BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/5019 21. Wahlperiode 05.07.16 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Richard Seelmaecker (CDU) vom 27.06.16 und Antwort des Senats Betr.: Überlastung der Justiz: hier: Kollaps der Zwangsvollstreckung in Hamburg – Leistet der Justizsenator dubiosen Inkassounternehmen Vorschub durch Unterlassen? Das staatliche Gewaltmonopol gilt auch im Bereich der Zwangsvollstreckung. In Deutschland dürfen daher selbst gerichtlich titulierte Forderungen nicht im Wege der Selbstjustiz, vor allem nicht durch Gewalt oder Androhung mit Gewalt, vollstreckt werden. Zuständig sind vielmehr die Gerichtsvollzieher als Beamte der Justiz, die einen maßgeblichen Beitrag zum Erhalt unserer Rechtsordnung leisten. Doch was nützt jemandem ein vollstreckbares Urteil, wenn es anschließend aus tatsächlichen Gründen, die allein beim Staat liegen , nicht vollstreckt werden kann? Offenbar ist, dass Hamburgs Gerichtsvollzieher trotz höchster Motivation und Einsatzbereitschaft an der absoluten Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen sind. Das ist auch dem Justizsenator seit Monaten bekannt. Wie der Senat in seiner Antwort auf meine Schriftliche Kleine Anfrage Drs. 21/4308 mitteilte, gab es am 31. Dezember 2015 in Hamburg 30.855 unerledigte Verfahren. Diese müssen von den aktuell 96 Gerichtsvollziehern neben ständig neu hinzukommenden Aufträgen abgearbeitet werden. Obwohl Gerichtsvollzieher sogar ihren Erholungsurlaub zum Abbau von Rückständen nutzen, behauptet der Senat in der Antwort auf die Große Anfrage Drs. 21/1741 dass „keineswegs davon auszugehen ist, dass von einem ständigen Verstoß gegen Arbeitszeitregelungen auszugehen ist.“ Mit der Duldung dieser unhaltbaren Zustände verletzt der Justizsenator nicht nur die Fürsorgepflicht gegenüber seinen Beamten, sondern er schadet auch nachhaltig dem Vertrauen der Bürger in die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates und bringt Gläubiger in Existenznöte. Nunmehr wird der Kollaps auch amtlich bestätigt. Das Amtsgericht Hamburg- Wandsbek teilt in seinem Schreiben vom 20. Juni 2016 mit: „Ich muss Ihnen mitteilen, dass der Gerichtsvollzieherbezirk, in dem der Schuldner / die Schuldnerin wohnhaft / ansässig ist, derzeit unbesetzt ist. Auf Grund einer sehr angespannten personellen Situation im Gerichtsvollzieherbereich des hiesigen Amtsgerichts können die Aufträge für den Gerichtsvollzieherbezirk derzeit leider nur verzögert bearbeitet werden. Sobald Ihr Vollstreckungsauftrag einem Gerichtsvollzieher übergeben werden kann, erhalten Sie eine gesonderte Mitteilung. Nach aktueller Einschätzung wird dies im September 2016 erfolgen können.“ Drucksache 21/5019 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Und der Amtsgerichtsbezirk Wandsbek ist leider kein trauriger Einzelfall. Das Amtsgericht Blankenese, in dessen Bezirk die Arbeitsbelastung laut Angaben des Senats in der Antwort auf die Schriftliche Kleine Anfrage Drs. 21/4308 vergleichsweise noch am geringsten sei, teilte unter Hinweis auf die sehr angespannte personelle Situation im Gerichtsvollzieherbereich schriftlich und unaufgefordert mit, dass darum gebeten wird, „von Sachstandsanfragen binnen 6 Monaten abzusehen.“ Es ist absolut inakzeptabel, dass das staatliche Gewaltmonopol im Bereich der für Bürger und Unternehmen so wichtigen Zwangsvollstreckung teilweise kollabiert ist und der Justizsenator nicht handelt. Eine Personalbedarfsplanung findet nicht statt; der allein zugrunde gelegte „Belastungsschlüssel“ wurde zuletzt 2013 vorläufig angepasst, die Ausbildungsplanung soll – wenn überhaupt – trotz der katastrophalen Personalsituation erst nach einer Überarbeitung des bisherigen Belastungsschlüssels durch eine länderübergreifende Arbeitsgruppe im Herbst „überdacht“ werden. Durch dieses staatliche Versagen werden Bürger geradezu in die Arme von dubiosen Inkassounternehmen getrieben. Von Vertrauen in den Rechtsstaat mag der geneigte Rechtssuchende, der bereits zumindest ein Erkenntnisverfahren – gegebenenfalls durch mehrere Instanzen – durchlaufen hat, nicht mehr sprechen. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Zwangsvollstreckungsaufträge sind grundsätzlich zur Wahrung des gesetzlichen Grundsatzes der Rangfolge der Pfändung nach der Reihenfolge ihres zeitlichen Eingangs auszuführen. Entsprechend den gesetzlichen Vorschriften werden alle Zwangsvollstreckungsaufträge in den Gerichtsvollzieherverteilerstellen taggleich an den jeweils zuständigen Gerichtsvollzieher beziehungsweise die zuständige Gerichtsvollzieherin übergeben. Die dem Bezirk zugeordneten Aufträge werden daraufhin unverzüglich auf eine gesetzliche geregelte Eilbedürftigkeit überprüft und in eine Bearbeitungsreihenfolge sortiert. Nicht eilbedürftige Aufträge werden dann nach ihrem zeitlichen Eingang ausgeführt , um den Vorrang früher begründeter Pfandrechte durchzusetzen (siehe § 804 Absatz 3 ZPO). Die Frage der Besetzung eines Bezirks gibt keinen Aufschluss über die Belastung der Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher oder die Notwendigkeit einer Personalzuweisung. Im Übrigen hat der Senat auf die Belastungssituation der Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher reagiert, indem er die Ausbildung intensiviert hat. Aktuell befinden sich 14 Personen in der Ausbildung. Für die kommenden Jahre ist geplant, jährlich jeweils fünf Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher auszubilden. Allgemein setzt die Zwangsvollvollstreckung durch einen Gerichtsvollzieher das Vorliegen eines Titels (zum Beispiel ein Urteil oder einen Beschluss) voraus. Hingegen ist die Tätigkeit von Inkassounternehmen hiervon nicht abhängig. In der Regel machen Inkassounternehmen Forderungen geltend, die noch nicht Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sind. Hierbei kann es sich sowohl um fremde Forderungen als auch um solche handeln, die sich die Inkassounternehmen zuvor von den Gläubigern entgeltlich abtreten lassen. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Wie hat sich die Ist-Besetzung der Stellen für Gerichtsvollzieher an den einzelnen Amtsgerichten gegenüber dem in der Drs. 21/4308 genannten Stichtag 3. Mai 2016 verändert? Bei den Amtsgerichten Barmbek und Wandsbek ist zum Stichtag 28. Juni 2016 jeweils eine Stelle mehr besetzt; bei den Amtsgerichten Hamburg-Mitte und Bergedorf ist es jeweils eine Stelle weniger. Im Übrigen hat es keine Veränderungen gegeben. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/5019 3 2. Ist der zuständigen Behörde bekannt, dass es am Amtsgericht Wandsbek einen Gerichtsvollzieherbezirk gibt, der unbesetzt ist? Falls ja, seit wann ist dieser aus welchen Gründen unbesetzt und welche Maßnahmen wurden seitens der zuständigen Behörde ergriffen, um Abhilfe zu schaffen? Ja. Der Bezirk ist durch den Eintritt in den Ruhestand seit März 2016 unbesetzt. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 3. Gibt es weitere Gerichtsvollzieherbezirke in Hamburg, die derzeit unbesetzt sind? Falls ja, wie viele an welchem Amtsgericht seit jeweils wann aus welchen Gründen? Insgesamt sind zum Stichtag 28. Juni 2016 vier Bezirke (einer im Amtsgericht Hamburg -Mitte, drei im Amtsgericht Barmbek) unbesetzt, von denen seit dem in der Drs. 21/4308 genannten Stichtag (3. Mai 2016) lediglich der Bezirk im Amtsgericht Hamburg -Mitte im Mai 2016 vakant wurde (im Zuge einer Beförderungsentscheidung). 4. Wie beurteilt die zuständige Behörde den Umstand, dass es voraussichtlich allein rund drei Monate dauert, bis Vollstreckungsaufträge überhaupt erst einem Gerichtsvollzieher übergeben werden können? a. Inwiefern sieht die zuständige Behörde durch solche Umstände eine Gefahr für das staatliche Gewaltmonopol im Bereich der Zwangsvollstreckung ? b. Inwiefern sieht die zuständige Behörde durch solche Umstände eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Hamburg? c. Inwiefern sieht die zuständige Behörde durch solche Umstände eine Gefahr für das Vertrauen der Bürger in einen funktionierenden Rechtsstaat? d. Welche Erkenntnisse liegen den zuständigen Behörden über die Entwicklung von privaten Geldeintreibern in Hamburg vor? Die Annahme, dass bis zur Übergabe des Vollstreckungsauftrags an den zuständigen Gerichtsvollzieher generell drei Monate vergehen, trifft nicht zu. Im Übrigen siehe Vorbemerkung . Inkassodienstleistungen bedürfen nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) einer vorherigen Registrierung. Zum 1. Januar 2015 waren 49 Inkassodienstleister in Hamburg registriert; am 1. Januar 2016 waren es 65. 5. Wie hat sich die Anzahl der Überlastungsanzeigen von Gerichtsvollziehern im Jahr 2016 entwickelt? Bitte pro Amtsgericht darstellen. Im Jahr 2016 liegen bisher vier Überlastungsanzeigen beim Amtsgericht Hamburg Mitte sowie eine Überlastungsanzeige beim Amtsgericht Altona vor. Im Übrigen siehe Drs. 21/4308. 6. Wie viele Beschwerden aufgrund zu langer Verfahrensdauern der Zwangsvollstreckung von Gläubigern beziehungsweise Verfahrensbevollmächtigten sind bislang im Jahre 2016 eingegangen? Bitte pro Amtsgericht darstellen. Beschwerden zum Stichtag 28. Juni 2016 Amtsgericht Hamburg - Mitte 3 Amtsgericht Altona 3 Amtsgericht Barmbek 8 Amtsgericht Bergedorf 13 Amtsgericht Blankenese 0 Amtsgericht Harburg 15 Drucksache 21/5019 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 Beschwerden zum Stichtag 28. Juni 2016 Amtsgericht St. Georg 52 Amtsgericht Wandsbek 7 7. Welche kurz-, mittel- und langfristigen Planungen bestehen bei der zuständigen Behörde, um die unhaltbare Situation im Bereich der Zwangsvollstreckung in Hamburg zu lösen? Der Senat teilt die zugrunde liegende Annahme nicht. Im Übrigen siehe Vorbemerkung . 8. Der Senat gab in seiner Antwort auf die Schriftliche Kleine Anfrage Drs. 21/4308 an, dass Hamburg „auch weiterhin bestrebt ist, bedarfsgerecht auszubilden.“ Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation, insbesondere auch der Arbeitsbelastung der Gerichtsvollzieher, die an den Amtsgerichten Hamburg-Mitte im 1. Quartal 2016 bei 139 Prozent und beim Amtsgericht St. Georg sogar bei 142 Prozent lag, stellt sich die Frage, ob von bedarfsgerecht überhaupt gesprochen werden kann. Inwiefern ist die zuständige Behörde der Auffassung, dass sie bedarfsgerecht ausbildet ? Der Hamburger Belastungsschlüssel stellt kein Instrument der Personalbedarfsplanung dar (siehe Drs. 21/1741). Vielmehr dient er als Grundlage für eine angemessene Verteilung der Aufträge. Im Übrigen siehe Vorbemerkung.