BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/3884 21. Wahlperiode 08.04.16 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Anna-Elisabeth von Treuenfels-Frowein (FDP) vom 01.04.16 und Antwort des Senats Betr.: Vergewaltigung einer 14-Jährigen in Hamburg (II) – Ein Tatverdächtiger auf der Flucht Nach Medienberichten sind zwei Jugendliche aus einer Jugendgerichtlichen Unterbringung geflohen, die Tatverdächtige im Fall der Vergewaltigung einer 14-Jährigen vom Februar 2016 im Hamburger Stadtteil Harburg sind. Ein 16- Jähriger ist gefasst worden, während von dem 14-jährigen Tatverdächtigen jede Spur fehlt. Dieser war bereits am Tag seiner Einlieferung unbemerkt aus einem Fenster der Jugendwohnung entwichen. Erst zehn Tage danach wurde seine Flucht bekannt. Die Staatsanwaltschaft hatte veranlasst, beide Jugendliche aus der Untersuchungshaft in eine jugendgerichtliche Unterbringung zu verlegen. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: 1. Warum waren zwei der Tatverdächtigen in eine „Jugendgerichtliche Unterbringung“ verlegt worden? Auf welcher gesetzlichen Grundlage wurde diese Maßnahme veranlasst? In wie vielen Fällen seit 2011 bis 2016 wurde ebenfalls eine solche Verlegung veranlasst (bitte nach Jahren , der Jugendhilfeeinrichtung und nach Straftaten gliedern)? Nachdem hinsichtlich des Tatvorwurfs des versuchten Mordes der dringende Tatverdacht entfallen war, lagen die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft für die beiden 14- beziehungsweise 16-jährigen Tatverdächtigten nach Auffassung der Staatsanwaltschaft und des Amtsgerichts nicht mehr vor. Nach § 72 JGG darf Untersuchungshaft bei Jugendlichen nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Anordnung in einem Heim der Jugendhilfe, erreicht werden kann. Die beiden Tatverdächtigen wurden in die jugendgerichtliche Unterbringung gemäß § 71 JGG verlegt. Dabei wurde der jüngere Tatverdächtige vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft mit der Weisung, sich in die Jugendgerichtliche Unterbringung zu begeben, verschont (§ 116 StPO), bei dem anderen wurde der Haftbefehl durch einen Unterbringungsbeschluss ersetzt (§§ 71 Absatz 2, 72 Absatz 4 JGG). Über diesen konkreten Einzelfall hinaus können zu weiteren ähnlich gelagerten Fällen aus den Jahren 2011 bis 2016 keine Angaben gemacht werden. Eine statistische Erfassung zur Anordnung von jugendgerichtlicher Unterbringung anstelle von Untersuchungshaft erfolgt nicht. Zur Beantwortung der Frage müssten alle Verfahren gegen jugendliche und heranwachsende Täter beigezogen und händisch ausgewertet werden . Dabei handelt es sich allein in der für Jugendschutzsachen zuständigen Hauptabteilung um jährlich mehr als 20.000 Verfahren. Hinzu kämen die Verfahren aus den Spezialabteilungen. Selbst eine Auswertung der in MESTA als Haftsachen erfassten Jugendverfahren – die nicht zuverlässig und vollständig ist – würde für jeden Aktenzeichenjahrgang mehrere Hundert Verfahren betreffen. Eine Durchsicht, Auswertung Drucksache 21/3884 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 und Aufbereitung sämtlicher dazugehöriger Akten ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Im Übrigen siehe Drs. 21/3791. 2. Warum wurde erst zehn Tage nach Einlieferung des 14-jährigen Tatverdächtigen wegen Vergewaltigung bekannt, dass sich dieser auf der Flucht befindet (bitte genau begründen)? In welchen vergleichbaren Fällen hat die zuständige Stelle seit 2011 ebenso gehandelt? Die zuständige Polizeidienststelle und das Amtsgericht Hamburg wurden unmittelbar nach der Entweichung des 14-jährigen Beschuldigten am 21.03.2016 von der Einrichtung in Kenntnis gesetzt. Die Staatsanwaltschaft Hamburg erfuhr am Morgen des 22.03.2016 davon. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde noch am 22.03.2016 der Verschonungsbeschluss aufgehoben und der Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt. Es wurden auch unmittelbar Fahndungsmaßnahmen eingeleitet. Diese erfolgten zunächst verdeckt, was auch umfasst, dass die zuständigen Ermittlungsbehörden keine Pressemitteilungen abgeben. Nachdem diese Maßnahmen erfolglos geblieben waren, ordnete das Gericht am 04.04.2016 auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Öffentlichkeitsfahndung an. Diese ist nach § 131a Absatz 3 StPO grundsätzlich subsidiär. Im vorliegenden Fall war der Grundsatz der Subsidiarität bezüglich der Öffentlichkeitsfahndung mit Lichtbild und voller Namensnennung des Beschuldigten unter Berücksichtigung seines geringen Alters besonders zu berücksichtigen. Zu weiteren ähnlich gelagerten Fällen seit 2011 können mangels statistischer Erfassung keine Angaben gemacht werden. Auch eine Aktenauswertung würde insofern keine Ergebnisse liefern, da die Öffentlichkeitsarbeit – mit Ausnahme der nur selten vorkommenden Öffentlichkeitsfahndung – nicht in den Akten erfasst wird. 3. Wie und in welchem Umfang wurden der 14-jährige und ein 16-jähriger Tatverdächtige(r) Tag und Nacht betreut? Was versteht der Senat unter einer speziellen Jugendwohnung, die „bis zur Hauptverhandlung eine stabilisierende Betreuung über Tag und Nacht, einen strukturierten Alltag und Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben ohne Straftaten“ bieten soll? Siehe Drs. 21/3791. 4. Wie konnte der 14-jährige Tatverdächtige noch am Tag seiner Einlieferung so einfach durch ein Fenster flüchten? In wie vielen Fällen seit 2011 bis 2016 konnten ebenfalls Tatverdächtige aus welcher Jugendeinrichtung in Hamburg fliehen (bitte nach Jahren, der Einrichtung und Straftaten aufgliedern)? Bei der betreffenden Wohneinrichtung in Reppenstedt und der Jugendgerichtlichen Unterbringung (JGU) in Hamburg handelt es sich um keine baulich besonders gesicherten Einrichtungen. Denn die Unterbringung erfolgt dort dem Auftrag aus § 72 JGG entsprechend, um eine Untersuchungshaft bei Jugendlichen möglichst zu vermeiden. Bei groben Regelverstößen – wie einem unerlaubten Entfernen aus der Einrichtung – oder bei erneuten Straftaten hebt das Gericht die Betreuung auf, in diesem Fall erfolgt eine Rückführung in die Untersuchungshaft. Dies wird den Betreuten im Vorfeld nachdrücklich verdeutlicht. Aus der JGU kam es von 2011 bis 2016 zu folgenden Entweichungen: 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Entweichungen* 8 11 21 6 4 4 davon zurückgekehrt 4 3 8 2 1 1 davon bei Hauptverhandlung entwichen 1 * Mehrfachentweichungen von Personen enthalten Da eine statistische Erfassung bei der Staatsanwaltschaft nicht stattfindet, können diesen Zahlen keine Straftaten zugeordnet werden. Eine Durchsicht, Auswertung und Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/3884 3 Aufbereitung sämtlicher der in der Antwort zu 1. benannten dazugehörigen Akten ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 5. Warum wurde bei einem dritten Tatverdächtigen eine Verlegung in eine Einrichtung der Jugendhilfe gar nicht in Erwägung gezogen, während der 14-jährige Flüchtige mit einem 16-jährigen Tatverdächtigen sofort in eine Jugendwohnung verlegt wurde? Staatsanwaltschaft und Gericht prüfen die Voraussetzungen der nach dem Jugendgerichtsgesetz nur unter engen Voraussetzungen zulässigen Anordnung und Vollstreckung von Untersuchungshaft für jeden einzelnen Beschuldigten stets gesondert und laufend. Die beiden 14- und 16-jährigen Tatverdächtigen wurden nicht sofort in eine Jugendwohnung verlegt, sondern erst, als hierfür abweichend von der früheren Haftsituation Anlass bestand. Auch für den dritten jugendlichen Tatverdächtigen wurde eine Verlegung in eine Einrichtung der Jugendhilfe „in Erwägung gezogen“, kam aber im Ergebnis aufgrund individueller Umstände nicht in Betracht (siehe insoweit § 72 Absatz 2 Nummer 1 JGG). Aktuell liegen die Voraussetzungen der Untersuchungshaft für alle drei männlichen jugendlichen Beschuldigten vor, da die weniger einschneidende Jugendgerichtliche Unterbringung aufgrund des Fehlverhaltens der beiden zuvor genannten Beschuldigten nicht mehr in Betracht kommt (§§ 71, 72 JGG). 6. Wie sah die Betreuung der Tatverdächtigen durch welche Jugendhilfeeinrichtung aus? Siehe Drs. 21/3791. Im Übrigen siehe Antwort zu 4. 7. Wie viele Jugendliche betreut die Jugendhilfeeinrichtung, die die beiden Tatverdächtigen betreute, insgesamt? Wie gestalten sich die Kontrollen durch das Jugendamt? In der JGU sind mit Stichtag 05.04.2016 vier von neun Plätzen belegt. Die zuständige Fachbehörde der Jugendhilfe führt die Aufsicht zum „Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen“ gemäß §§ 45 fortfolgende SGB VIII durch. Eine Betreuung der Minderjährigen/Heranwachsenden findet durch die Jugendgerichtshilfe im Rahmen ihrer Aufgaben (§ 52 SGB VIII und § 38 JGG) statt. Die Einrichtung in Reppenstedt, in der der 14-Jährige betreut wurde, verfügt über vier Plätze. Über die Belegung hat der Senat keine Erkenntnisse, da sich die Einrichtung außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches befindet. 8. Welche Delikte werden den Tatverdächtigen nun von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen? Gegen drei männliche Beschuldigte besteht dringender Tatverdacht wegen gemeinschaftlichen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person und wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung. Gegen den 16-jährigen Beschuldigten, der zwischenzeitlich in die Jugendgerichtliche Unterbringung verlegt worden war, besteht dringender Tatverdacht wegen gemeinschaftlichen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person und wegen unterlassener Hilfeleistung. Einer weiblichen Beschuldigten wird Beihilfe zum gemeinschaftlichen schweren sexuellen Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person und unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen. 9. Welche Konsequenzen zieht der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde aus dem Vorfall? Welche konkreten Maßnahmen, zum Beispiel präventive, werden von welcher Stelle nun ergriffen? Als Konsequenz auf das Entweichen des Jugendlichen wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft noch am 22.03.2016 der Verschonungsbeschluss aufgehoben und der Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt. Es wurden unmittelbar Fahndungsmaßnahmen eingeleitet. Drucksache 21/3884 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 Das Konzept der JGU ist entsprechend den gesetzlichen Vorgaben erprobt. Darüber hinaus wird in einer beim Landesbetrieb Erziehung und Beratung eingerichteten „Arbeitsgruppe Jugendgerichtliche Unterbringung“ die Kooperation zwischen der Einrichtung , den Jugendgerichten, der Staatsanwaltschaft und der Jugendgerichtshilfe vertieft , die Arbeit der Einrichtung beobachtet und ausgewertet und es werden die Behörden in konzeptionellen und fachlichen Fragen sowie bei der Ausgestaltung des Verfahrens beraten.