BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/5474 21. Wahlperiode 09.08.16 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Franziska Grunwaldt (CDU) vom 02.08.16 und Antwort des Senats Betr.: Hilft die Servicestelle für Arbeitnehmerfreizügigkeit den von Arbeitsausbeutung Betroffenen? Die Servicestelle für Arbeitnehmerfreizügigkeit am Besenbinderhof berät Erwerbstätige aus allen EU-Staaten, aber vor allem aus Osteuropa, bei Fragen zum Arbeitsrecht, zur sozialen Absicherung und zu anderen in Deutschland relevanten Themen für Arbeitnehmer, wie zum Beispiel dem Steuerrecht . Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Zur Entwicklung der Zuwanderung und Beschäftigung von Personen aus der EU, dem konzeptionellen Angebot der Beratungsstelle sowie zu empirischen Ergebnissen siehe Drs. 20/13740. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Wie viele Stellen gibt es aktuell bei der Servicestelle für Arbeitnehmerfreizügigkeit und wie viele Mitarbeiter/VZÄ sind beschäftigt? Bei der Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit sind im Rahmen des aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) geförderten Projektes neun Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit sechs VZÄ beschäftigt. 2. Welche Sprachen sprechen die Mitarbeiter jeweils? Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sprechen folgende Sprachen: deutsch, bulgarisch , russisch, rumänisch, polnisch, englisch und spanisch, siehe https://hamburg.arbeitundleben.de/arbeitnehmerfreiz%C3%BCgigkeit. 3. Wie hoch sind die jährlichen Kosten, die die Einrichtung verursacht? Wie viel davon trägt die BASFI, wie viel der Europäische Sozialfonds? Das ESF- Projekt Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit wird in der aktuellen Projektlaufzeit 01.01.2015-31.12.2016 mit insgesamt 1.025.000 Euro, das heißt 512.500 Euro jährlich gefördert. Davon stehen jährlich 236.375 Euro ESF-Mittel (insgesamt 472.750 Euro) und 276.125 Euro Kofinanzierungsmittel (insgesamt 552.250 Euro) der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) zur Verfügung. 4. Wie viele Beratungen hat die Servicestelle seit dem Jahr 2012 durchgeführt ? Wie viele Personen wurden beraten? Bitte nach Jahren aufschlüsseln . 2012 2013 2014 2015 2016* Beratungen 941 1622 2833 3113 1145 Betreute Personen 625 1023 1016 514 371 * bis einschließlich Juli 2016 Drucksache 21/5474 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 5. Aus welchen Ländern stammen die Hilfesuchenden? Bitte nach Jahren ab dem Jahr 2012 aufschlüsseln. Siehe Anlage. 6. In wie vielen der Gespräche geht es um Arbeitsausbeutung? In welcher Form tritt diese vermehrt auf? Hilft die Servicestelle hier weiter? Wenn ja, wie? Wenn nein, warum nicht? Die Arbeitsausbeutung ist kein Merkmal der statistischen Auswertung. Es lässt sich aber die Aussage treffen, dass in etwa 80 Prozent der Beratungen das Thema Arbeitsausbeutung auftaucht. Die Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit kann Arbeitsausbeutung in den folgenden Formen feststellen: a) Verstöße gegen das Mindestlohngesetz beziehungsweise Umgehung des gesetzlichen Mindestlohnes und der tariflich vereinbarten Mindestlöhne je nach Branche und Nichterfüllung der Aufzeichnungspflichten. b) Nichteinhaltung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit bei Nichtgewährung von Freizeitausgleich und fehlende Auszahlung von Überstunden beziehungsweise Mehrarbeit. c) Umgehung von Arbeitnehmerschutzrechten. d) Nichteinhaltung der Sonderschutzrechte durch den Arbeitgeber. e) Nichtmeldung in die Sozialkassen durch den Arbeitgeber (Schwarzarbeit) unter Ausnutzung des Unwissens des Arbeitnehmers bezüglich seiner Arbeitnehmerrechte . f) Missbrauch des Teilzeit- und Befristungsgesetzes. g) Missbrauch der Vertragsfreiheit. h) Andere Formen der Umgehung der Lohnauszahlungen. i) Missbrauch der gesetzlichen Regelungen für geringfügige Beschäftigungen. j) Nichtgewährung von Urlaubsansprüchen. Diese Arten von Arbeitsausbeutung treten in allen Beschäftigungsformen auf, insbesondere bei Werkverträgen, Entsendung – auch in Kombination mit Arbeitnehmerüberlassung , Arbeitnehmerverhältnis, Selbständigkeit beziehungsweise Scheinselbständigkeit , Beschäftigungen in Privathaushalten. Die Servicestelle unterstützt EU-Bürger/-innen aus den Mitgliedstaaten, die aufgrund ihres Rechts auf Freizügigkeit oder im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit in Hamburg Arbeit suchen beziehungsweise bereits auf dem Hamburger Arbeitsmarkt beschäftigt sind. Ratsuchende erhalten Informationen über reguläre Arbeitsbedingungen und Mindeststandards (zum Beispiel Arbeits- und Pausenzeiten, Mindestlöhne, Sozialversicherung ), über ihre Rechte und über Möglichkeiten zu deren Durchsetzung. Informiert wird auch über Fragen zur Gewerbeanmeldung. Falls notwendig, werden Betroffene zu Behörden oder anderen Einrichtungen begleitet oder ein Rechtsbeistand organisiert. Darüber hinaus kann die Beratungsstelle zwischen Konfliktparteien vermitteln und schlichten. Bei Feststellung von schwerer Arbeitsausbeutung besteht eine enge Zusammenarbeit mit der FKS, dem Amt für Arbeitsschutz und KOOFRA – Koordinierungsstelle gegen Frauenhandel e.V. Im Fall von Entsendungen kooperiert die Servicestelle mit den ausländischen Arbeitsinspektionen. Die Informationen erfolgen sowohl individuell oder in Gruppen (zum Beispiel in Form kleiner Seminare), im Büro der Servicestelle sowie aufsuchend an Arbeitsstätten, Wohnorten oder an geeigneten Treffpunkten. Einmal wöchentlich bietet die Servicestelle Beratung im Jobcenter Wilhelmsburg an. Darüber hinaus entwickelt die Servicestelle in Zusammenarbeit mit den Fachbehörden und den Verbänden fremdsprachliche Infomaterialien (Handouts, Poster) zu grundlegenden arbeitsrechtlichen Fragen, zur Gewerbeanmeldung oder zu steuerlichen Fra- Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/5474 3 gen. Diese werden über die Behörden und Konsulate, sonstige Stellen oder als Aushänge an den Arbeitsstätten verbreitet. 7. Welche Rolle spielt das Thema Obdachlosigkeit bei der Beratung? Wie viele der Hilfesuchenden sind obdachlos oder drohen in die Obdachlosigkeit zu rutschen? Was ist jeweils der Grund für die Obdachlosigkeit beziehungsweise drohende Obdachlosigkeit? Hilft die Servicestelle hier weiter? Wenn ja, wie? Wenn nein, warum nicht? Die tatsächlich eingetretene Obdachlosigkeit sowie die drohende beziehungsweise die verdeckte Obdachlosigkeit sind häufig eine Folge von Arbeitsausbeutung (im Besonderen , wenn der Lohn ausbleibt). Die meisten von Arbeitsausbeutung betroffenen Ratsuchenden möchten sich zum Thema Obdachlosigkeit/Wohnung beraten lassen. Zu dieser Thematik arbeitet die Servicestelle eng mit der Anlaufstelle für wohnungslose EU-Bürger (plata – hoffnungsorte hamburg) zusammen. 8. In wie vielen Fällen geht es um den Rückkehrwunsch der Betroffenen in ihre Heimat? Hilft die Servicestelle hier weiter? Wenn ja, wie? Wenn nein, warum nicht? Die Servicestelle hat im Zeitraum 03/2012 – 07/2016 insgesamt 62 Beratungen zum Thema Rückkehrhilfe durchgeführt. Grundsätzlich verweist die Servicestelle Kunden, die von Obdachlosigkeit bedroht sind oder eine Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen wollen, an die Anlaufstelle für wohnungslose EU-Bürger (plata – hoffungsorte hamburg ). Dort erhalten Ratsuchende Beratung und Unterstützung zur Rückkehrhilfe. 9. Wie und wo wird für die Dienstleistung der Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit geworben beziehungsweise darüber informiert? Die Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit wirbt auf ihrer Internetseite http://hamburg.arbeitundleben.de/arbeitnehmerfreiz%c3%bcgigkeit. Des Weiteren wird das durch den ESF Hamburg geförderte Projekt auch auf der ESF- Homepage www.esf-hamburg.de beworben. Der Flyer der Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit wird auch in polnischer, rumänischer und spanischer Sprache angeboten. Am 17. Juni 2015 gab es den ESF-Fachkongress „Arbeitnehmerfreizügigkeit 2025“ Herausforderungen und Perspektiven des europäischen Arbeitsmarktes. Im Nachgang wurde unter anderem auf RTL Nord in „Kurz und Kompakt“ und im „Hamburg Journal“ des NDR von der Veranstaltung berichtet. Die Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit nimmt auch Termine im In- und Ausland zum Thema wahr. Ende Mai gab es zum Beispiel einen Fachaustausch mit der Rumänischen Botschaft. Weitere Veröffentlichungen: 02.05.2015: http://www.mopo.de/nachrichten/dumpingloehne-ausbeutung-undschikane -in-hamburg,5067140,30540910,item,0.html 09.03.2016: http://zeitungen.boyens-medien.de/aktuelle-nachrichten/ zeitung/artikel/hamburg-fordert-gesetz-gegen-missbrauch-vonleiharbeit .html Das gleiche Thema wurde am 09.03.2016 unter anderem auch im „Kölner Stadt- Anzeiger“, in den „Lübecker Nachrichten“, den „Uetersener Nachrichten“, auf RTL online, „FOCUS Online“ und „ZEIT ONLINE“ aufgegriffen. 10.03.2016: http://www.welt.de/153132512 Drucksache 21/5474 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 13.03.2016: http://www.welt.de/print/wams/hamburg/article153229934/Melanie- Leonhard-fordert.html 22.05.2016: http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hamburg_journal/Hamburg- Journal,sendung511512.html 10. Welche Entwicklungen bei Art und Umfang der Probleme der Ratsuchenden hat die Servicestelle in den letzten Jahren feststellen können? Wo sieht sie aufgrund ihrer Erfahrungen welchen Handlungsbedarf? Aufgrund von Sprachproblemen und Verständigungsschwierigkeiten sind mobile europäische Arbeitnehmer/-innen oft nicht in der Lage, Beschäftigungsangebote und Verträge zu verstehen und unterzeichnen Dokumente, ohne die Konsequenzen ermessen zu können. Häufig haben sie keine klare Kenntnis ihres Beschäftigungsstatus und der damit verbundenen Rechte und Pflichten. Auch sind mobile Beschäftigte aus ost- und südosteuropäischen Ländern oft nicht Mitglied einer Gewerkschaft und genießen insoweit keinen Rechtsschutz. Dies mündet teilweise in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen mit niedrigsten Löhnen und Arbeitsbedingungen, die arbeitsrechtlichen und sozialen Standards in Deutschland widersprechen. Die Richtlinie 2014/54/EU des Europäischen Parlaments und des Rates verpflichtet jeden Mitgliedstaat der EU, eine oder mehrere Strukturen beziehungsweise Stellen für die Förderung, Analyse, Überwachung und Unterstützung der Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer der Union und ihrer Familienangehörigen zu benennen und die notwendigen Vorkehrungen für das ordnungsgemäße Funktionieren solcher Stellen zu treffen . Eine bedarfsgerechte Umsetzung dieser Aufgabe setzt gut erreichbare Beratungsstellen vor Ort voraus, an die sich Ratsuchende in ihrer Sprache wenden können. Die Länder Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben dies erkannt und bereits entsprechende Beratungsstellen eingerichtet. In Bremen und Schleswig- Holstein befinden sich solche in der Planung. Die Angebote der Beratungseinrichtungen auf Länderebene gehen ferner über arbeitsrechtliche Informations-, Beratungs- und Unterstützungsleistungen für mobile Arbeitnehmer/-innen weit hinaus. Sie sind in operative regionale Netzwerke eingebunden und gestalten so gemeinsam mit anderen entscheidenden Akteuren (Sozialpartner , Behörden, andere Beratungsstellen) die Strukturen zur Gewährleistung fairer Arbeitsbedingungen auf regionaler Ebene aktiv mit. Das lokale Kooperationsnetzwerk mit den Sozialpartnern, Arbeitsmarktakteuren, Aufsichts - und Verfolgungsbehörden sowie mit anderen Beratungseinrichtungen bildet die operative Basis für eine wirksame und erfolgreiche Arbeit. Es ermöglicht kurze Wege und • eine nachhaltige Begleitung und Betreuung, • die Einbindung in kommunale Fachkräftestrategien und die damit verbundene Willkommenskultur , • qualifizierte Verweisberatung bei komplexen Fällen oder solchen, die über arbeitsrechtliche Fragen hinausgehen (Sozialberatung, Familienleistungen, Krankenversicherungsschutz , Anerkennung ausländischer Abschlüsse und andere), • vertrauensvolle Beziehungen zu den Konsulaten und Botschaften, • ehrenamtliche Unterstützung aus den Migranten-Communities (zum Beispiel durch Dolmetscher oder Begleiter zu Behörden), • die qualifizierte Übergabe an Rechtsanwälte, • die Klärung spezifischer Branchenprobleme mit den örtlichen Gewerkschaften, Innungen und Verbänden, • Stellenvermittlungen in reguläre diskriminierungsfreie Arbeitsplätze in Kooperation mit dem Arbeitgeberservice der Agentur für Arbeit, Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/5474 5 • Die Klärung von Problemen bei Grundsicherung SGB II mit den Jobcentern, • die Einleitung und Begleitung von Ermittlungen sowie Unterstützung bei der Beweiserhebung (Zoll/FKS, LKA, Arbeitsschutzbehörde, Gewerbeaufsicht) und • besondere Maßnahmen zum Opferschutz in Fällen von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung. Drucksache 21/5474 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 6 Anlage 2012 2013 Land Anzahl der beratenen Personen Land Anzahl der beratenen Personen Polen 232 Polen 372 Bulgarien 175 Bulgarien 334 Rumänien 112 Rumänien 117 Spanien 27 Spanien 76 Griechenland 5 Tschechien 1 Italien 4 Niederlande 1 Lettland 4 Ungarn 17 Tschechien 4 Kroatien 6 Portugal 4 Slowenien 6 Slowakei 4 Litauen 4 Niederlande 3 Frankreich 2 Dänemark 1 England 1 Ungarn 1 Italien 9 Schweden 1 Lettland 8 Beratene Personen mit EU- Daueraufenthaltsstatus aus Drittstaaten 25 Portugal 8 Slowakei 2 Beratene Personen mit EU- Daueraufenthaltsstatus aus Drittstaaten 28 2014 2015 Land Anzahl der beratenen Personen Land Anzahl der beratenen Personen Polen 439 Polen 218 Bulgarien 203 Bulgarien 102 Rumänien 137 Rumänien 64 Spanien 87 Spanien 97 Niederlande 1 Frankreich 2 Ungarn 25 England 1 Kroatien 3 Kroatien 2 Slowenien 1 Österreich 1 Litauen 7 Italien 9 Italien 7 Portugal 6 Lettland 4 Litauen 5 Portugal 10 Griechenland 3 Slowakei 1 Estland 1 Griechenland 24 Beratene Personen mit EU- Daueraufenthaltsstatus aus Drittstaaten 23 Belgien 1 Beratene Personen mit EU- Daueraufenthaltsstatus aus Drittstaaten 24 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/5474 7 2016 Land Anzahl der beratenen Personen Polen 140 Bulgarien 92 Rumänien 54 Spanien 48 Ungarn 2 Italien 3 Portugal 8 Litauen 2 Slowenien 1 England 1 Frankreich 1 Beratene Personen mit EU- Daueraufenthaltsstatus aus Drittstaaten 15