BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/4939 21. Wahlperiode 28.06.16 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Heike Sudmann und Martin Dolzer (DIE LINKE) vom 20.06.16 und Antwort des Senats Betr.: Inhaftierungen wegen „Erschleichen von Leistungen“ in Hamburg Trotz jahrelanger scharfer Kritik von Experten/-innen und trotz hoher Kosten finden sich in Hamburgs Gefängnissen Menschen, die wegen Beförderungserschleichung verurteilt wurden. Beförderungserschleichung gilt in der kriminologischen Forschung als typisches Armutsdelikt, dessen Hintergrund oft nicht kriminelle Energie, sondern die soziale und finanziell oft desolate Lage in einer sich weiter aufspreizenden Gesellschaft ist. Die Beförderungserschleichung, so der Senat in seiner Antwort auf die Schriftliche Kleine Anfrage zum Thema (Drs. 20/12289), stellt den Hauptanwendungsfall von Verurteilungen gemäß § 265a Strafgesetzbuch (StGB) „Erschleichen von Leistungen“ dar. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: 1. Wie viele Fahrgäste wurden in den Jahren 2015 sowie im ersten Halbjahr 2016 (bitte aufschlüsseln) bei Kontrollen des ÖPNV ohne gültigen Fahrschein angetroffen? Jahr 2015 1. Januar bis 31. Mai 2016* Hochbahn 56.729 18.416 VHH 11.478 5.569 S-Bahn 137.464 60.884 AKN 8.291 3.245 * Aufgrund der 14-tägigen Kulanz-Regelung für die nachträgliche Vorlage der Fahrkarte findet eine Auswertung nur monatlich statt. 2. Wie viele dieser Fahrgäste konnten nachträglich ein personalisiertes Ticket vorlegen? Jahr 2015 1. Januar bis 31. Mai 2016* Hochbahn 9.437 2.901 VHH ** ** S-Bahn 19.455 7.814 AKN 1.116 425 * Aufgrund der 14-tägigen Kulanz-Regelung für die nachträgliche Vorlage der Fahrkarte findet eine Auswertung nur monatlich statt. ** Die Angaben sind in den Zahlen der HOCHBAHN enthalten, da nach Feststellung bei der Kontrolle die Vorlage nicht bei der VHH, sondern bei der HOCHBAHN erfolgt. Drucksache 21/4939 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 3. Wie viele Personen wurden 2015 sowie im ersten Halbjahr 2016 nach § 265a StGB verurteilt (bitte aufschlüsseln): a) zu Geldstrafen? b) zu einer Gefängnisstrafe mit Bewährung? c) zu einer Gefängnisstrafe ohne Bewährung? Soweit der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde davon Kenntnis hat, bitte darstellen, welchen Anteil jeweils Verurteilungen wegen „Beförderungserschleichung“ bilden. Die Daten zu den erbetenen Verurteilungen nach § 265a StGB in der folgenden Tabelle stammen aus der Strafverfolgungsstatistik. In der Drs. 21/386 sind aus Gründen des Sachzusammenhangs Angaben aus dem Vorgangsverwaltungs- und Vorgangsbearbeitungssystem MESTA verwendet worden. Auf die Besonderheiten von MESTA-Auswertungen ist dabei hingewiesen worden. Die Erweiterung der Daten um die Jahre 2011 bis 2014 soll die Vergleichbarkeit der Jahreswerte erleichtern. Geldstrafen Gefängnisstrafen mit Bewährung Gefängnisstrafen ohne Bewährung 2011 2012 45 11 2012 1592 40 0 2013 1124 18 2 2014 1150 16 5 2015 783 8 3 2016 Strafverfolgungsstatistik 2016 liegt noch nicht vor 4. Wie viele Personen, die wegen „Leistungserschleichung“ verurteilt wurden , haben 2015 sowie im ersten Halbjahr 2016 Ersatzarbeitsstunden abgeleistet (bitte aufschlüsseln)? Soweit der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde davon Kenntnis hat, bitte darstellen, welchen Anteil Verurteilungen wegen „Beförderungserschleichung“ bilden. Die erfragten Daten werden statistisch nicht erfasst. Aufgrund einer entsprechenden Kennzeichnung der Vorgänge können für die Fälle wegen Beförderungserschleichung als Hauptanwendungsfall des § 265a StGB Zahlen ermittelt werden. Im Jahr 2015 wurde in 86 Fällen und in der Zeit vom 1. Januar 2016 bis zum 20. Juni 2016 in 26 Fällen gemeinnützige Arbeit geleistet. Die Beantwortung der übergeordneten Frage nach Fällen der Leistungserschleichung ist nicht möglich, da sämtliche in der zuständigen Stelle bearbeiteten Verfahren ausgewertet werden müssten. Für den erfragten Zeitraum handelt es sich um über 2.000 Vorgänge, deren Auswertung in der zur Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich ist. 5. Wie viele wegen Leistungserschleichung verurteilte Personen sind aktuell inhaftiert? Soweit der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde davon Kenntnis hat, bitte darstellen, welchen Anteil Verurteilungen wegen „Beförderungserschleichung“ bilden. Am 15. Juni 2016 waren 60 Personen inhaftiert, bei denen im Gefangenenverwaltungsprogramm BASIS-Web § 265a StGB notiert ist. Dabei ist zu beachten, dass bei der Abfrage in BASIS-Web auch diejenigen Gefangenen gezählt werden, die neben dem § 265a StGB wegen anderer Straftatbestände ihre Strafe in einer JVA verbüßen (zum Beispiel Gesamtfreiheitsstrafe mit anderen notierten Straftaten). 6. Wie hoch ist der Anteil der aktuell wegen Leistungserschleichung inhaftieren Personen an der Gesamtzahl der aktuell in Hamburg Inhaftierten? Soweit der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde davon Kenntnis hat, bitte darstellen, welchen Anteil Verurteilungen wegen „Beförderungserschleichung “ bilden. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/4939 3 Unter Hinweis auf die Antwort zu 5 beträgt der Anteil der wegen Leistungserschleichung inhaftierten Personen an der Gesamtzahl der aktuell in Hamburg Inhaftierten 3,5 Prozent. 7. Wie viele Personen wurden in den Jahren 2014, 2015 sowie im ersten Halbjahr 2016 (bitte aufschlüsseln) auf Grundlage von § 242 beziehungsweise 246 in Verbindung mit § 248a StGB zu einer Haftstrafe verurteilt ? Der Strafverfolgungsstatistik können die Verurteilungen wegen Diebstahls und Unterschlagung zu einer Haftstrafe entnommen werden. Eine Unterscheidung, ob sich die Tat auf geringwertige Sachen richtete, erfolgt nicht: Anzahl der Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe gem. § 242 StGB Anzahl der Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe gem. § 246 StGB 2011 366 10 2012 336 18 2013 359 11 2014 332 8 2015 317 8 2016 Die Strafverfolgungsstatistik 2016 liegt noch nicht vor a) Wie viele der deshalb Verurteilten sind aktuell inhaftiert? b) Wie hoch ist der Anteil dieser Personen an der Gesamtzahl der aktuell in Hamburg Inhaftierten? Am 15. Juni 2016 waren 549 Personen (31,92 Prozent aller Gefangenen) inhaftiert, bei denen im Gefangenenverwaltungsprogramm BASIS-Web § 242 StGB notiert ist und 22 Personen (1,28 Prozent aller Gefangenen), bei denen § 246 StGB notiert ist. Eine Unterscheidung, ob sich die Tat auf geringwertige Sachen richtete, erfolgt nicht. Im Übrigen siehe Antwort zu 5. 8. Wie viele Personen verbüßten an den jeweiligen Stichtagen nach dem 1.06. 2014 (vergleiche Antwort des Senats auf Frage 9. in Drs. 20/12289) eine Freiheitsstrafe a) unter sechs Monaten? b) zwischen sechs und zwölf Monaten? c) Wie viele zu einer Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten beziehungsweise zwischen sechs und zwölf Monaten Verurteilte sind mit Stichtag aktuell inhaftiert? Stichtag unter 6 Monaten zwischen 6 und 12 Monaten 1. Juli 2014 243 218 1. August 2014 260 216 1. September 2014 236 214 1. Oktober 2014 238 221 1. November 2014 223 191 1. Dezember 2014 222 204 1. Januar 2015 205 189 1. Februar 2015 219 187 1. März 2015 243 174 1. April 2015 217 205 1. Mai 2015 219 204 1. Juni 2015 219 203 1. Juli 2015 234 194 1. August 2015 226 209 1. September 2015 233 217 1. Oktober 2015 232 215 Drucksache 21/4939 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 Stichtag unter 6 Monaten zwischen 6 und 12 Monaten 1. November 2015 213 201 1. Dezember 2015 235 226 1. Januar 2016 206 196 1. Februar 2016 212 230 1. März 2016 218 224 1. April 2016 254 224 1. Mai 2016 238 189 1. Juni 2016 246 212 9. Wie viele Personen verbüßten an den jeweiligen Stichtagen nach dem 1.06. 2014 (vergleiche Antwort des Senats auf Frage 10. in Drs. 20/12289) eine Ersatzfreiheitsstrafe? Stichtag Anzahl Ersatz-freiheitsstrafen 1. Juli 2014 105 1. August 2014 103 1. September 2014 102 1. Oktober 2014 105 1. November 2014 100 1. Dezember 2014 97 1. Januar 2015 93 1. Februar 2015 99 1. März 2015 126 1. April 2015 101 1. Mai 2015 108 1. Juni 2015 99 1. Juli 2015 92 1. August 2015 101 1. September 2015 88 1. Oktober 2015 88 1. November 2015 87 1. Dezember 2015 103 1. Januar 2016 83 1. Februar 2016 101 1. März 2016 94 1. April 2016 109 1. Mai 2016 95 10. Wie viele Personen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, sind aktuell inhaftiert? Zum Stichtag 15. Juni 2016 waren 109 Personen wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe inhaftiert. 11. Wie vielen der Personen, die Ersatzarbeitsstunden ableisten wollen und können, konnte in den Jahren 2014, 2015 sowie im ersten Halbjahr 2016 ein entsprechendes Angebot beziehungsweise eine entsprechende Stelle geboten werden? Allen Personen konnte in den Jahren 2014 (1.458 Fälle), in 2015 (1.532 Fälle) und in der Zeit vom 1. Januar 2016 bis zum 20. Juni 2016 (590 Fälle) ein entsprechendes Arbeitsangebot gemacht werden. Die Angaben zu 2016 erfolgen vorbehaltlich der noch nicht erfolgten Gesamtauswertung für das erste Halbjahr. 12. Welche Kenntnisse hat der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde über die Wirkung der Verordnung „Arbeit statt Haft“, die Justiz- Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/4939 5 senatorin Schiedek Ende 2012 unterzeichnet hat? Wie hat sich die Zahl der Personen, die ihre Geldstrafe durch gemeinnützige Arbeit getilgt haben seit dem zweiten Halbjahr 2014 entwickelt? In wie vielen Verfahren aufgrund der „Verordnung über die Abwendung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit“ (Tilgungsverordnung) vom 11. Dezember 2012 jährlich die Tilgung durch Leistung gemeinnütziger Arbeit durch die Staatsanwaltschaft bewilligt wurde und in wie vielen Fällen davon eine Anerkennung eines Härtefalles erfolgte. Diese Zahlen basieren auf einer Auswertung des Vorgangsbearbeitungs- und Vorgangsverwaltungssystems der Staatsanwaltschaft MESTA. Diesem lassen sich allerdings keine gültigen und zuverlässigen Daten entnehmen , weil es nicht als Statistikprogramm konzipiert ist. In Drs. 21/3877 wurden hingegen lediglich die Anträge gemeldet, die im Justizvollzug gestellt wurden. Daneben liegen der zuständigen Behörde Zahlen des Abschnittes Gemeinnützige Arbeit des Fachamtes Straffälligen- und Gerichtshilfe vor, in wie vielen Verfahren jährlich gemeinnützige Arbeit zur Abwendung der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe geleistet wurde und wie viele Tagessätze jährlich getilgt wurden. Diese Zahlen schließen allerdings Verfahren im Auftrag auswärtiger Staatsanwaltschaften ein, für die die vorgenannte Tilgungsverordnung nicht anwendbar ist. Halbjährliche Zahlen werden nicht erfasst und können angesichts der Vielzahl der Fälle (siehe nachfolgende Übersicht) in der zur Beantwortung einer Schriftlichen Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit auch nicht ermittelt werden. Das Zahlenwerk stellt sich danach wie folgt dar: 2014 2015 Bewilligungen der Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe durch Leistung gemeinnütziger Arbeit: 970 831 Anzahl der anerkannten Härtefälle: 83 103 Prozentualer Anteil der anerkannten Härtefälle: 8,6% 12,4% Anzahl der Verfahren, in denen im Abschnitt Gemeinnützige Arbeit des Fachamtes Straffälligen- und Gerichtshilfe gemeinnützige Arbeit zur Abwendung der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe geleistet wurde : 602 631 Anzahl der im Abschnitt Gemeinnützige Arbeit des Fachamtes Straffälligen - und Gerichtshilfe durch Leistung gemeinnütziger Arbeit getilgter Tagessätze: 21.407 22.592 13. Wie viele der derzeit wegen Leistungserschleichung inhaftierten Personen sind im offenen Vollzug? Von den in Antwort zu 5. genannten Personen verbüßte am 15. Juni 2016 eine die Freiheitsstrafe im offenen Vollzug. 14. Wie viele der derzeit eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßenden Personen sind im offenen Vollzug? Am 15. Juni 2016 verbüßten drei Personen eine Ersatzfreiheitsstrafe im offenen Vollzug . 15. Wie hoch waren in den Jahren 2014, 2015 sowie im ersten Halbjahr 2016 die Kosten pro Hafttag und Gefangenem? Der Tageshaftkostensatz im Justizvollzug betrug für das Jahr 2014 163,08 Euro und für das Jahr 2015 173,84 Euro. Für das Jahr 2016 sind bisher noch keine Tageshaftkostensätze festgesetzt worden. Drucksache 21/4939 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 6 16. Wie hoch schätzt der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde die Mindereinnahmen des HVV, wenn Empfänger/-innen von Sozialhilfe kostenfrei den HVV nutzen könnten? Unter der Annahme, dass im Jahr 2016 rund 230.000 Hamburger Leistungsbezieher von ALG II und ähnlichen Leistungen sind und diese im Durchschnitt monatlich 20 Euro für die Nutzung des HVV-Leistungsangebotes ausgeben, ergibt sich daraus für den Fall einer kostenfreien Nutzung eine Mindereinnahme von 55,2 Millionen Euro jährlich. Zusätzliche Kosten entstünden für Kapazitätsausweitungen, da im Falle der kostenlosen ÖPNV-Nutzung dieser Kundengruppe mit einer deutlich höheren Mobilitätsnachfrage sowie Verlagerungen (zum Beispiel vom nicht motorisierten Verkehr zum HVV) zu rechnen wäre, denen keine Mehreinnahmen gegenüberstünden. 17. Welche aktuellen Studien, Erkenntnisse und Initiativen zur Entkriminalisierung von Bagatelldelikten, insbesondere der Entkriminalisierung von Leistungserschleichung für den Zeitraum seit Mitte 2014, sind dem Senat beziehungsweise der zuständigen Behörde bekannt? Im Nachgang zu seiner zunächst zur Frühjahrskonferenz der Justizministerinnen und Justizminister 2014 eingebrachten Initiative (vergleiche dazu Drs. 20/12289) hat das Land Niedersachsen im Januar 2015 eine länderübergreifende Arbeitsgruppe eingerichtet , die prüfen sollte, welche Möglichkeiten zum Umgang mit Bagatellkriminalität es über die bestehenden Regelungen hinaus gibt. An dieser Arbeitsgruppe hat sich auch Hamburg beteiligt. Die Arbeitsgruppe hat im April 2016 ihren Abschlussbericht vorgelegt . Dieser wird derzeit in der zuständigen Behörde ausgewertet. 18. Wie ist der Sachstand hinsichtlich der Planungen von Justizsenator Dr. Steffen, Bagatelldelikte wie beispielsweise die Beförderungserschleichung künftig nicht mehr als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit zu verfolgen (vergleiche Drs. 21/386)? Derzeit wird der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Umgang mit Bagatellstrafsachen “ ausgewertet. Anschließend wird über das weitere Vorgehen entschieden.