BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/4615 21. Wahlperiode 03.06.16 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Richard Seelmaecker (CDU) vom 27.05.16 und Antwort des Senats Betr.: Welche Konsequenzen ziehen Hamburgs Behörden aus dem tragischen Tod der Amanda K.? Am 19. Januar 2016 hat der 28-jährige Hamin E. aus Hamburg in Berlin die 20-jährige Amanda K. vor eine einfahrende U-Bahn gestoßen und sie dadurch völlig sinnlos getötet. Schon 2004 warnten Ärzte vor ihm. Hamin E. war Hamburgs Behörden und Gerichten nämlich bestens bekannt; seit Jahren wurde er nicht nur immer wieder straffällig, sondern befand sich auch fast durchgängig in psychiatrischen Kliniken, wie die Antworten des Senats auf meine Schriftlichen Kleinen Anfragen Drs. 21/2958 und 21/3396 ergaben. Viele psychisch kranke Straftäter werden nicht verurteilt, da sie schuldunfähig sind. § 20 Strafgesetzbuch (StGB) sieht vor, dass: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“ Der schuldunfähige Täter kann zwar nicht bestraft werden, aber psychisch kranke oder suchtkranke Rechtsbrecher, die im Sinne von § 20 oder § 21 StGB als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig gelten und bei denen zugleich unter Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat eine weitere Gefährlichkeit zu erwarten ist, können nach § 63 und § 64 StGB im Maßregelvollzug untergebracht werden. Aber auch im Justizvollzug ist ein Teil der Insassen psychisch krank oder besonders auffällig. Nach Angaben des Senats in der Antwort auf meine Schriftliche Kleine Anfrage Drs. 21/3396 befanden sich am 31. Januar 2016 295 Gefangene in psychiatrischer Behandlung; darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Gefangene, die psychisch auffällig sind. Die steigende Anzahl von psychisch auffälligen Gefangenen, insbesondere derer, die aufgrund ihrer psychischen Auffälligkeiten eine Fremd- oder Selbstgefährdung aufweisen , ist in vielfacher Hinsicht eine große Herausforderung für den Justizvollzug . Oftmals sind diese Insassen unberechenbar und stellen für die Strafvollzugsbediensteten ein hohes Risiko dar. Ohne eine angemessene psychiatrische Versorgung haben die betroffenen Gefangenen zudem nur geringe Erfolgsaussichten auf Resozialisierung und ein straffreies Leben nach ihrer Haftentlassung. Auch bei Hamin E. lag bereits während der Zeit seiner Inhaftierung in der JVA Hahnöfersand von 2002 bis 2004 eine derartige psychische Störung vor. Nach Einschätzung von vier Ärzten gehörte er nicht in die Haft: Ein Verbleib im Vollzug würde sich „massiv nachteilig auf den weiteren Verlauf seiner Erkrankung auswirken“, eine zeitnahe Behandlung in einer geeigneten Drucksache 21/4615 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 jugendpsychiatrischen Einrichtung sei „unverzichtbar“, um weiteren Schaden abzuwenden, heißt es – laut einem Artikel des „Hamburger Abendblatts“ vom 7. März 2016 – im damaligen Vermerk des Anstaltspsychologen an die Justizbehörde . Schleswig-Holstein reagierte inzwischen auf die steigende Anzahl der psychisch auffälligen Gefangenen mit der Einrichtung einer besonderen Abteilung für psychiatrisch erkrankte Gefangene in der JVA Neumünster. Justizsenator Steffen und Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks haben als Konsequenz aus der tragischen Tat in Berlin Anfang März die Einsetzung einer 13-köpfigen Arbeitsgruppe angekündigt, die bis zum Ende des Jahres einen Sachstandsbericht mit Verbesserungsvorschlägen vorlegen soll. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: 1. Wie hat sich die Anzahl der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren , die wegen Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB eingestellt wurden, seit dem Jahr 2010 in Hamburg entwickelt? Jahr 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 (1. Quartal ) Anzahl der aufgrund § 20 StGB eingestellten Ermittlungsverfahren 389 422 377 484 448 486 125 2. Wie hat sich die Anzahl der Strafverfahren, die wegen Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB eingestellt wurden, seit dem Jahr 2010 in Hamburg entwickelt? Eine Einstellung gemäß § 20 StGB erfolgt im gerichtlichen Verfahren nicht. Sofern sich erst in der Hauptverhandlung herausstellt, dass der Täter schuldunfähig ist, ist er freizusprechen. Eine Maßregel der Besserung und Sicherung (zum Beispiel Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt) kann entweder nach Freispruch oder im Sicherungsverfahren gemäß § 413 fortfolgende StPO erfolgen. 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016* Abgeurteilte wegen Schuldunfähigkeit § 20 StGB 19 33 18 17 22 14 k.A. davon ohne Anordnung einer Unterbringung 2 3 2 2 3 0 k.A. davon mit Anordnung einer Unterbringung 17 30 16 15 19 14 k.A. *) Für 2016 liegt die Strafverfolgungsstatistik noch nicht vor. 3. Wie hat sich die Anzahl der Personen, gegen die aufgrund einer Straftat strafrichterlich als Maßregel der Besserung und Sicherung die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet wurde, seit dem Jahr 2010 in Hamburg entwickelt? 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016* Angeordnete Maßregeln, hier Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern 25 33 21 19 19 15 k.A. *) Für 2016 liegt die Strafverfolgungsstatistik noch nicht vor. Eine Unterbringung kann nach § 63 StGB nicht nur im Falle von Schuldunfähigkeit im Sinne des § 20 StGB, sondern auch im Falle verminderter Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB verhängt werden. 4. Wie ist der aktuelle Sachstand zu der von den Senatoren Steffen und Prüfer-Storcks eingesetzten Arbeitsgruppe? a. Wer ist Mitglied dieser Arbeitsgruppe? An der behördenübergreifenden Arbeitsgruppe zum Umgang mit psychisch Kranken mit Risikoprofil wirken Vertreterinnen und Vertreter Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/4615 3 • der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz, • der Justizbehörde (einschließlich Staatsanwaltschaft und Gerichtsbarkeit), • der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, • der Behörde für Inneres und Sport (einschließlich Polizei), • der Bezirksämter (Fachämter für Gesundheit; Fachamt für Hilfen nach dem Betreuungsgesetz), • der psychiatrischen Versorgung einschließlich der forensisch-psychiatrischen, • der Eingliederungshilfe, • des Landesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen e.V., • des Landesverbandes der Angehörigen Psychisch Kranker in Hamburg e.V. mit. b. Wie oft hat sie bereits getagt? Im Rahmen der behördenübergreifenden Arbeitsgruppe finden zu verschiedenen Themenstellungen in unterschiedlicher Besetzung Sitzungen statt. Zuletzt fand zum Umgang mit psychisch Kranken mit Risikoprofil eine Sitzung am 2. Juni 2016 statt. Eine weitere Sitzung ist noch für Juni geplant. c. Welche Erkenntnisse liegen den zuständigen Behörden jetzt schon vor? Über Ergebnisse der behördenübergreifenden Arbeitsgruppe zum Umgang mit psychisch Kranken mit Risikoprofil kann erst Abschluss der Beratungen berichtet werden. Im Übrigen siehe Drs. 21/4160. 5. Wie beurteilt die zuständige Behörde die Maßnahme Schleswig-Holsteins , in der JVA Neumünster eine besondere Abteilung für psychiatrisch erkrankte Gefangene einzurichten? Inwiefern kommt die Einrichtung einer entsprechenden Abteilung in Hamburg in Betracht? Die zuständige Behörde steht über den Stand der Einrichtung einer Abteilung für psychiatrisch erkrankte Gefangene in der JVA Neumünster in einem engen Informationsaustausch mit dem Ministerium für Justiz, Kultur und Europa des Landes Schleswig- Holstein. Eine abschließende Beurteilung, ob eine entsprechende Einrichtung auch für den Hamburger Justizvollzug in Betracht kommt, liegt noch nicht vor.