BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/8260 21. Wahlperiode 14.03.17 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Karin Prien (CDU) vom 07.03.17 und Antwort des Senats Betr.: Klarheit schaffen bei der Hilfestellung für diabeteskranke Kinder an Hamburger Vor- und Grundschulen Der Senat hat im Jahre 2013 mit der Veröffentlichung einer Handreichung mit dem Titel „Medikamentenvergabe“ (siehe: http://www.hamburg.de/ contentblob/4089990/data/medikamente.pdf) sämtliche Regelungen und Verfahren zur Medikamentenvergabe durch oder mithilfe von Lehrkräften an Schulen an Schülerinnen und Schüler festgelegt. In der Handreichung wird die regelmäßige Medikation in drei Bereiche unterteilt. Das sind die „Erinnerung an die Medikamenteneinnahme“, „Medizinische Hilfsmaßnahmen“ und „Medizinische Maßnahmen“. Die Durchsicht der Handreichung und ihre praktische Anwendung lassen insbesondere im Bereich der Hilfestellung für diabeteskranke Kinder einige Fragen offen. In der Praxis führen die im Vergleich zu anderen Bundesländern unklare Regelung und das Fehlen einer entsprechenden verbindlichen Verwaltungsvorschrift in Hamburg zu großer Verunsicherung unter Eltern, Lehrkräften und Schülern. So ist zum Beispiel im Bundesland NRW im Rahmen einer Handreichung (siehe: https:// www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Schulgesundheitsrecht/Chronische -Erkrankungen-und-Diabetes/2016-07-01---Handreichung-zur- Medikamentengabe.pdf) geregelt, dass die Erinnerung an die Medikamenteneinnahme keine dienst- und arbeitsrechtlichen Pflichten der beamteten und tarifbeschäftigten Lehrkräfte sind. Ähnliches gilt zum Beispiel im Bundesland Bayern. Im Bundesland Baden-Württemberg ist im Rahmen der „Verwaltungsvorschrift Verabreichung von Medikamenten bei chronischen Krankheiten in Schulen“ (siehe: http://www.landesrecht-bw.de/jportal/portal/t/a26/ page/bsbawueprod.psml?doc.hl=1&doc.id=VVBW- VVBW000009053&documentnumber=1&numberofresults=1&showdoccase= 1&doc.part=F¶mfromHL=true) zum Beispiel geregelt, dass „keiner Lehrkraft gegen ihren Willen zugemutet werden, die Insulinpumpe zu bedienen“ und „(w)enn Eltern ihre Kinder mit Insulinpumpe in die Schule schicken, gehört es grundsätzlich zu ihrer Ausstattungspflicht, dafür zu sorgen, dass das Gerät auch sachgemäß bedient wird“. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Zum Schulbesuch in der Freien und Hansestadt Hamburg sind alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrem generellen gesundheitlichen Zustand berechtigt und verpflichtet. Schülerinnen und Schülern, die aufgrund einer chronischen Erkrankung oder einer Behinderung während des Schulbesuchs medizinische Versorgung benötigen , ist insoweit Unterstützung beim Schulbesuch zu gewähren. Die von der Behörde für Schule und Berufsbildung verfasste „Handreichung für die Medikamentenvergabe an Schülerinnen und Schüler in Schule“ informiert Lehrkräfte und sonstiges pädagogisches Personal darüber, welche Unterstützungstätigkeiten dabei konkret in Betracht kommen und stellt Mustertexte für Vereinbarungen zwischen Sorgeberechtigten, Drucksache 21/8260 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Lehrkräften, sonstigem pädagogischem Personal und der Schulleitung zur Verfügung. Grundsätzlich wird dabei zwischen medizinischen Maßnahmen, medizinischen Hilfsmaßnahmen und dem Erinnern an die Medikamenteneinnahme unterschieden. Medizinische Maßnahmen sind Tätigkeiten, die eine fachliche Ausbildung im medizinischen Bereich voraussetzen. Sie dürfen durch Lehrkräfte oder sonstiges pädagogisches Personal nicht durchgeführt werden. Medizinische Hilfsmaßnahmen sind Tätigkeiten, die keiner fachlichen Ausbildung im medizinischen Bereich bedürfen, wie zum Beispiel die Gabe von Tabletten beziehungsweise Tropfen, oder nur eine kurze Anleitung erfordern, wie zum Beispiel das Setzen von subkutanen Spritzen, etwa den sogenannten Insulin-Pens. Medizinische Hilfsmaßnahmen können freiwillig von Lehrkräften und dem sonstigen pädagogischen Personal übernommen werden. Sie zählen nicht zu den Dienstpflichten. Die Verantwortung in diesem Bereich liegt bei den Sorgeberechtigten. Verpflichtungen bestehen für Lehrkräfte oder sonstiges pädagogisches Personal nur dann, wenn sie sich von den Sorgeberechtigten einen Teil der Personensorge übertragen lassen. Das Erinnern an die Medikamenteneinnahme ist für Lehrkräfte dann eine Dienstpflicht, wenn die Sorgeberechtigten die Lehrkräfte hierum bitten, die Medikamenteneinnahme während der Schulzeit aus gesundheitlichen Gründen geboten ist und klare Weisungen zur Medikation vorliegen. Lehrkräfte sind in der Regel nach Absprache mit den Sorgeberechtigten bereit, medizinische Hilfstätigkeiten wie eine Medikamentenvergabe zu unterstützen. Sie haften grundsätzlich nicht, sodass Risiken und Nachteile, die aus einer Medikamentenvergabe erwachsen können, ausgeschlossen sind. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Wer darf nach Festlegung des Senats medizinische Maßnahmen an Schülerinnen und Schülern an Hamburger Schulen vornehmen und welche Vorbedingungen sind dabei jeweils zu erfüllen? Unter welchen Bedingungen können a) Lehrkräfte oder b) sonstige Mitarbeiter zu medizinischen Maßnahmen an Schülerinnen und Schülern dienstverpflichtet werden? Siehe Vorbemerkung. 2. Die Handreichung „Medikamentenvergabe“ stellt mit der Anlage 3 eine Mustervereinbarung für eine Vereinbarung zum Erinnern zur Medikamenteneinnahme zur Verfügung. Zugleich stellt das „Erinnern an die Medikamenteneinnahme“ eine Dienstpflicht für Lehrkräfte dar. a) Wer entscheidet im Einzelfall, ob die Mustervereinbarung zum Einsatz kommt oder ob und in welcher Form vom Muster abgewichen wird? Es bleibt den Beteiligten – Lehrkräfte, Sorgeberechtigte, Schulleitung – überlassen, ob sie das Muster verwenden. Das Muster soll lediglich zur Vereinfachung des Verfahrens dienen. b) Wer entscheidet insbesondere darüber, ob Auswahlpunkt 26 der Mustervereinbarung „Die bzw. der Verantwortliche hat jederzeit das Recht zur fristlosen Kündigung der Vereinbarung, wenn nach ihrer/seiner Einschätzung die Kooperation der Schülerin/des Schülers oder der Sorgeberechtigten nicht (mehr) ausreichend gegeben ist“ zur Anwendung kommt? Gibt es die Möglichkeit, eine Kündigung auf der Basis des Auswahlpunktes 26 der Mustervereinbarung per Dienstanweisung zu widerrufen beziehungsweise nichtig zu machen? Die Entscheidung der verantwortlichen Lehrkraft ist in Abstimmung mit der Schulleitung zu treffen. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/8260 3 3. Stellt die Vereinbarung „Erinnern an die Medikamenteneinnahme“ eine Übernahme der Personensorge dar? Falls ja, was bedeutet die Übernahme der Personensorge für die verpflichtete Person? 4. Ist es richtig, dass die Übernahme der Personensorge durch Lehrkräfte dazu führt, dass diese damit Verpflichtete werden? Ja. Das bedeutet, dass die verpflichtete Person die Verantwortung für das Erinnern an die Medikamenteneinnahme entsprechend der mit den Sorgeberechtigten getroffenen Vereinbarung übernimmt und damit ihrer Dienstpflicht nachkommt. 5. In anderen Bundesländern (zum Beispiel NRW) gehört das Erinnern an die Medikamenteneinnahme zu den medizinischen Unterstützungsmaßnahmen und ist insofern für Lehrkräfte freiwillig. Zitat aus „Handreichung – Medikamentengabe durch Lehrerinnen und Lehrer“ (https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Schulgesundheitsrecht /Chronische-Erkrankungen-und-Diabetes/2016-07-01---Handreichungzur -Medikamentengabe.pdf): „Zu den medizinischen Unterstützungsmaßnahmen zählen insbesondere Erinnerung an Medikamenteneinnahme , Dosierung eines Medikamentes sowie die Verabreichung eines Medikamentes“ und weiter „Medizinische Unterstützungsmaßnahmen für Schülerinnen und Schülern mit chronischen Erkrankungen sind keine Aufgabe der Schule und nicht Bestandteil der Ausbildung von Lehrkräften . Diese Unterstützungsmaßnahmen gehören nicht zu dienst- und arbeitsrechtlichen Pflichten der beamteten und tarifbeschäftigten Lehrkräfte “. a) Wie beurteilt der Senat die Freiwilligkeit dieser Leistung durch Lehrkräfte im Hamburger Vor- und Grundschulen? Siehe Vorbemerkung. b) Was waren gegebenenfalls die Gründe des Senats, von dieser Freiwilligkeit bei der Erinnerung zur Medikamenteneinnahme abzusehen und selbige zur Dienstpflicht für Lehrkräfte zu machen? Soweit das Erinnern der Schülerin oder des Schülers an die Medikamenteneinnahme durch die Lehrkraft notwendig und zumutbar ist, handelt es sich um eine schulische Betreuungsaufgabe im Sinne des § 88 Absatz 2 Hamburgisches Schulgesetz beziehungsweise die Erfüllung der Aufsichtspflicht nach § 31 Hamburgisches Schulgesetz und damit um eine Dienstpflicht der Lehrkraft. Der Anspruch der Schülerinnen und Schüler auf ganztägige Bildung und Betreuung ergibt sich aus § 13 Hamburgisches Schulgesetz. 6. Zu den medizinischen Hilfsmaßnahmen gehört laut Handreichung „Medikamentenvergabe“ insbesondere die Gabe von Tabletten beziehungsweise Tropfen, oder das Setzen von subkutanen Spritzen, etwa den sogenannten Insulin-Pens. Durch technische Neuerungen stehen für die Insulinvergabe heute auch Insulinpumpen zur Verfügung. Welche einzelnen Tätigkeiten gehören nach Kenntnis des Senats zur ordnungsgemäßen Gabe von Insulin per Insulinpumpe und welche Vorarbeiten sind bei einer solchen Gabe zu beachten? Wie läuft die Gabe von Insulin per Insulinpumpe durch Schülerinnen und Schülern ab, die dabei von Lehrkräften unterstützt werden? Hierzu können keine allgemeingültigen Aussagen getroffen werden. Sollte eine Schülerin oder ein Schüler auf die Nutzung einer Insulinpumpe angewiesen sein, wird der Unterstützungsbedarf im Einzelfall konkret geklärt und mit den Sorgeberechtigten vereinbart, wie die Lehrkraft im Einzelfall unterstützen kann. Im Übrigen siehe Vorbemerkung . 7. Stellt das Erinnern an die Blutzuckermessung a) zu festgelegten Zeiträumen und Drucksache 21/8260 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 b) zu variablen, auf Beobachtungen basierenden Zeiträumen eine medizinische Hilfsmaßnahme nach den Regelungen der Handreichung „Medikamentenvergabe“ dar? Falls nein, warum nicht? Nein. Das Erinnern an die Blutzuckermessung bedarf keiner besonderen Kenntnisse oder Anleitung. 8. Stellt das Interpretieren von Blutzuckermessungen eine medizinische Hilfsmaßnahme nach den Regelungen der Handreichung „Medikamentenvergabe “ dar? Falls nein, warum nicht? Nein. Es handelt sich nicht um eine medizinische Hilfsmaßnahme, wenn von den Sorgeberechtigten eine Tabelle und eine Handlungsanweisung mitgeliefert werden, die eine eindeutige Bestimmung von Mengen ermöglicht, ohne dass es medizinischer Kenntnisse oder ausführlicher Berechnungen bedarf. 9. Stellt die Freigabe einer Eingabe in die Insulinpumpe einer Schülerin oder eines Schülers, also die Freigabe einer Injektion mittels der Pumpe, eine medizinische Hilfsmaßnahme nach den Regelungen der Handreichung „Medikamentenvergabe“ dar? Falls nein, warum nicht und worum handelt es sich bei der Freigabe einer Injektion mittels Insulinpumpe? 10. Ist insbesondere die Beantwortung der Frage eines Schülers oder einer Schülerin, ob er oder sie die Injektion durch die Insulinpumpe auslösen soll, durch die Dienstanweisung im Rahmen der Erinnerung an die Medikamenteneinnahme gedeckt oder stellt die Beantwortung einer derartigen Frage vielmehr eine medizinische Hilfsmaßnahme dar und ist demnach nur auf freiwilliger Basis möglich? Das Auslösen einer Insulinabgabe mittels einer Insulinpumpe stellt eine medizinische Hilfsmaßnahme dar, die von den betroffenen Kindern selbst beherrscht wird. Das zuvor notwendige Kontrollieren des von den Kindern eingegebenen Wertes ist eine reine Ablesetätigkeit und stellt keine medizinische Hilfsmaßnahme dar. 11. Kann sich eine Lehrkraft in Hamburg gegen eine dienstliche Weisung zur Freigabe einer Eingabe in die Insulinpumpe einer Schülerin oder eines Schülers, also die Freigabe einer Injektion mittels der Pumpe (eine medizinische Hilfsmaßnahme nach den Regelungen der Handreichung „Medikamentenvergabe“), zur Wehr setzen? Lehrkräften stehen die üblichen rechtlichen Möglichkeiten zur Überprüfung dienstlicher Weisungen zur Verfügung. 12. Darf eine Lehrkraft, die die Freigabe einer Eingabe in die Insulinpumpe einer Schülerin oder eines Schülers, also die Freigabe einer Injektion mittels der Pumpe, verweigert, wegen dieser Verweigerung abgeordnet oder versetzt werden? Falls ja, auf welcher Rechtsgrundlage? Der Einsatz von Lehrkräften unterliegt dem Direktionsrecht des Arbeitgebers beziehungsweise dem Weisungsrecht des Dienstherrn, der für die ordnungsgemäße Durchführung des Schulbetriebs zuständig ist. Versetzungen, Abordnungen und Umsetzungen dürfen nicht willkürlich oder als „Strafmaßnahme“ erfolgen. 13. Welche versicherungsrechtlichen Probleme und Haftungsrisiken ergeben sich für Schülerinnen und Schüler einerseits und Lehrkräfte andererseits im Zusammenhang mit der Vornahme von medizinischen Hilfsmaßnahmen ? Handelt es sich bei der Vornahme von medizinischen Hilfsmaßnahmen um Verrichtungen, die dem Schulbesuch, als versicherter Tätigkeit im Sinne von § 2 Absatz 1 Nummer 8 b SGB VII zuzuordnen ist, Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/8260 5 oder um sogenannte „eigenwirtschaftliche Tätigkeiten“, die dem privaten Lebensbereich zuzuordnen sind? Medizinische Hilfsmaßnahmen durch Lehrkräfte sind von der gesetzlichen Unfallversicherung umfasst, siehe DGUV Information 202-09, Medikamentenabgabe in Schulen, November 2012 – aktualisierte Fassung Juli 2014, http://publikationen.dguv.de/dguv/ pdf/10002/202-091.pdf. 14. Ist die vorstehende Rechtsfrage mit der Unfallkasse Nord abschließend geklärt? Falls ja, seit wann? Existiert dazu eine verbindliche Erklärung oder Verständigung ? Ja, seit dem 13. November 2012. Die Unfallkasse Nord geht bei Schädigungen von Schulkindern oder Komplikationen durch freiwillige Medikamentenabgabe in Schulen zwar nicht generell, aber im Regelfall von einem Arbeits-/Schulunfall aus. Die Anerkennung ist in diesen Fällen im Wesentlichen davon abhängig, ob die Personensorge von den Berechtigten übertragen worden ist und ob der Medikamentengabe die Bedeutung einer wesentlichen Teilursache für die aufgetretene Schädigung/ Komplikation zukommt. Die Anerkennung verlangt in der Verwaltungspraxis eine sorgfältige Prüfung. Diese Voraussetzungen finden auch Anwendung, wenn die Medikamentenabgabe durch anderes autorisiertes Schulpersonal erfolgt.