BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/8413 21. Wahlperiode 28.03.17 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Sabine Boeddinghaus (DIE LINKE) vom 22.03.17 und Antwort des Senats Betr.: Gewaltmeldungen an Schulen – Ausnahmen und Regeln (II) Seit 2009 gibt es in Hamburg eine „Richtlinie zur Meldung und Bearbeitung von Gewaltvorfällen an Schulen.“ Gemäß der Antwort auf meine Anfrage vom 20.12.16 zu Gewaltmeldung an Schulen (Drs. 21/7258) hatte der Hamburger Senat angegeben, dass zurzeit 936 Kinder unter 14 Jahren im Auskunftssystem POLAS gespeichert sind, davon 180 Kinder unter zehn Jahren. Allein diese Zahl zeigt, dass die Polizei in starkem Maße mit diesem „Problem“ befasst ist. Die Daten werden gemäß der Antwort auf meine Frage 2. der Drs. 21/7258 bei der Polizei so lange gespeichert wie es „für die Aufgabenerfüllung erforderlich“ ist. Das bedeutet, dass es keine vorgegebene Löschungsfrist gibt. Andere Dateien, die zusätzlich existieren, haben Löschungsfristen von zwei Jahren. Dabei werden die Verfahren wegen der Strafunmündigkeit nach §19 Strafgesetzbuch immer eingestellt werden. Die dafür verantwortliche Richtlinie der Schulbehörde ist im September 2016 noch einmal verschärft worden, wobei die verbindlich zu meldenden Delikte der Kategorien I auf weniger Delikte eingeschränkt wurden. In einem Aufsatz1 zu diesem Thema haben Bernhardt Villmow und Alescha Lara Savinsky der Universität Hamburg die bisher vorgelegten Daten analysiert und kritisch kommentiert. Unsicherheiten gäbe es aus ihrer Sicht zum Beispiel bei der möglicherweise sehr unterschiedlichen Meldebereitschaft bei Lehrern/-innen und Schulleitungen. Sie kommen auf Seite 17 ihres Aufsatzes zu dem Schluss, dass „inhaltliche Lücken und Probleme“ erkennbar sind, die „gesicherte Aussagen erschweren“. Unklar bliebe nach ihrer Meinung, ob von einem Anstieg der Gewalt oder einer verstärkten Aufhellung des Dunkelfeldes ausgegangen werden muss. Dies vorausgeschickt frage ich den Senat: 1. In der offiziellen Statistik des Senates beziehungsweise der Schulbehörde ist von „Gewaltmeldungen an Schulen“ die Rede. Welchen Gewaltbegriff legt die Behörde hier zugrunde? 2. Wie viele Meldungen der Kategorie I und der Kategorie II wurden von den Schulen im Schuljahr 2015/2016 entsprechend der „Richtlinie zur Meldung und Bearbeitung von Gewaltvorfällen an Schulen“ vorgenom- 1 Aufsatz Bernhard Villmow/Alescha Lara Savinsky. Zur Entwicklung der registrierten Gewaltkriminalität in Hamburgs Schulen – einige statistische Daten und Anmerkungen von Bernhard Villmow und Alescha Lara Savinsky. Universität Hamburg. Fakultät für Rechtswissenschaft . Drucksache 21/8413 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 men? Bitte insgesamt und nach Bezirken geordnet unter Angabe der Anzahl und Kategorie sowie Delikten der jeweiligen Meldungen auflisten. 3. Bei dem Delikt „gefährliche Körperverletzung“ konnten gemäß Drs. 20/12882 auf Seite 1 im Zeitraum 1.1.2015 bis 1.4.2114 von 65 gemeldeten Fällen nur 44 von der Polizei bestätigt werden. Im Schuljahr 2014/2015 konnten von der Polizei von 89 entsprechend gemeldeten Vorfällen sogar nur acht Fälle verifiziert werden. Die Lehrer-Ersteinschätzungen hätten gemäß Drs. 21/1599 in vielen Fällen als übertrieben eingestuft werden müssen. Vor diesem Hintergrund: In wie vielen Fällen können die Gewaltmeldungen aus den Schulen für die verschiedenen Delikte der Kategorie I und II von der Polizei verifiziert werden? Bitte für die Jahre 2014/2015 und 2015/2016 die jeweils von den Schulen gemeldeten Delikte den von der Polizei bestätigten Delikten gegenüberstellen. Das bis zum Schuljahr 2014/2015 geltende Meldeverfahren für Gewaltvorfälle an Schulen mit einer Einteilung der Vorfälle in die Deliktkategorien 1 und 2 hatte sich nicht bewährt, weil sich die Erstbeurteilungen durch pädagogische Kräfte in den Schulen oft erheblich von den Ergebnissen der polizeilichen Ermittlungen unterschieden haben und in vielen Fällen als übertrieben eingestuft werden mussten. Eine überbehördliche Expertengruppe (Schulleitungen, ReBBZ, Beratungsstelle Gewaltprävention, Polizei Hamburg, Justizbehörde, Staatsanwaltschaft, BASFI) hatte daher der für Bildung zuständigen Behörde vorgeschlagen, sich bei den Meldungen von Gewaltvorfällen stärker auf objektivierbare Kriterien zu stützen und sich deshalb auf überprüfbare, feststellbare Straftaten im Kontext der Gewaltkriminalität zu konzentrieren . Aufgrund dieser Empfehlungen erfolgte in der für Bildung zuständigen Behörde eine Überarbeitung der Richtlinie zur Meldung und Bearbeitung von Gewaltvorfällen an Schulen und des Meldebogens. Zum Schuljahr 2015/2016 ist die überarbeitete Richtlinie in Kraft getreten und seitdem sind gegenüber der für Bildung zuständigen Behörde folgende Vorfälle meldepflichtig und gegenüber der Polizei Hamburg anzeigepflichtig: Straftaten gegen das Leben, Sexualdelikte, Raub/Erpressung und gefährliche Körperverletzung. Eine Kategorisierung in die Kategorien 1 und 2 erfolgt nicht mehr. Im Übrigen siehe Drs. 21/1599 und 21/5677. 4. Vor dem Hintergrund der Vielzahl von Meldungen, die von der Polizei überprüft und korrigiert werden müssen: Müssten nicht gerade bei Kindern bis 14 Jahren die Zusammenarbeit zwischen Familien und Schule im Vordergrund stehen und automatisierte Verfahren die Ausnahme darstellen ? Bitte um eine Stellungnahme mit Begründung der Positionierung . 5. Wird die Polizei bei der Bearbeitung von Gewaltmeldungen nicht in vielen Fällen als „Buhmann“ missbraucht? Bitte um eine Stellungnahme mit Begründung. Die Reduzierung von Gewalt ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der sich alle Behörden und Institutionen beteiligen müssen. Vor diesem Hintergrund kann die Polizei in diesem Kontext mit normverdeutlichenden Aktivitäten einen Beitrag leisten. Die Polizei Hamburg wird seitens der Schulen auf der Grundlage des Hamburgischen Schulgesetzes (HmbSG) bei strafrechtlich relevanten Handlungen informiert (§ 49 HmbSG). Die entsprechende Richtlinie und das Meldeverfahren mit Gewaltvorfällen konkretisieren diesen Sachverhalt. Im Vordergrund stehen die fachliche Unterstützung , die konkrete Hilfestellung für die Hamburger Schulen sowie erzieherische und pädagogische Maßnahmen in krisenhaften Situationen. Im Übrigen siehe Drs. 21/7258. 6. Wie viele Kinder und Jugendliche, die als „Täter/-innen“ in den Dateien geführt werden, sind gleichzeitig als Opfer von Gewaltvorfällen bekannt geworden? Bitte tabellarisch für die jeweiligen Delikte getrennt nach Kategorie I und II für das Schuljahr 2014/2015 und 2015/2016 auflisten. Wenn die Behörde dazu keine Daten hat, warum nicht? Wenn es bis jetzt keine Daten dazu gibt, wäre es nicht wichtig, dazu als Behörde für die Zukunft Daten zu erheben? Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/8413 3 7. Wie geht die Behörde fachlich mit der Tatsache um, dass bei den Gewaltmeldungen die genannten Täter/-innen in Teilen auch Opfer sind? Gibt es dazu Leitlinien für die Schulen? Eine Auswertung der erfassten Gewaltmeldungen für das Schuljahr 2015/2016 ergibt, dass ein Kind und ein Erwachsener jeweils einmal als Tatverdächtiger und einmal als Geschädigter erfasst wurden. Bei allen vier Gewaltmeldungen handelt es sich um den Verdacht auf gefährliche Körperverletzung. In konkreten Einzelfällen, bei denen beide Rollen (Täter, Opfer) gemeinsam auftreten, sind besondere Aspekte der Fallbearbeitung zu berücksichtigen. Im Übrigen siehe Antwort zu 9. 8. Geht der Senat beziehungsweise die Schulbehörde bei der Analyse der Daten der letzten Jahre eher von einer Aufhellung des Dunkelfeldes oder von einem realen Anstieg von Delikten im schulischen Raum aus? Antwort bitte mit Begründung geben. Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik Hamburg zeigen, dass die Zahl der polizeilich registrierten 14- bis 17-jährigen Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten in den letzten zehn Jahren von 1.163 in 2007 um 24 Prozent auf 883 in 2016 gesunken ist. Zeitgleich sank auch die Zahl unter 14-jähriger Tatverdächtiger von 428 in 2007 um 11,9 Prozent auf 377 in 2016. Diese Daten legen nahe, dass es sich bei der Entwicklung der schulischen Gewaltmeldungen um eine Aufhellung des Dunkelfeldes handelt. 9. In vielen Fällen haben die diversen Vorfälle an Schulen eine Vorgeschichte , zum Beispiel in Form von Mobbing in der Schule oder Gewalt in der Familie? In welcher Art und Weise und nach welchen Konzepten reagiert der Senat beziehungsweise die Schulbehörde bei der Bearbeitung von Gewaltmeldungen an Schulen auf diese teilweise komplexen Verläufe? Bitte Sachlage und Konzepte darstellen und begründen. Wissenschaftliche und empirische Erkenntnisse der Kriminalitätsforschung belegen durchaus die in der Frage formulierten Zusammenhänge in vielen Einzelfällen. Die schulische Bearbeitung eines Vorfalls wird über erzieherische und pädagogische Maßnahmen vollzogen und berücksichtigt in der Regel die Vorgeschichte von Konflikten beziehungsweise die individuellen Problemlagen von Kindern und Jugendlichen im familiären Umfeld. Die Einzelhilfe in den Schulen wird fallgezogen durch die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) unterstützt, gegebenenfalls in enger Kooperation mit den bezirklichen Jugendämtern. Insbesondere die Maßnahme „Gewaltprävention im Kindesalter“ mit den regionalen Tandems (ASD, ReBBZ) ist hier zu benennen, siehe Drs. 18/7296, Drs. 19/8174, Drs. 20/5972. Auch in den Präventionsangeboten der Beratungsstelle Gewaltprävention finden fachliche Entwicklungen aus Forschung und Wissenschaft ihre Berücksichtigung. 10. Welche zeitlichen und inhaltlichen Ressourcen stellt der Senat beziehungsweise die Schulbehörde dafür den Schulen zur Verfügung? Siehe Drs. 18/7296, 19/8174 und 20/5972. 11. Aus welchen Gründen wurde die seit 2009 existierende Richtlinie jeweils geändert? Bitte Zeitpunkte und Gründe darlegen. Siehe Antwort zu 1 bis 3. Im Übrigen Drs. 21/1917 und 21/2109. 12. Gibt es vonseiten des Senates beziehungsweise der Schulbehörde Überlegungen, die derzeit geltende Richtlinie zu überarbeiten? Nein.