BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/4864 21. Wahlperiode 21.06.16 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Karin Prien, Philipp Heißner und Richard Seelmaecker (CDU) vom 14.06.16 und Antwort des Senats Betr.: Sind dem Senat Fälle von Kinderehen oder Polygamie unter Flüchtlingen bekannt? Bis zum 23. Juni hat die Stadt Aschaffenburg die Möglichkeit, Beschwerde gegen ein Urteil des Oberlandesgerichts Bamberg einzulegen, das eine nach Scharia-Recht geschlossene Kinderehe zwischen einer 15-Jährigen und einem 21-Jährigen für gültig erklärt hat. Zuvor hatte das Jugendamt in Aschaffenburg die Ehe zwischen den beiden Syrern nicht anerkannt und die minderjährige Ehefrau von ihrem Ehemann, der übrigens zugleich ihr Cousin ist, getrennt und ihr einen Vormund gestellt. Das örtliche Familiengericht hatte die Rechtmäßigkeit des Handelns des Jugendamtes in seinem Urteil bestätigt. Doch das Oberlandesgericht beurteilte den Fall anders. Da nach Angaben der Hilfsorganisation SOS-Kinderdörfer die Zahl der Kinderehen in Flüchtlingsunterkünften drastisch zugenommen hat − inzwischen sei angeblich bei der Hälfte der Eheschließungen von Syrern mindestens einer der beiden Ehepartner minderjährig, zuvor seien es nur 13 Prozent gewesen −, wird die Frage nach Gültig- und Ungültigkeit solcher Ehen auch in Deutschland an Bedeutung gewinnen. Zwangsehen sind aus gutem Grund seit 2011 in Deutschland strafbewährt verboten, § 237 StGB. Der Staat muss gerade auch minderjährige Flüchtlinge umfassend schützen. Auch Polygamie ist verboten, allerdings können deutsche Behörden Mehrfachehen anerkennen. Dies will die Bundesregierung künftig unterbinden. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: Im gesetzlichen Sinne sind Kinder Personen, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Personen, die das 14. Lebensjahr vollendet aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben, sind Jugendliche. Der Begriff der Kinderehe wäre daher nur auf Personen anwendbar, die noch nicht das 14. Lebensjahr vollendet haben. Im Ausland rechtmäßig geschlossene Ehen sind im Inland – ohne dass es hierzu eines formellen Verfahrens bedarf – grundsätzlich anzuerkennen. Einer Minderjährigen-Ehe kann bei einem Verstoß gegen den ordre public (Artikel 6 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche (EGBGB)) die Anerkennung versagt werden. Die Frage nach dem Mindestalter wird in der Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet. Einigkeit besteht hinsichtlich eines Mindestalters von 14 Jahren. Ehen von Minderjährigen sind nach deutschem Recht nach Maßgabe von § 1303 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ab einem Mindestalter von 16 Jahren möglich, sofern der andere Ehegatte volljährig ist. Drucksache 21/4864 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Der Senat beantwortet nachstehende Fragen zum Teil auf Grundlage von Angaben der im Auftrag der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration fachlich zuständigen Träger wie folgt: 1. Sind dem Senat nach Scharia-Recht geschlossene Ehen unter Hamburg zugewiesenen Flüchtlingen bekannt, bei denen mindestens einer der Ehepartner minderjährig ist? Wenn ja, wie viele? Bitte aufschlüsseln nach Herkunft, Geschlecht und den Altersgruppen unter 14 Jahre, 14 bis 16 Jahre, 16 bis 18 Jahre. Siehe Drs. 21/4861. 2. Wie agiert das Jugendamt in Hamburg in solchen Fällen? Siehe Drs. 21/2363. 3. Erkennen Hamburger Behörden derartige Ehen an? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht? Welche Folgen hat dies jeweils für die Betroffenen? Siehe Drs. 21/2363 und 21/4861. Sofern die Ehe nicht im Verfahren nach § 34 Personenstandsgesetz (PStG) beurkundet wurde, handelt es sich jeweils um Einzelfallentscheidungen der zuständigen Stellen. 4. In Drs. 21/2363 heißt es, dass für den Familiennachzug für beide Ehegatten ein Mindestalter von 18 Jahren notwendig sei. Wie passt das aber mit dem Umstand zusammen, dass in Hamburg eine Kinderehe zumeist anerkannt wird? Aufenthaltsrechtlich ist lediglich der Nachzug eines minderjährigen Ehegatten eines Flüchtlings durch Bundesrecht verwehrt, siehe dazu Drs. 21/2363. Ausgeschlossen ist damit die Erteilung eines Visums oder einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs an den minderjährigen Ehegatten eines Flüchtlings. Nicht ausgeschlossen ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf einer anderen Rechtsgrundlage an den minderjährigen Ehegatten eines Flüchtlings, etwa aus eigener Flüchtlingseigenschaft . Ob im Übrigen eine im Ausland geschlossene Ehe zweier im Inland lebender Personen für den deutschen Rechtsbereich wirksam ist, kann bei Vorliegen der Antragsvoraussetzungen auf Antrag im Verfahren nach § 34 PStG geprüft werden (siehe Drs. 21/2363). Wird danach die Eheschließung anerkannt und im Eheregister beurkundet, so gilt dies für sämtliche anderen Rechtsbereiche des deutschen Rechts. Besteht keine Antragsberechtigung für das Verfahren nach § 34 PStG, so hat jeder Rechtsanwender selbst über die Wirksamkeit der Ehe für den konkreten Zweck zu entscheiden. 5. Hat das Urteil des Oberlandesgerichts Bamberg Auswirkungen auf den Umgang mit solchen Fällen in Hamburg? Wenn ja, welche? Wenn nein, warum nicht? Nein, denn Richterinnen und Richter unterliegen gemäß Artikel 97 GG bei ihren Entscheidungen und der Entscheidungsfindung der richterlichen Unabhängigkeit. Die Rechtsprechung anderer Gerichte, insbesondere die höchstrichterliche Rechtsprechung , fließt vielfach in die jeweilige Entscheidungsfindung ein. Die Richterinnen und Richter sind aber nicht an den Beschluss des Oberlandesgericht Bamberg vom 12. Mai 2016 (Az. 2 UF 58/16) gebunden. Inwiefern der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg Auswirkungen auf die Entscheidungsfindung der mit entsprechenden Fällen befassten Richterinnen und Richter haben wird, kann daher nicht vorhergesagt werden. Zu den Voraussetzungen der Anerkennung einer im Ausland geschlossenen Ehe siehe im Übrigen Antwort zu 7. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/4864 3 6. Sind dem Senat Fälle von Polygamie unter den Flüchtlingen bekannt? Wenn ja, wie viele? Eine statistische Erfassung sogenannten Mehrfachehen erfolgt weder bei den Behörden und Gerichten noch seitens der fachlich zuständigen Träger. Bei der Justiz könnte diese Konstellation allein in Bezug auf familiengerichtliche Verfahren in sämtlichen Familienrechtsverfahren i.S.d. § 111 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) – Familiensachen – auftreten, sodass zur Beantwortung der Fragestellung allein in Bezug auf familienrechtliche Verfahren eine händische Auswertung sämtlicher Familienrechtsverfahren – pro Jahr circa 40.000 – erforderlich wäre. Dies ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Auch aus der Erfassung strafrechtlicher Verfahren ergeben sich insoweit keine Erkenntnisse. Von dem Tatbestand des § 172 StGB (Doppelehe) werden nur Ehen erfasst, die in Deutschland geschlossen werden. Die Fortführung einer im Ausland geschlossenen Doppelehe ist hingegen nicht strafbar. Es gab im Jugendamt Wandsbek einige wenige Fälle (unter fünf), in denen polygame Familienkonstellationen im Zusammenhang mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen zu Tage traten, die gemeinsam mit Verwandten eingereist sind. Des Weiteren ist in den Bezirksämtern Harburg und Hamburg-Nord jeweils ein Fall bekannt. Im Übrigen ist es durchaus möglich, dass Behörden, etwa in der standesamtlichen Praxis bei der Bearbeitung personenstandsrechtlicher Verfahren, Fälle von Polygamie bekannt werden. Diese werden jedoch statistisch nicht erfasst. Aus der ausländerbehördlichen Sachbearbeitung sind keine Fälle unter Flüchtlingen bekannt. 7. Welche Behörden erkennen die Mehrfachehe an? Wie begründen sie diese Anerkennung? Welche Auswirkungen hat dies auf die Praxis? Das Eingehen einer weiteren Ehe bei bestehender Ehe ist in Deutschland nach § 1306 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) unzulässig und kann nach § 172 Strafgesetzbuch mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden. Aus diesem gesetzlichen Verbot der Mehrehe in Deutschland folgt jedoch nicht, dass tatsächlich im Ausland oder unerkannt im Inland erfolgte weitere Eheschließungen automatisch unwirksam wären. Eine im Inland geschlossene Ehe eines/einer bereits Verheirateten ist trotz des gesetzlichen Verbotes der Mehrehe in § 1306 BGB wirksam , aber nach 1314 BGB auf Antrag eines der Ehegatten oder der zuständigen Behörde aufhebbar. Eine im Ausland geschlossene Mehrehe kann im Inland nach den Grundsätzen des internationalen Privatrechts Rechtswirkungen entfalten, so beispielsweise im Hinblick auf die gesetzliche Vaterschaft für ein Kind. Nach § 1318 Absatz 2 BGB bestehen Unterhaltsansprüche nur, wenn der Berechtigte gutgläubig die Ehe eingegangen ist. Eine formale Anerkennung von ausländischen Ehen (und gegebenenfalls Mehrfachehen ) findet durch die Justizbehörde und durch die Gerichte nicht statt. Die Prüfung der Wirksamkeit einer im Ausland erfolgten Eheschließung erfolgt vielmehr als Vorfrage ; so etwa im Rahmen der Anerkennung ausländischer Ehescheidungen durch die Justizbehörde. Auch im gerichtlichen Verfahren wird die Wirksamkeit der Ehe nicht formal anerkannt, sondern kann als Vorfrage in Bezug auf die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen (etwa im Familienrecht, Erbrecht, des Bestehens von Aussageverweigerungsrechten et cetera) von Bedeutung sein. Hinsichtlich des Straftatbestandes des § 172 StGB siehe Antwort zu 6. Bezüglich der Anerkennung von nach ausländischem Recht geschlossenen Ehen von Minderjährigen durch die Gerichte gilt generell, dass die Voraussetzungen der Eheschließung gemäß Artikel 13 EGBGB für jeden Verlobten dem Recht des Staates unterliegen, dem er angehört. Ob eine im Ausland geschlossene wirksame Ehe hier anerkannt wird, ist insbesondere nach Artikel 6 EGBGB zu prüfen (ordre-public- Vorbehalt). Hiernach ist eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Nach Artikel 6 Satz 2 EGBGB ist Drucksache 21/4864 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 dies insbesondere dann der Fall, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist. In Bezug auf Fälle der Polygamie (Mehrehe), welche nach dem Heimatrecht der Ehegatten zulässig ist, ist die Rechtsprechung zu Artikel 6 EGBGB ausweislich der Kommentarliteratur grundsätzlich uneinig (vergleiche Palandt-Thorn, BGB, 74. Aufl. 2015, Artikel 6 EGBGB Randnummer 20 mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung). Wie die Konstellation im Einzelfall durch die erkennenden Richter beurteilt wird, unterliegt wiederum der Entscheidungsfindung im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit und erfolgt anhand der Prüfung des jeweiligen Einzelfalls. Bei der asylrechtlichen Verteilungsentscheidung soll nach Beschluss der EASY- Beauftragten der Länder auf familiäre Belange Rücksicht genommen werden. In Fällen , in denen diese familiären Bindungen glaubhaft gemacht werden, soll eine gemeinsame Verteilungsentscheidung erfolgen. Für die Ausländerbehörden gilt des Weiteren, dass nach § 30 Absatz 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) bei gleichzeitig mit mehreren Ehegatten verheirateten Ausländern, die bereits mit einem dieser Ehegatten im Bundesgebiet leben, keinem weiteren Ehegatten der Familiennachzug gewährt wird. Weitere Maßgaben zum ausländerbehördlichen Umgang mit Mehrehen ergeben sich aus der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Inneren zum AufenthG (http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/pdf/BMI-MI3-20091026-SF- A001.pdf). Zunächst wird in Nummer 27.1.6 klargestellt, dass ein mit einem Ausländer in Mehrehe verbundener Ehegatte nicht zu dem nach Artikel 6 GG schutzwürdigen Personenkreis gehört, wenn sich bereits ein weiterer Ehegatte beim Ausländer im Bundesgebiet aufhält. Weitere Vorgaben zur Überprüfung der Wirksamkeit der Eheschließung sowie zum Nachweis ausreichenden Krankenversicherungsschutzes enthält Nummer 30.4. Nach Nummer 32.4.3.4 kann der Nachzug eines Kindes aus einer gültigen Mehrehe des im Bundesgebiet lebenden Elternteils nur dann aus Härtefallgründen gerechtfertigt sein, wenn der im Ausland lebende Elternteil nachweislich nicht mehr zur Betreuung des Kindes in der Lage ist. Im Übrigen gilt, dass dem weiteren Ehegatten eines in Deutschland lebenden Ausländers ein Aufenthaltstitel zu einem anderen Zweck als dem Familiennachzug, also etwa aus humanitären Gründen oder zur Ausübung einer Beschäftigung, erteilt werden kann. Darüber hinaus siehe Drs. 21/4861.