BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/4570 21. Wahlperiode 31.05.16 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Martin Dolzer (DIE LINKE) vom 24.05.16 und Antwort des Senats Betr.: Rassistische Kontrollen in St. Pauli Das Oberverwaltungsgericht Hamburg hat die Einrichtung von Gefahrengebieten durch die Polizei als verfassungswidrig bewertet. Die Umbenennung in „Gefährliche Orte“ wird, so befürchten Experten/-innen, kaum eine Änderung der Praxis nach sich ziehen. Immer mehr Anwohner/-innen in St. Pauli beschweren sich über fast tägliche Polizeieinsätzen gegen Schwarze, die oft auch als Übergriffe geschildert werden. Dort gab es bisher ein Gefahrengebiet. Meist sagen die Beamten/ -innen, dass sie nach Drogen fahnden. Vereinzelt wurde jedoch auch zugegeben , dass der Anlass der Kontrolle die Hautfarbe der Betroffenen und kein konkretes Verdachtsmoment ist. Anwohner/-innen kritisieren zudem die Einsätze der Polizei als „völlig unverhältnismäßig.“ Immer wieder gingen Polizisten /-innen auf Privatgrundstücke, um Verdächtige zu verfolgen. Einige Bewohner/-innen der Hafenstraße haben jetzt eine Anwältin eingeschaltet und Akteneinsicht gefordert. Racial Profiling ist, wenn die Polizei Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe verdächtigt und kontrolliert. An manchen Tagen sind im Gefahrengebiet St. Pauli bis zu 54 Personen überprüft worden. Racial Profiling ist allerdings eine verfassungswidrige rassistische Praxis. Nach einer mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz am 29.10.2012 erkannte die Bundespolizei nach umfangreicher Beweisaufnahme für die beklagte Bundesrepublik Deutschland die Rechtswidrigkeit der Befragung und Kontrolle einzig beziehungsweise ausschlaggebend wegen der Hautfarbe des Klägers als rechtswidrig und gegen das Diskriminierungsverbot aus Artikel 3 Absatz 3 GG verstoßend an. Die Bundesrepublik entschuldigte sich daraufhin offiziell bei dem Kläger. Nun wurde zudem eine Taskforce eingerichtet. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Nach polizeilichen Erkenntnissen hat sich in St. Pauli im Bereich der Balduintreppe sowie der angrenzenden Straßen eine Szene aus Betäubungsmittel(BtM)-Händlern gebildet, die dort ganztägig Betäubungsmittel an Besucher des Vergnügungsviertels St. Pauli sowie an sonstige Konsumenten verkaufen. Das betroffene Gebiet erstreckt sich über die Straßenzüge Bernhard-Nocht-Straße, Balduinstraße, Balduintreppe sowie teilweise Erichstraße, in den Nachtstunden bis zur Silbersackstraße. Drucksache 21/4570 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Im genannten Gebiet werden täglich 15 bis 25 BtM-Händler und am Wochenende in der Spitze bis zu 30 BtM-Händler festgestellt, die zum Teil sehr offensiv Betäubungsmittel anbieten und sich dabei teilweise gegenüber Passanten und Anwohnern auch aggressiv verhalten. Es gibt dazu eine erhebliche Hinweislage von Anwohnern des betroffenen Gebiets gegenüber der Polizei. Darüber hinaus beschweren sich Gewerbetreibende und Anwohner, darunter auch Bewohner der sogenannten Hafenstraßen- Häuser und die Schulleitung der Schule Friedrichstraße, bei der Polizei über die Anwesenheit der BtM-Händler. An dem wahrnehmbaren BtM-Handel beteiligen sich nach den polizeilichen Erkenntnissen überwiegend Personen afrikanischer Herkunft. Die Anzahl der in dem genannten Gebiet von der Polizei festgestellten BtM-Händler hat sich in den letzten Monaten stetig erhöht; siehe auch Drs. 20/13465. Aus diesem Grund führt die Polizei seit dem 20. April 2016 verstärkt Schwerpunkteinsätze zur Bekämpfung der öffentlich wahrnehmbaren Drogenkriminalität in den genannten Bereichen durch. Die Schwerpunkteinsätze werden sowohl mit repressivem Ansatz durch den gezielten Einsatz von Zivilfahndern als auch durch präventiv wirkende offensive Präsenzmaßnahmen uniformierter Kräfte durchgeführt. Die vorgenannten Örtlichkeiten liegen innerhalb des eingerichteten Gefahrengebietes „BtM-Kriminalität St. Pauli“. Adressaten gezielter polizeilicher Maßnahmen sind Personen, die aufgrund des Antreffortes und ihres Verhaltens als potenzielle BtM-Händler oder BtM-Erwerber (Konsumenten) wegen folgender Kriterien in Betracht kommen: Potenzielle BtM-Händler, - die im Alter zwischen 16 und 40 Jahren sind oder - die im Gefahrengebiet aktiv auf potenzielle Btm-Erwerber zugehen oder - die durchgängige Präsenz zeigen und sich in großen Teilen des Gefahrengebietes bewegen oder - die ein konspiratives Verhalten zeigen, indem sie arbeitsteilig vorgehen, sich gegenseitig abschirmen und eine Gegenaufklärung durchführen oder - die ein ausgeprägtes Fluchtverhalten gegenüber der Polizei zeigen. Potenzielle Btm-Erwerber, - die bekannte Örtlichkeiten aufsuchen, an denen sich Btm-Dealer aufhalten, - die konspiratives Verhalten bei der Ausschau nach Btm-Dealern zeigen. Im Übrigen handelt die Polizei nach rechtsstaatlichen und verfassungsgemäßen Grundsätzen; dabei sind die Herkunft und/oder die Hautfarbe von Personen keine Kriterien für polizeiliches Einschreiten. Seit mehreren Monaten werden polizeiliche Maßnahmen gegen tatverdächtige BtM- Dealer im Bereich der Balduintreppe immer wieder durch verbale Proteste von in der Spitze bis zu 30 Personen aus dem Umfeld der sogenannten Hafenstraßen-Häuser gestört. Die einschreitenden Polizeibeamten werden zum Teil auch physisch bedrängt und die Personen versuchen, die Polizeibeamtinnen und -beamten mit verbalen Äußerungen von ihrem Handeln abzuhalten. Soweit Personen Maßnahmen der Polizei für rechtswidrig halten, sollten sie unter Angabe ihrer Personalien den konkreten Sachverhalt benennen. Nur dann sind sinnvolle Prüfungen möglich. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Hält der Senat die Praxis der Polizei in der Umgebung der Hafenstraße für Racial Profiling? Wenn ja: Warum unterbindet er diese Praxis nicht? Wenn nein: Wie erklärt sich der Senat die Aussagen einzelner Beamte, die eingestehen, nach der Hautfarbe zu kontrollieren? Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/4570 3 Nein; darüber hinaus nimmt die Polizei zu angeblichen Äußerungen einzelner Beamter keine Stellung. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 2. Ist dem Senat bekannt, dass immer wieder völlig unnötige Gewalt durch Polizeibeamte bei den Kontrollen angewandt wird (eine Vielzahl von Augenzeugen /-innen berichtet dies)? Wenn ja: Warum unterbindet er diese Praxis nicht? Wenn nein: warum? Erkenntnisse im Sinne der Fragestellung liegen der Polizei nicht vor; im Übrigen siehe Vorbemerkung. 3. Wie schätzt der Senat die Bedrohungslage im betreffenden Gebiet ein? 4. Hat sich die Bedrohung nach Meinung des Senats in den letzten Wochen verschärft? Siehe Vorbemerkung. 5. Auf welcher gesetzlichen Grundlage wird in dem oben genannten Gebiet momentan kontrolliert? Siehe Drs. 20/13465. 6. Auf welcher gesetzlichen Grundlage entscheiden welche Polizeidienststellen über die Einsätze in der Hafenstraße und welche weiteren Dienststellen werden davon ins Benehmen gesetzt? Die Verfolgung von Straftaten und die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gehören zu den gesetzlichen Aufgaben der Polizei. Die Aufgabenzuweisung zur Strafverfolgung ergibt sich aus der Strafprozessordnung (StPO), die Durchführung von Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ergeben sich aus dem Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG) sowie dem Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei (PolDVG). Das örtlich zuständige Polizeikommissariat (PK) 15 beziehungsweise die jeweils einsatzführende Dienststelle setzt die vorhandenen personellen Ressourcen im Rahmen aktueller Lageerkenntnisse und unter Berücksichtigung der erforderlichen Prioritätensetzungen ein. Über Einsätze im Sinne der Fragestellung werden regelhaft folgende Polizeidienststellen informiert: Direktion Einsatz (DE) 21 (Einsatz), DE 11 (Lagezentrum), DE 12 (Polizeieinsatzzentrale), DE 3 (Landesbereitschaftspolizei), PK 11-16, PK 21, Landeskriminalamt 68 (Fachkommissariat für Front-Deal und Konsumentendelikte ), Polizeipressestelle, Bundespolizei. 7. Hält der Senat für rechtsstaatlich, dass weiterhin die Polizei über die Einrichtung von jetzt „Gefährlichen Orten“ entscheiden soll und die Befugnisse erweitert wurden? Der Senat hat sich hiermit noch nicht befasst. Die Behörde für Inneres und Sport sowie die Justizbehörde haben sich auf eine verfassungskonforme Neuregelung verständigt , die Gegenstand eines noch im Senat zu behandelnden Gesetzentwurfes sein wird. Die Vorschrift zur Identitätsfeststellung an sogenannten gefährlichen Orten und in unmittelbarer Nähe von gefährdeten Objekten soll im Übrigen nicht neu einge- Drucksache 21/4570 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 führt werden. Es gibt sie bereits seit 1990. Auch die in Aussicht genommene neue Befugnis zur Durchsuchung von mitgeführten Sachen hat sich im Grundsatz bereits in den Polizeigesetzen anderer Länder bewährt. 8. Hält der Senat die ständige Polizeipräsenz in der Hafenstraße für Verhältnismäßig ? Wenn ja: warum? Wenn nein: Was tut der Senat, um diese Praxis zu beenden? Siehe Vorbemerkung sowie Antwort zu 6. 9. Hält der Senat für verhältnismäßig, dass die Kontrollen zum Teil auf privaten Grundstücken stattfinden und damit das Eigentum und die Privatsphäre der Anwohner/-innen verletzt werden? Wenn ja: warum? Wenn nein: Was tut der Senat, um diese Praxis zu beenden? Siehe Drs. 21/733. 10. Erfolgen die Einsätze auch aufgrund von Anrufen der Anwohner/-innen und Beobachtungen von Beamten in Zivil? (Bitte nach jeweiliger Anzahl aufschlüsseln.) Die Polizei berücksichtigt bei ihrer Lagebeurteilung neben eigenen Feststellungen auch Informationen Dritter. Darüber hinaus werden Statistiken im Sinne der Fragestellung nicht geführt; für die Beantwortung wäre eine Durchsicht sämtlicher Vorgänge der jeweils zuständigen Dienststelle bei der Polizei erforderlich. Die Auswertung von mehreren Zehntausend Vorgängen ist in der für die Beantwortung einer Schriftlichen Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Im Übrigen siehe Vorbemerkung . 11. In welchen und wie vielen Fällen beschlagnahmen die Polizisten/-innen Gegenstände wie zum Beispiel Handys, die die Kontrollierten mit sich führen? (Bitte nach Grund, Gegenständen und Anzahl aufschlüsseln.) Eine Sicherstellung beziehungsweise Beschlagnahme von Gegenständen führt die Polizei durch, wenn dies zur Gefahrenabwehr beziehungsweise zur Strafverfolgung erforderlich und rechtlich zulässig ist. Darüber hinaus werden Statistiken im Sinne der Fragestellung bei der Polizei nicht geführt. Für die Beantwortung wäre eine Durchsicht sämtlicher Vorgänge der jeweils zuständigen Dienststelle bei der Polizei erforderlich. Die Auswertung von mehreren Zehntausend Vorgängen ist in der für die Beantwortung einer Schriftlichen Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 12. Was geschieht anschließend mit diesen Gegenständen? Von der Polizei sichergestellte/beschlagnahmte Gegenstände werden in Verwahrung genommen. Je nach Anlass werden die Gegenstände dem Betroffenen wieder ausgehändigt oder sie verbleiben für das weitere Verfahren bei der Polizei/Staatsanwaltschaft (zum Beispiel als Beweismittel, zur technischen Untersuchung, Einziehung, Verfall). 13. In wie vielen Fällen wurde Betroffenen Geld abgenommen? (Bitte nach Grund und Menge aufschlüsseln.) Siehe Antwort zu 11. 14. Was geschieht dann mit dem Geld? (Bitte einzeln aufschlüsseln.) Siehe Antwort zu 12. 15. Wie viele Personalienfeststellungen, Ingewahrsamnahmen und Inhaftierungen gab es seit Anfang 2016 im Bereich Hafenstraße, Bernhard- Nocht-Straße, Balduinstraße, Park Fiction? (Bitte nach Tagen, Anzahl und Art der Maßnahme aufschlüsseln.) Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/4570 5 Statistische Daten im Sinne der Fragestellung werden von der Polizei nur für den gesamten Bereich des Gefahrengebietes „BtM-Kriminalität St. Pauli“ erhoben; eine Erhebung zu bestimmten Straßenzügen oder Plätzen erfolgt nicht. Die angegebenen Daten zu durchgeführten polizeilichen Maßnahmen sind das Ergebnis einer internen Auswertung des PK 15, die vorrangig der Steuerung der polizeilichen Arbeit dient. Zeitliche Verzögerungen bei der Erhebung sowie nachträgliche Korrekturen können je nach Abfragezeitpunkt zu unterschiedlichen Ergebnissen führen . Bei der Erfassung erfolgt keine Unterscheidung in BtM-Händler oder -Erwerber. Im Zeitraum 1. Januar 2016 bis 24. Mai 2016 hat die Polizei insgesamt in dem Gefahrengebiet 1.680 Identitätsfeststellungen, 62 Ingewahrsamnahmen und 87 vorläufige Festnahmen durchgeführt; zu den im Einzelnen erfassten Maßnahmen siehe folgende Tabelle: Maßnahme Januar Februar März April Mai Gesamt § 4 PolDVG 281 209 263 289 164 1.206 § 163 StPO 74 83 96 138 83 474 § 13 SOG 14 14 16 12 6 62 § 127(2) StPO 18 16 21 16 16 87 16. Welche Mengen an Betäubungsmitteln wurden bei den Polizeimaßnahmen seit Anfang 2016 gefunden? (Bitte Aufschlüsseln nach Einzelmengen und durchschnittlicher Einzelmenge pro Kontrolle.) Siehe Antwort zu 11. 17. Wie viele Platzverweise wurden seit Anfang 2016 an People of Color in St.Pauli erteilt? a) Welches Gebiet umfassten diese Platzverweise? b) Wie viele Platzverweise waren es 2015 insgesamt? c) Auf welcher Rechtsgrundlage beruhen diese Platzverweise? d) Wie viele der Betroffenen waren zuvor rechtskräftig wegen Handels mit BTM verurteilt worden? Siehe Antwort zu 11.; darüber hinaus siehe Vorbemerkung. 18. Wie viele Beamte/-innen werden in dem oben genannten Bereich (Balduintreppe, Hafenstrasse) durchschnittlich jeden Tag eingesetzt? Die Fragestellung berührt die Einsatztaktik der Polizei. Um die polizeilichen Maßnahmen nicht zu gefährden, sieht der Senat von einer Antwort ab; im Übrigen siehe Antwort zu 6. 19. Wie hoch sind die Kosten für den gesamten Einsatz der Polizei pro Woche? (Bitte aufschlüsseln nach „Normalbetrieb“ und „Taskforce“.) Kosten für Einsätze der Polizei werden nicht für jeden Einsatz gesondert erhoben; diese Kosten werden generell aus dem zur Verfügung stehenden Haushaltsbudget gedeckt.