit wann waren den verantwortlichen Lehrern und der Schulleitung in Florents Schule, der zuständigen Schulaufsicht und der Behörde für Schule und Berufsbildung die religiösen Radikalisierungstendenzen Florents genau bekannt? Der Schüler ging von August 2008 bis Juli 2014 auf eine weiterführende Schule und besuchte anschließend den Bildungsgang AV-Dual einer berufsbildenden Schule. Drucksache 21/3782 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Im Frühjahr 2012 haben Lehrkräfte der allgemeinbildenden Schule bei dem Schüler ein Verhalten beobachtet, das eine hohe Affinität zu radikalem religiösen Gedankengut vermuten ließ, und informierten die Schulleitung. 2. Welche Maßnahmen wurden diesbezüglich getroffen? Bitte Inhalt und Art der getroffenen Maßnahmen und Gespräche detailliert erläutern. Pädagogische Maßnahmen zur Prävention von religiöser Radikalisierung stützen sich unter anderem auf die Bereiche der Demokratieerziehung, Sozial- und Rechtserziehung , der Religion und der politischen Bildung. Auch die Vermittlung, die Einhaltung sowie die konsequente Durchsetzung von Regeln zu Verhinderung von Schulabsentismus tragen zur Persönlichkeitsstärkung bei und beugen so einer Radikalisierung vor. Die allgemeinbildende Schule hat im April 2012 Kontakt zum Jugendhilfeträger ufuq.de aufgenommen. Es wurde ein Runder Tisch unter Einbeziehung der Schulleitung , der beteiligten Lehrkräfte, ufuq.de, des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI), von Mitarbeitern von „verikom – Verbund für interkulturelle Kommunikation und Bildung e.V.“ sowie vom Jugendhaus der regionalen Kirchengemeinde durchgeführt. Neben Gesprächen der Klassenlehrkräfte mit dem Schüler und seiner Mutter wurden zur Persönlichkeitsstärkung des Schülers und seiner Mitschülerinnen und Mitschüler in seiner Klasse und in den Nachbarklassen dreimal zweistündige Workshops durch die oben genannten Mitarbeiter durchgeführt, in denen die Jugendlichen die Gelegenheit hatten, mit kompetenten Ansprechpartnern Fragen zur Religion zu erörtern mit dem Ziel, einer möglichen religiösen Radikalisierung entgegenzuwirken . Für das Lehrerkollegium fand im gleichen Zeitraum eine Fortbildungsmaßnahme zum Thema Islam, Islamismus und Demokratie statt. An der berufsbildenden Schule hatte der Schüler seit August 2014 erhebliche Fehlzeiten und fand keinen Praktikumsplatz. Hierzu wurden umgehend Gespräche mit ihm geführt. Im Oktober erteilte die Klassenkonferenz ihm einen schriftlichen Verweis wegen der Fehlzeiten mit der Ankündigung eines Bußgeldverfahrens. Danach begann der Schüler ein Praktikum, das er im Dezember 2014 abbrach. Nach einem weiteren Gespräch mit dem Schüler und seiner Mutter erschien er nicht mehr im Unterricht. Der zuständige Klassenlehrer der berufsbildenden Schule versuchte mit dem Schüler telefonisch , schriftlich, durch Hausbesuch sowie durch einen Besuch im Sportverein Kontakt aufzunehmen. Seit April 2015 war der Schüler telefonisch nicht mehr erreichbar. Briefe, auch Einschreiben der Schule, kamen als unzustellbar zurück. Gegen den Schüler wurde im Jahr 2014 von der zuständigen Behörde ein Bußgeldbescheid wegen Verletzung der Schulpflicht erlassen. Da er die Geldbuße nicht bezahlte , wurde die Sache zur Vollstreckung an das Amtsgericht Hamburg abgegeben. Der Jugendrichter erlegte dem Schüler mit Beschluss vom 12. August 2014 auf, anstelle der Geldbuße eine Arbeitsleistung zu erbringen. Dieser Auflage kam der Schüler ausweislich der Akten der zuständigen Behörde nach. 3. War den Verantwortlichen aus Schule, Schulaufsicht und Schulbehörde bekannt, dass Florent an den Wochenenden an den Ständen der Kampagne „Lies!“ den Koran verteilt? Nein. Wenn ja, welche Maßnahmen wurden getroffen, um eine weitere Teilnahme an dieser Kampagne zu verhindern? Entfällt. 4. In dem Artikel des „Hamburger Abendblattes“ schildert der Pastor Sieghard Wilm in Bezug auf die Radikalisierung Florents, dass in St. Pauli Termine verschoben und Maßnahmen nicht umgesetzt worden seien, die eine Radikalisierung Florents hätten verhindern können. Es ist von „Übergabelücken“ die Rede und das Problem sei „verschleppt worden“. Welche Informationen liegen dem Senat zu diesen Vorwürfen/ Missständen bislang vor? Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/3782 3 Bei den erfragten Informationen handelt es sich um geschützte Sozialdaten im Sinne der §§ 35 SGB I, 60 fortfolgende SGB VIII, 67 fortfolgende SGB X, weshalb der Senat an der Beantwortung der Frage grundsätzlich gehindert ist. Im Übrigen siehe Antwort zu 2. 5. Was plant der Senat, um in ähnlich gelagerten Fällen die Radikalisierung von Jugendlichen zu verhindern? (Bitte nicht auf allgemeine bereits existierende Präventionsprogramme verweisen, sondern Maßnahmen zur unmittelbaren Intervention anzeigen!) Ab dem Schuljahr 2015/2016 werden Schülerinnen und Schüler der allgemeinbildenden Schulen, die im Verdacht stehen, einem religiös-extremistischen Dogma zu folgen , von der Beratungsstelle Gewaltprävention betreut (Einzelfallhilfe). Diese Schülerinnen und Schüler sind zumeist zwischen 12 und 17 Jahre alt. Bei Schülern und Schülerinnen der berufsbildenden Schulen ist das Beratungszentrum Berufliche Schule (BZBS) zuständig. In der Fallarbeit mit jungen Menschen, die sich radikalisieren, kooperieren die zuständigen Behörden und Ämter, um alle relevanten Aspekte des Falles zu berücksichtigen und die dafür notwendigen Fachkompetenzen einzubinden; ein Beispiel hierfür sind die Gefährderkonferenzen der Jugendhilfe mit dem Landeskriminalamt. Grundsätzlich bestehen folgende Möglichkeiten der Intervention: Ausreiseverbot unter Einbeziehung des Familiengerichtes – Einbehalten der Ausweispapiere durch die Sorgeberechtigten, Maßnahmen der Jugendhilfe nach §§27 fortfolgende SGBVIII (Hilfen zur Erziehung ). Zudem hat die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, ergänzend zu den Regelangeboten der Behörden und Ämter, mit der Beratungsstelle Legato bereits zum 1. Juli 2015 ein mobiles Interventionsteam etabliert, welches mit der Beratungsstelle Gewaltprävention und dem BZBS kooperiert; siehe hierzu Drs. 21/3586, Drs. 21/2623, Drs. 21/1706, Drs. 21/1674, Drs. 21/1204, Drs. 21/1104 und Drs. 21/954. Die Polizei wendet die bereits bekannten Präventionsprogramme an. Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Hamburg informiert im Rahmen seiner gesetzlich vorgeschriebenen Öffentlichkeitsarbeit umfassend über die Gefahren, die von den Islamisten ausgehen. Dies geschieht durch umfangreiche Medienarbeit (Pressestatements, Interviews, Internetbeiträge auf der Homepage, jährlicher Verfassungsschutzbericht) sowie durch Vorträge und Teilnahme an Diskussionsveranstaltungen. Vertreter des LfV Hamburg stehen auf Anforderung für Beratungen in Einzelfällen zur Verfügung. Im Übrigen siehe Drs. 20/13460. Die Vernetzung der wesentlichen Akteure innerhalb des Beratungsnetzwerks Prävention und Deradikalisierung und in der Fallarbeit sowie intensive und umfassende präventive und interventive Maßnahmen können einen wirksamen Beitrag leisten, junge Menschen vor einem Radikalisierungsprozess zu bewahren oder gegebenenfalls eine Deradikalisierung zu unterstützen. Aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher, zum Teil nicht beeinflussbarer Faktoren wird damit jedoch nicht in jedem Einzelfall eine Radikalisierung verhindert werden können.