BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/4035 21. Wahlperiode 19.04.16 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Prof. Dr. Jörn Kruse (AfD) vom 12.04.16 und Antwort des Senats Betr.: Vier Jahre Hamburger Staatsvertrag mit den Muslimen – Eine Bilanz Am 13. November 2012 hat der Hamburger Senat unter Bürgermeister Olaf Scholz als erste Landesregierung in Deutschland einen Staatsvertrag mit den großen islamischen Glaubensgemeinden der Hansestadt Hamburg geschlossen. Diese sind der DITIB Landesverband Hamburg e.V., der Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg e.V. (SCHURA) und der Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. Zu den in der Präambel des Vertragstextes fixierten Motiven gehört auch der Wunsch, „die Freiheit der Religionsausübung der Bürgerinnen und Bürger islamischen Glaubens als Teil einer pluralen und weltoffenen Gesellschaft zu bestätigen und zu bekräftigen“ sowie die Überzeugung, „dass Religion einen wertvollen Beitrag als Mittlerin zwischen unterschiedlichen Kulturen und Traditionen zu leisten vermag“. In Artikel 2 einigen sich beide Seiten verbindlich auf gemeinsame Wertegrundlagen , die als Fundament für das Zustandekommen des Staatsvertrags verstanden werden. In diesem Sinne formulieren die islamischen Glaubensgemeinschaften das Bekenntnis, „Toleranz gegenüber anderen Kulturen , Religionen und Weltanschauungen“ zu üben und verpflichten sich dazu, „Gewalt und Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Glauben oder religiöser oder politischer Anschauungen“ zu ächten und diesen entgegenzutreten. Zu den wichtigsten Konzessionen, die die islamischen Glaubensgemeinschaften in Hamburg durch den Staatsvertrag in Anspruch nehmen können, zählen hingegen die Rechte, an islamischen Feiertagen der Arbeit fernbleiben zu dürfen1, Bildungs- und Kultureinrichtungen zu unterhalten2, die Lehrinhalte von Religionsunterricht an Hamburger Schulen mitfestzulegen3 sowie religiöse Betreuung in besonderen Einrichtungen zu erhalten, was vor allem beinhaltet, in öffentlichen Einrichtungen eine Ernährung zu erhalten, die den religiösen Speisevorschriften des Islam entspricht.4 Diversen Medienberichten kann man entnehmen, dass die islamischen Glaubensgemeinschaften von vielen der ihnen im Staatsvertrag garantierten Rechte seither regen Gebrauch machen. Dies hat offenbar bereits in mehreren Fällen dazu geführt, dass öffentliche Kantinen wie Schulen und Kitas wegen ihren musli- 1 Zu diesen gehören das Opferfest, der Ramadan und die Aschura. Confer Artikel 3 – Islamische Feiertage. 2 Confer Artikel 4 – Bildungswesen. 3 Confer Artikel 6 – Religionsunterricht. 4 Confer Artikel 7 – Religiöse Betreuung in besonderen Einrichtungen. Drucksache 21/4035 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 mischen Gästen teilweise beziehungsweise gar vollständig auf Schweinefleisch verzichten.5 Da seit der Unterzeichnung des Staatsvertrages mittlerweile fast vier Jahre vergangen sind und sich die islamischen Glaubensgemeinschaften in Hinblick auf ihre Aktivität damals dazu verpflichtet haben, „die Ziele von Transparenz und Öffnung“ zu verfolgen, soll nun eine erste Bilanz gezogen werden . Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: 1. Haben sich die muslimischen Glaubensgemeinschaften Hamburgs (MGH), wie in Artikel 2 festgelegt, bislang aktiv für Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen eingesetzt? Falls ja, in welcher Weise? Falls nein, warum nicht? Ja. Die Vertragspartner des genannten Vertrages gehören seit 2012 zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs „Hamburg bekennt Farbe – für Demokratie, Toleranz und Vielfalt “. In diesem Rahmen haben sie sich, ebenso wie die Alevitische Gemeinde, die Jüdische Gemeinde Hamburg sowie die christlichen Kirchen als Vertreterinnen und Vertreter dieses Bündnisses anlässlich einer geplanten Demonstration von Rechtsextremen am 12. September 2015 an der friedlichen Großkundgebung für Demokratie, Toleranz und Vielfalt auf dem Hamburger Rathausmarkt aktiv beteiligt. SCHURA ist zudem Mitglied im Hamburger Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus , hat in dieser Funktion an der Entwicklung des Landesprogramms „Hamburg Stadt mit Courage – Landesprogramm zur Förderung demokratischer Kultur, Vorbeugung und Bekämpfung von Rechtsextremismus“ mitgewirkt und setzt sich im Rahmen dieses Netzwerkes aktiv für eine demokratische und pluralistische Gesellschaft ein. Zudem war SCHURA in der 20. Legislaturperiode im Hamburger Integrationsbeirat vertreten und hat sich an der Erarbeitung des Hamburger Integrationskonzepts „Teilhabe , interkulturelle Öffnung und Zusammenhalt“ beteiligt. In der 21. Legislaturperiode werden SCHURA, DITIB, VIKZ sowie weitere Religionsgemeinschaften als Experten (ohne Stimmrecht) zu den Fachforen des Integrationsbeirats eingeladen. Die islamischen Religionsgemeinschaften haben zudem ihre Öffentlichkeitsarbeit verstärkt und setzen sich nicht nur für den interreligiösen Dialog, sondern auch für den Dialog mit der Zivilgesellschaft ein. Siehe zum Beispiel: • http://schurahamburg.de/index.php/2-uncategorised/158-eroeffnungsrede-desvorsitzenden -der-schura-zur-konferent-in-der-gesellschaft-wirken-muslime-alszivilgesellschaftliche -akteure; • http://ditib-nord.de/content/wir-verurteilen-den-terror-von-br%C3%BCssel-aufssch %C3%A4rfste; • http://vikz.de/index.php/aktuelle-pressemitteilungen-krm/items/jeder-fluechtling-istzu -allererst-ein-mensch-begegnung-von-ekd-und-krm-delegation-inmuenchen .html. 2. Welche Anstrengungen haben die MGH seit November 2012 unternommen , um Gewalt und rassistische beziehungsweise sexistische Diskriminierung zu bekämpfen? Unterhalten sie womöglich Anlaufstellen wie telefonische Notfallrufnummern oder gemeinnützige Einrichtungen, an die sich Opfer von entsprechend gearteter Diskriminierung hilfesuchend wenden können? 5 Confer Drs. 20/8989, 21/3606 und 21/3612. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/4035 3 Die Arbeit der islamischen Religionsgemeinschaften und der ihnen angehörenden Gemeinden geht über die religiöse Betreuung der Gemeindemitglieder hinaus; siehe zum Beispiel: • http://vikz.de/index.php/soziale-dienste.html; • http://ditib-nord.de/content/ditib-hotline-telefonische-familien-und-sozialberatung. In der Antidiskriminierungsberatungsstelle amira werden Menschen, die aufgrund ihrer (gegebenenfalls auch nur zugeschriebenen) Herkunft, Religion, Hautfarbe oder Sprache Diskriminierung erlebt haben, über ihre Rechte und Handlungsmöglichkeiten informiert und beraten, um gegebenenfalls einer unzulässigen Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit wirksam entgegenzutreten (siehe Drs. 21/3166). 3. Inwieweit tragen die MGH zu einem offenen interreligiösen Dialog mit den anderen Religionsgemeinschaften bei? a) In wie vielen Fällen haben Vertreter der MGH bereits aus Eigeninitiative den Kontakt zu den christlichen Religionsgemeinschaften gesucht? Nach eigener Kenntnis des Senats stehen Vertreter der an der Weiterentwicklung des Religionsunterrichts beteiligten islamischen Religionsgemeinschaften (siehe Antworten zu 7. bis 9.) kontinuierlich in intensivem Austausch mit Vertretern der Evangelisch- Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland und das Erzbistum Hamburg haben darüber hinaus mitgeteilt, dass es bereits seit vielen Jahren und nicht erst seit Abschluss der Verträge der Stadt mit islamischen Religionsgemeinschaften regelmäßige Kontakte zwischen den Kirchen und den islamischen Gemeinschaften sowohl in den Stadtteilen und Quartieren als auch auf landeskirchlicher Ebene gebe. Dies betreffe aktuell insbesondere die regelmäßigen Kontakte im Rahmen des interreligiösen Forums sowie eine Vielzahl von Veranstaltungen auf gemeindlicher Ebene. Diese Kontakte seien so eingespielt, dass nicht im Einzelnen gesagt werden könne, von wem jeweils die Initiative ausgegangen sei. b) Bestehen Kontakte zwischen den MGH und der jüdischen Gemeinde in Hamburg? Nach eigener Kenntnis des Senats arbeiten Vertreter der an der Weiterentwicklung des Religionsunterrichts beteiligten islamischen Religionsgemeinschaften regelmäßig und intensiv auch mit Vertretern der Jüdischen Gemeinde in Hamburg zusammen, siehe auch Drs. 21/2581. Die Jüdische Gemeinde in Hamburg hat darüber hinaus bestätigt, dass Kontakte zu den islamischen Religionsgemeinschaften bestehen. 4. Beteiligen sich die MGH daran, den Salafismus in Hamburg proaktiv zu bekämpfen? Falls ja, inwiefern? Falls nein, warum nicht? Ja. Siehe Drs. 20/13083, Drs. 20/13460, Drs. 21/476, Drs. 21/954, Drs. 21/1703, Drs. 21/1706, Drs. 21/1987, Drs. 21/2483, Drs. 21/2578, Drs. 21/2623, Drs. 21/2965. 5. In den Medien wird immer wieder darüber berichtet, dass Muslima in Hamburg Opfer von häuslicher Gewalt durch männliche Familienangehörige (Ehepartner, Verwandte) werden.6 Unterhalten die MGH daher eigene Frauenhäuser in Hamburg, die den speziellen Besonderheiten muslimscher Opfer in gebührender Weise Rechnung tragen? Wenn ja, wie viele? Falls nein, warum nicht? 6 Confer „Guck mal – Mann übergießt Ehefrau mit heißem Öl.“ „Die Welt“ online vom 29.2.2016. Drucksache 21/4035 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 Nein. Im Übrigen zu Antwort zu 2. 6. Setzen sich die MGH auf der Grundlage von Artikel 2 des Staatsvertrags auch öffentlich für die Stärkung der Rechte von Homosexuellen beziehungsweise von Angehörigen des breit gefächerten sexuellen Spektrums , wie zum Beispiel Transgendern, ein? Sind die MGH dabei bisher aus Eigeninitiative an den Hamburger Lesben- und Schwulenverband (LSVD) beziehungsweise ähnliche Initiativen herangetreten, um zur Sensibilisierung des Themas beizutragen? Artikel 2 des Vertrages fordert keinen öffentlichen Einsatz im Sinne der Fragestellung. Ansonsten ist dem Senat hierüber nichts bekannt. 7. Gemäß Artikel 6 soll nach fünf Jahren ein in Zusammenhang mit den MGH erarbeiteter Lehrplan für den Religionsunterricht an Hamburger Schulen vorgestellt werden. Wie weit ist dieses Unternehmen bisher gediehen? Siehe Drs. 21/2581. 8. Inwieweit stehen die MGH der Entscheidung muslimischer Schüler offen gegenüber, nicht islamischen Religionsunterricht zu besuchen? Die Vereinbarungen mit den Religionsgemeinschaften zielen auf eine Weiterentwicklung des bestehenden Religionsunterrichts, die eine gleichberechtigte Verantwortung seiner Inhalte durch alle beteiligten Religionsgemeinschaften ermöglicht. Dies beinhaltet auch die Thematisierung von Inhalten, die nicht islamische Religionsgemeinschaften verantworten, im Rahmen eines für jede Schülerin und jeden Schüler offenen „Religionsunterrichts für alle“. Die islamischen Religionsgemeinschaften unterstützen diesen Ansatz und arbeiten an seiner Entwicklung mit. 9. Inwiefern spielen die in Artikel 2 festgeschriebenen Wertegrundlagen, wie zum Beispiel religiöse Toleranz und Weltoffenheit, bei der Ausgestaltung des islamischen Religionsunterrichts in Kooperation mit den MGH eine Rolle? Wird das islamische Dogma, demzufolge Juden und Christen nach dem Tod in Hölle kommen, im Unterricht thematisiert? Von den Vertretern der an der Weiterentwicklung des Religionsunterrichts beteiligten islamischen wie aller anderen beteiligten Religionsgemeinschaften wird religiöse Toleranz als eines der Grundprinzipien und grundlegenden Ziele des weiterentwickelten dialogischen „Religionsunterrichts für alle“ betrachtet. Die von den islamischen Religionsgemeinschaften vorgeschlagenen Konzepte und Modelle betonen die Hochachtung , die vonseiten des Islam Juden und Christen entgegengebracht wird und werden soll.