BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/7181 21. Wahlperiode 13.12.16 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Alexander Wolf (AfD) vom 06.12.16 und Antwort des Senats Betr.: Theaterunterricht und Darstellendes Spiel – Lehrerversorgung und Kosten In den Stundentafeln der allgemeinen Hamburger Schulen ist seit dem Schuljahr 2011/2012 in den Jahrgangsstufen 1 – 6 zusätzlich Unterricht im Fach „Theater“ im Umfang von insgesamt 228 Wochenstunden aufgenommen worden. In den darauffolgenden Jahrgangsstufen wird an den weiterführenden Schulen das Unterrichtsfach „Darstellendes Spiel“ als Wahlpflichtfach bis zum Abitur fortgeführt. Hamburg ist das einzige Bundesland, welches einen durchgängigen Unterricht im Fach Theater/Darstellendes Spiel von der Grundschule bis zur Oberstufe vorsieht. Im Bildungsplan der Grundschule für den Theaterunterricht heißt es: „Jungen und Mädchen sollen in ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, Interessen und Kompetenzen wahrgenommen werden, um ihre Potenziale zu nutzen und zu fördern und um einengenden Geschlechtsrollenzuschreibungen entgegenzuwirken.“1 Und an anderer Stelle: „Der Theaterunterricht unterstützt die interkulturelle Kommunikation. (…) Im Sinne einer transkulturellen Didaktik können auch bildnerische, musikalische, choreografische und mediale Elemente einbezogen werden, die das Denken in traditionellen Kulturdomänen als überwunden erscheinen lassen. Im Theaterunterricht geht es auch darum, theatrale Zeichen und performative Handlungen generell interkulturell oder transkulturell zu lesen. Perspektivwechsel unterstützen die kulturelle Selbst- und Fremdreflexion der Lernenden mit dem Ziel der Akzeptanz divergenter Denkweisen und kultureller Traditionen, unterschiedlicher lebensweltlicher Orientierungen und ästhetischer Auffassungen , auch wenn sie von der eigenen abweichen.“2 Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: 1. Wurde der Unterricht im Fach „Theater“ in den Jahrgangsstufen 1 – 6 im Umfang von insgesamt 228 Wochenstunden seit dem Schuljahr 2011/ 2012 zusätzlich oder zuungunsten eines anderen Faches in die Stun- 1 Bildungsplan Grundschule Theater: http://www.hamburg.de/contentblob/2965726/ cc1544fef0872650c44456ac4950fb53/data/theater-gs.pdf (Seite 16, abgerufen am: 06.12.2016). 2 Ebenda. Drucksache 21/7181 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 dentafeln aufgenommen? Bitte die Umstellung beziehungsweise Umverteilung genau erläutern. Der Unterricht im Fach Theater in den Jahrgangsstufen 1 bis 6 im Umfang von insgesamt sechs 45-minütigen Wochenstunden wurde weder zusätzlich noch zuungunsten eines anderen Fachs in die Stundentafeln aufgenommen. Es wurde weder die Anzahl der in einer Schulstufe insgesamt zu erteilenden Unterrichtsstunden (Grundstunden) erhöht noch wurden die Stunden eines bestimmten Fachs oder Lernbereichs zugunsten des Unterrichts im Fach Theater gesenkt. Gemäß § 36 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Grundschule und die Jahrgangsstufen 5 bis 10 der Stadtteilschule und des Gymnasiums (APO-GrundStGy) weisen die Kontingentstundentafeln für jede Schulform die Anzahl der Mindeststunden aus, die in den Fächern und Lernbereichen von der ersten bis zur letzten Jahrgangsstufe der Schulform beziehungsweise der Schulstufe zu erteilen sind. Die einzelne Schule kann gemäß § 38 APO- GrundStGy zusätzlich den sogenannten Gestaltungsraum als Kontingent nutzen, um Schwerpunkte zu setzen, indem sie unter anderem den Unterricht in den Fächern und Lernbereichen der Stundentafel verstärkt. Dieser Gestaltungsraum wird auch für das Fach Theater genutzt. Welches Fach beziehungsweise welcher Lernbereich dabei verstärkt wird oder nicht, entscheidet die Schule selbstverantwortlich. 2. Wie viele Lehrer wurden seit dem Schuljahr 2011/2012 mit einer entsprechenden Lehrbefähigung für das Unterrichtsfach „Theater“ beziehungsweise „Darstellendes Spiel“ an den allgemeinen Hamburger Schulen eingestellt oder qualifiziert? Bitte auch die unterschiedlichen Status angeben (verbeamtete Lehrer und angestellte Lehrer). Seit dem Schuljahr 2011/2012 sind insgesamt 30 Lehrkräfte mit der Fachqualifikation „Darstellendes Spiel/Theater“ an den allgemeinen Hamburger Schulen eingestellt worden. Diese Daten werden aus dem Bewerberverfahren der für Bildung zuständigen Behörde ausgewertet. Die endgültige Statusfeststellung (Beamte/Angestellte) erfolgt erst im Rahmen des Einstellungsverfahrens auf Basis der laufbahnrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen, sodass diese Angabe über das Bewerberverfahren nicht auswertbar ist. Seit dem Schuljahr 2011/2012 wurden insgesamt 363 Lehrkräfte der allgemeinbildenden Schulen für das Unterrichtsfach Theater durch das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) qualifiziert. Der Status (Beamte/Angestellte) wurde bei den Qualifizierungen nicht erhoben. 3. Welche haushaltsrelevanten Gesamtkosten haben die Neueinstellungen und Qualifizierungsmaßnahmen für diese Lehrergruppe verursacht? Die haushaltsrelevanten Gesamtkosten hängen nicht vom Umfang der Neueinstellungen einer spezifischen Lehrergruppe ab, sondern basieren auf den Bedarfsgrundlagen des Lehrerstellenplans, wie sie als Teil des Haushaltsplans von der Bürgerschaft beschlossen werden. Die dort ausgewiesene Grundstundenzahl, die den Schulen zugewiesen wird, hat sich zum Schuljahr 2011/2012 nicht verändert. Für die vom Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) seit dem Schuljahr 2011/2012 durchgeführten Qualifizierungsmaßnahmen wurden haushaltsrelevante Kosten insgesamt in der Höhe von 179.351 Euro verursacht. 4. Welche allgemeine und didaktische Intension liegt der im Bildungsplan Grundschule enthaltenen Forderung zugrunde, im Theaterunterricht „einengenden Geschlechtsrollenzuschreibungen entgegenzuwirken“ (Bildungsplan, Seite 16)? Dem Bildungsplan Grundschule Theater liegt als allgemeine Intention der Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 3 Grundgesetz (GG) zugrunde, von dem sich der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule herleitet, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, „ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen (…) der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten“, siehe § 2 Hamburgisches Schulgesetz (HmbSG). Siehe auch das Gleichstellungspolitische Rahmenprogramm 2013 – 2015 des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/7181 3 http://www.hamburg.de/contentblob/3876940/data/gleichstellungspolitischesrahmenprogramm .pdf, Seite 5. Zur didaktischen Intention des Theaterunterrichts siehe Bildungsplan Grundschule Theater, Didaktische Grundsätze http://www.hamburg.de/contentblob/2965726/cc1544fef0872650c44456ac4950fb53/d ata/theater-gs.pdf, Seite 14 fortfolgende. Insofern trägt der Theaterunterricht durch verschiedene Spielformen, durch Handlungs- und Projektorientierung sowie durch die Förderung von Kooperation, durch Prozesse und künstlerische Entscheidungen, die dem persönlichen Ausdruck Raum geben, sowie durch kreative Gestaltungsarbeit dazu bei, dass „tradierte Erwartungen und Geschlechterrollen nicht verfestigt, sondern möglichst relativiert und abgebaut werden, sowie spezifischen Bedürfnissen der Geschlechter Rechnung getragen wird“ (Gleichstellungspolitisches Rahmenprogramm 2013 – 2015, Seite 25). 5. Wie wird im Unterrichtsfach Theater und Darstellendes Spiel mit Einstellungen von Schülern umgegangen, die eine multikulturelle Gesellschaft nicht per se als erstrebenswert ansehen und zuwanderungskritische Aspekte thematisieren? Bitte Bezug nehmen auf die Anforderungen im Bereich interkulturelle Kompetenz (siehe Einleitung). Grundlage für die Befassung mit gesellschaftlich relevanten Themen an Schulen ist der Wertekanon, der sich aus dem Bildungs- und Erziehungsauftrag des Hamburgischen Schulgesetzes ergibt und der unabhängig vom jeweils unterrichteten Fach für alle an Schulen Tätigen verbindlich ist. Konkretisiert wird dieser Bildungs- und Erziehungsauftrag unter anderem in den Rahmenplänen der Fächer. Für die Gestaltung des Unterrichts oder der weiteren auf die politisch-gesellschaftliche Urteilsbildung zielenden Aktivitäten an Schulen gelten unabhängig vom unterrichteten Fach didaktische Grundsätze wie der „Beutelsbacher Konsens“. Dieser verpflichtet die an Schulen Tätigen, Schülerinnen und Schülern keine Meinung aufzuzwingen (Indoktrinations-/ Überwältigungsverbot), kontroverse Themen auch als solche darzustellen (Kontroversitätsgebot ) und an der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler anzusetzen (Schülerorientierung). Die Schülerinnen und Schüler sollen durch den Unterricht und die sonstigen schulischen Aktivitäten in die Lage versetzt werden, die politische Situation der Gesellschaft und ihre eigene Position zu analysieren, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich aktiv am politischen Prozess beteiligen zu können. Diese Grundsätze gelten auch für den Unterricht im Fach Theater. 6. Inwieweit ist der sehr normativ konnotierte und auf Bejahung abzielende Begriff der „Akzeptanz“ in Bezug auf „divergente Denkweisen und kulturelle Traditionen“ (Bildungsplan, Seite 16) nach Ansicht des Senats beziehungsweise der BSB vereinbar mit dem Neutralitätsgebot und dem Indoktrinationsverbot? 7. Im Gegensatz zum Begriff der „Akzeptanz“ beinhaltet das Konzept der „Toleranz“ sowohl eine ablehnende als auch eine annehmende Komponente . Warum benutzt die BSB nicht diesen weitaus weniger normativ konnotierten und mit dem aus dem Grundgesetz abgeleiteten Neutralitäts - und Indoktrinationsverbot nicht konfligierenden Begriff?3 § 2 HmbSG legt im Rahmen des Bildungs- und Erziehungsauftrags für die Hamburger Schulen unter anderem fest, „die Schülerinnen und Schüler zu befähigen und ihre Bereitschaft zu stärken, ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Achtung und Toleranz (…) zu gestalten.“ Das neben Toleranz genannte Prin- 3 „Von größter Bedeutung für den Begriff der Toleranz ist es, dass die tolerierten Überzeugungen oder Praktiken in einem normativ gehaltvollem Sinne als falsch angesehen bzw. als schlecht verurteilt werden; (…) Ohne diese Komponente würde man nicht von Toleranz sprechen , sondern entweder von Indifferenz (dem Fehlen einer positiven oder negativen Bewertung ) oder von Bejahung (dem Vorliegen einer allein positiven Bewertung). Diese beiden Einstellungen werden zwar häufig mit Toleranz verwechselt, doch sie sind in Wahrheit mit Toleranz unverträglich.“ (Forst, R. (2003). Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main, 32). Drucksache 21/7181 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 zip der Achtung fordert die Vermittlung einer Haltung, die über Toleranz, wörtlich verstanden als Duldsamkeit im Sinne eines Hinnehmens und Ertragens anderer Menschen , Haltungen und Einstellungen hinausgeht. „Achtung“ impliziert einen wertschätzenden Umgang von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Haltung und Einstellungen miteinander, nicht jedoch die Erwartung, nicht geteilte Haltungen und Einstellungen als für sich verbindlich zu übernehmen. Im Bildungsplan Grundschule Theater ist diese an Schule gerichtete Erziehungserwartung mit dem Begriff der Akzeptanz konkretisiert . Die zuständige Behörde sieht hier keinen Konflikt zwischen dem genannten Bildungs - und Erziehungsziel und dem Indoktrinationsverbot gemäß Beutelsbacher Konsens .