BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/745 21. Wahlperiode 19.06.15 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Ludwig Flocken (AfD) vom 11.06.15 und Antwort des Senats Betr.: Grundschulempfehlungen: Rückmeldungen zur Verbesserung der Übergangsprognose /Wissenschaftliche Erkenntnisse über Grundschulempfehlungen und soziale Herkunft des Kindes Das Vertrauen der Hamburger Eltern in die Übergangsempfehlungen der Grundschullehrer ist nicht groß genug, um bindende Übergangsempfehlungen politisch durchzusetzbar zu machen. Auch eine nichtbindende Empfehlung hat jedoch Wirkung. Diese Wirkung kann sich sowohl in falsch positiven als auch in falsch negativen Empfehlungen niederschlagen und alle Beteiligten belasten. Nach meinem Wissenstand bekommen Grundschullehrer keine strukturierte Rückmeldung über den weiteren Bildungsgang ihrer ehemaligen Schüler und sind in dieser Hinsicht auf Kontakte angewiesen, die sich zum Beispiel durch jüngere Geschwister sowie zufällige Begegnungen der Lehrer in der Fußgängerzone mit ehemaligen Schülern oder deren Eltern ergeben. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Mit der sogenannten Schullaufbahnempfehlung wurden die Sorgeberechtigten der Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 4 der Grundschule vor der Schulreform von 2009 beraten, welche der Schulformen Hauptschule, Realschule, Gymnasium, integrierte oder kooperative Gesamtschule für ihr Kind im Anschluss an die Grundschule geeignet wäre. Mit der Einführung eines zweigliedrigen Schulsystems, in dem in jeder der beiden Schulformen alle allgemeinbildenden Schulabschlüsse erreicht werden können, erübrigte sich eine solche Empfehlung. Seither verpflichtet das Hamburgische Schulgesetz (HmbSG) in § 44 Absatz 4 Satz 1 die Zeugniskonferenz, vor dem Hintergrund der fachlichen und überfachlichen Kompetenzen, die die Schülerinnen und Schüler bis zum Ende des ersten Halbjahres der Jahrgangsstufe 4 erworben und gezeigt haben, eine Einschätzung zur weiteren Schullaufbahn abzugeben. Aussagen über den Schulerfolg in Gestalt eines Abschlusses sind zu diesem Zeitpunkt weder gefordert noch fachlich möglich. Insbesondere existiert kein prognostisches Verfahren, das hierüber Auskunft geben könnte. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Gibt es strukturierte Rückmeldungen an die Grundschullehrer über den weiteren Bildungsweg ihrer ehemaligen Schüler? a) Wenn ja: Wie sehen diese aus? b) Wenn nein: Sieht der Senat solche Rückmeldungen als hilfreich an, um zukünftige Empfehlungen auf eine solidere Basis zu stellen? 2. Gibt es nach Einschätzung des Senats alternative Verbesserungsmöglichkeiten für die Übergangsempfehlungen? Drucksache 21/745 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Wenn ja: welche? Siehe Vorbemerkung. Die Entscheidung für die weiterführende Schulform nach § 42 HmbSG obliegt den Sorgeberechtigten. Eine Veränderung des Einschätzungsbogens ist daher nicht notwendig. 3. Gibt es datenschutzrechtliche oder andere Bedenken dagegen, Grundschullehrer über den weiteren Bildungsweg ihrer ehemaligen Schüler zu informieren? a) Wenn ja: Können diese Bedenken ausgeräumt werden? b) Wenn nein: Ist eine solche Information geplant? Wie sehen diese Pläne aus? c) Wenn es keine Pläne gibt, warum nicht?´ Nach § 98 Absatz 1 HmbSG dürfen die zuständige Behörde und die staatlichen Schulen personenbezogene Informationen nur zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben verarbeiten. Gemäß § 14 Absatz 3 HmbSG ist es Aufgabe der Grundschullehrkräfte, Kinder in der Primarstufe zu bilden und zu erziehen. An der Bildung und Erziehung in den Sekundarstufen nehmen sie nicht teil. Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage werden ihnen derzeit weder individuelle Lernfortschritte ihrer früheren Schülerinnen und Schüler mitgeteilt, noch gibt es diesbezügliche Planungen. In der Bildungswissenschaft kommt die Studie „Verbindliche und unverbindliche Grundschulempfehlungen und soziale Ungleichheiten am ersten Bildungsgang “ (Dollmann 2011)1 zu dem Ergebnis, dass ein verbindliches Lehrerurteil den Einfluss der sozialen Herkunft auf das Übergangsverhalten am Ende der Grundschulzeit reduziert. Der Studie zufolge erkennen Grundschullehrer ein gymnasialtaugliches Leistungspotenzial eines Schülers aus einem weniger privilegierten Elternhaus besser als die Eltern des Kindes und sprechen häufiger eine Empfehlung für den höheren Bildungsgang aus, als die Eltern es tun würden. Aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist eine Verbindlichkeit der Übergangsempfehlung anzustreben. 4. Wie bewertet der Senat diese wissenschaftliche Erkenntnis in Bezug auf die Nachrangigkeit der Grundschulempfehlung hinter dem Elternwahlrecht gemäß § 42 des Hamburgischen Schulgesetzes? 5. Welche Maßnahmen erwägt der Senat, um diese durch den Vorrang des Elternwahlrechts vor der Grundschulempfehlung verursachte und zu erwartende Ungerechtigkeit zum Nachteil leistungsstarker Schüler aus nicht privilegierten Elternhäusern auszugleichen? Die Befunde von Dollmann (2011) beziehen sich auf die Situation in Nordrhein-Westfalen mit einem damals viergliedrigen Schulsystem (ohne Sonder- und Förderschulen) und können damit nicht unmittelbar auf die Situation in Hamburg mit seinem Zweisäulenmodell übertragen werden. Das Zweisäulenmodell in Hamburg ermöglicht es, auf zwei Wegen (Gymnasium oder Stadtteilschule) eine Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben. Lediglich die Dauer des Bildungsgangs unterscheidet sich. Die Schulformwahl der Eltern hat dadurch weniger Konsequenzen für die Chance, einen höheren Abschluss zu erreichen als damals in Nordrhein-Westfalen. Die Wahl der Eltern für eine Stadtteilschule kann auch eine bewusste Entscheidung für das Abitur nach 13 Jahren sein, unabhängig von dem Leistungspotenzial des Kindes und der Übergangsempfehlung der Lehrkraft. Leistungsstarke Schülerinnen und Schüler werden im Rahmen des Unterrichts wie auch durch Maßnahmen der Begabtenförderung und zusätzliche Angebote, wie zum Beispiel Mathe-Zirkel, gefördert und in ihrer Lernentwicklung unterstützt. Die Eltern 1 Dollmann, Jörg: Verbindliche und unverbindliche Grundschulempfehlungen und soziale Ungleichheiten am ersten Bildungsgang, Kölner Zeitrschift für Soziologie und Sozialpsychologie , Köln 2011. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/745 3 werden über diese Maßnahmen und die Leistungsfähigkeit und Lernentwicklung ihrer Kinder im Rahmen von Elterngesprächen mit Fachlehrkräften, Lernentwicklungsgesprächen , Rückmeldungen zu Leistungsnachweisen, Projektarbeiten oder andere besondere Leistungen informiert und gegebenenfalls über weitere Fördermöglichkeiten beraten. Auf Elternabenden und im Rahmen niederschwelliger Angebote wie zum Beispiel Elternmentoren, Elterntreffs oder Elterncafés werden Eltern darüber hinaus über Möglichkeiten der Unterstützung und Förderung ihrer Kinder beraten und aufgeklärt , damit Entscheidungen der Sorgeberechtigten über den Bildungsweg ihrer Kinder dem Leistungsstand ihres Kindes entsprechen. In Schulen mit niedrigem Sozialindex werden kleinere Klassen gebildet, um Schülerinnen und Schüler im Unterricht individuell fördern zu können. Das Zweisäulenmodell in Hamburg sieht außerdem vor, dass ein Wechsel nach der Jahrgangsstufe 6 nicht nur vom Gymnasium in die Stadtteilschule, sondern auch von der Stadtteilschule ins Gymnasium möglich ist. Im Übrigen gelten die gesetzlichen Vorgaben, nach denen allein die Sorgeberechtigten über die im Anschluss an die Grundschule besuchte Schulform entscheiden, siehe Vorbemerkung. 6. Wie hoch darf nach Einschätzung des Senats generell die Fehlerquote einer Grundschulempfehlung über die Art der weiterführenden Schule im Vergleich zum tatsächlich erreichten Schulabschluss des Schülers nach der absolvierten Regelschulzeit, inklusive möglicher absolvierter gymnasialer Oberstufe, maximal sein? Bitte die Einschätzung differenzieren in Bezug auf Übergangsempfehlungen für das Gymnasium und für die Stadtteilschule. Zum Zeitpunkt des Übergangs in die weiterführende Schule ist eine verbindliche Voraussage über den Schulabschluss im Sinne der Fragestellung nicht möglich. Gerade deshalb verzichtet Hamburg auf eine verbindliche Schullaufbahnempfehlung, siehe Vorbemerkung. 7. Sieht der Senat einen Widerspruch zwischen der Prognosesicherheit einer Übergangsempfehlung durch die Grundschule und den in den vergangenen Jahren alterierenden Voraussetzungen für eine a) Versetzung von der Beobachtungsstufe in die Mittelstufe und b) Versetzung von der Mittelstufe in die Oberstufe? Nein. 8. Schließt sich der Senat der Auffassung an, dass Übergangsempfehlungen besonders dann Sinn machen, wenn die Leistungsanforderungen der verschiedenen Schullaufbahnen eine gewisse Konstanz aufweisen? a) Wenn ja: Warum sind die Leistungsanforderungen an Hamburger Gymnasium in den vergangenen Jahren nachweislich abgesenkt worden?2 b) Wenn nein: warum nicht? Die Leistungsanforderungen in den verschiedenen Bildungsgängen werden in den Bildungsplänen festgelegt, die wiederum die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz umsetzen. Die Leistungsanforderungen an Hamburger Gymnasien wurden in den letzten Jahren nicht abgesenkt. Zur Bedeutung der Übergangsempfehlung siehe Drs. 21/427. 2 Bereits im vergangenen Jahr hatten Studien ergeben, dass das Niveau der Hamburger Abitur- prüfungen in der Vergangenheit deutlich gesunken ist. So hat es beispielsweise im Fach Mathematik in den Jahren 2005 bis 2013 einen klaren Abstieg in den Anforderungen gegeben , wie vier Forscher und ein Schulleiter in einem Aufsatz gemeinsam festgestellt hatten (https://www.mathematik.de/ger/presse/ausdenmitteilungen/artikel/dmvm-2014-0046.pdf).