BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/8479 21. Wahlperiode 04.04.17 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Christiane Schneider (DIE LINKE) vom 27.03.17 und Antwort des Senats Betr.: Aus dem NSU-Desaster keine Lehren gezogen? Seit 7. März 2017 findet vor dem OLG Dresden ein Prozess gegen acht Angeklagte statt. Ihnen wirft die Bundesanwaltschaft die Bildung einer terroristischen Vereinigung, versuchten Mord, gefährliche Körperverletzung sowie die Herbeiführung von Sprengstoffexplosionen vor. Die Angeklagten sollen unter anderem Sprengstoffanschläge auf eine Asylunterkunft in Freital sowie einen Anschlag auf ein Wohnprojekt verübt haben, das sich in der Flüchtlingssolidarität engagiert. Auch mit Anschlägen auf das Auto eines Linken- Stadtrats sowie das Parteibüro der Linken in Freital wird die Gruppe in Verbindung gebracht. Als mutmaßlichen Rädelsführer sieht die Bundesanwaltschaft den 1989 geborenen Timo S., der wegen des Verdachts weiterer Straftaten bereits im November 2015 festgenommen worden war. Timo S. war 2014 von Hamburg nach Sachsen gezogen. In einem Artikel auf „ZEIT ONLINE“ (http:// www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-03/gruppe-freital-prozessterrorismus -verfassungsschutz-timo-s?page=1#comments) wird ausgeführt, dass er sich zur Zeit seines Umzugs bereits mehrere Jahre in der extrem rechten Szene herumgetrieben und nachweislich an mehreren Aktionen teilgenommen hatte, und vor allem, dass die Hamburger Sicherheitsbehörden ihn in diesem Zusammenhang bereits seit 2009 auf dem Zettel hatten. Die sächsischen Sicherheitsbehörden sollen nach seinem Umzug nicht benachrichtigt worden sein, sodass er zumindest noch bis ins Jahr 2016 hinein als „unbeschriebenes Blatt“ und unbescholtener Busfahrer galt. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Die Beobachtung des Rechtsextremismus hat im Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Hamburg einen hohen Stellenwert. Seine traditionell vergleichsweise offene und transparente Linie hat das LfV Hamburg im Kontext der Neuausrichtung des Verfassungsschutzes weiter verstärkt. Seit 1993 informiert das LfV Hamburg die Öffentlichkeit in seinen Verfassungsschutzberichten (VSB) über die Entwicklung der militanten rechtsextremistischen und neonazistischen Szene in Hamburg hinsichtlich ihrer Mitgliederpotenziale , führenden Aktivisten, Strukturen, Organisationen und Aktivitäten in Hamburg und darüber hinaus. Dort wird auch umfassend über überregionale, bundesweite und internationale Kontakte und Verbindungen der Szene informiert. Bis 2001 wurden zudem die mögliche Entstehung rechtsterroristischer Strukturen erörtert und entsprechende Anhaltspunkte benannt. Zudem informiert das LfV Hamburg den Senat und insbesondere den Parlamentarischen Kontrollausschuss (PKA) der Hamburgischen Bürgerschaft zeitnah und umfassend gemäß § 26 Absatz 5 Hamburgisches Verfassungsschutzgesetz (HmbVerfSchG) über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Drucksache 21/8479 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Im thematischen Kontext dieser Schriftlichen Kleinen Anfrage hat das LfV Hamburg dem PKA – in Anwesenheit der Fragestellerin – bereits in seiner nicht öffentlichen Sitzung am 21. Juni 2016 über die dem LfV Hamburg vorliegenden Erkenntnisse zu Timo S. umfassend berichtet. Die dem PKA mitgeteilten Erkenntnisse wurden zuvor mit Schreiben vom 9. Mai 2016 dem Bundesamt für Verfassungsschutz aufgrund einer Anfrage des Bundeskriminalamtes übermittelt. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Welche Erkenntnisse lagen dem Landesamt für Verfassungsschutz und dem LKA beziehungsweise Staatsschutz über Aktivitäten des Timo S. sowie über seine Verbindungen zu extrem rechten beziehungsweise militanten neofaschistischen Organisationen (insbesondere zur NPD, zur von Torsten Heise gegründeten und lange geführten Kameradschaft Northeim, zur Weiße Wölfe Terrorcrew) bis zum Jahr 2014 einschließlich vor? Für den erfragten Zeitraum liegen der Polizei Hamburg keine polizeilichen Erkenntnisse zum erfragten Sachverhalt vor. Im Übrigen siehe Antworten zu 2. und 3. und Vorbemerkung . a. Inwiefern hatten das LfV und/oder das LKA Erkenntnisse über die Beteiligung von Timo S. an der NPD-Versammlung „Recht und Ordnung durchsetzen – Schanzenfest dauerhaft verbieten!“ am 11.9.2009? Inwiefern trifft zu, dass aus seiner Beteiligung ein Strafverfahren wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz resultierte ? Mit welchem Ausgang? Die Polizei Hamburg führte ein Verfahren im Sinne der Fragestellung. Aufgrund der Vorgaben zu Löschfristen liegen jedoch keine weiteren Erkenntnisse zum erfragten Sachverhalt vor. Beim LfV Hamburg liegen hierzu keine Erkenntnisse vor. b. Inwiefern hatten das LfV und/oder das LKA Erkenntnisse über die Teilnahme von Timo S. an einer Versammlung der sogenannten Freien Kräfte am 1. Mai 2011 in Halle? Inwiefern trifft zu, dass die Polizei in Sachsen-Anhalt nach dieser Veranstaltung aufgrund des Verdachts, dass Timo S. eine gefüllte Kunststoffflasche auf Gegendemonstranten /-innen geworfen hat, das LKA Hamburg gebeten hat, Timo S. zu dem Vorfall zu vernehmen, dass das LKA den Verdächtigen auch eingeladen hat, Timo S. jedoch nicht erschienen sei? Sofern der Polizei Hamburg hierzu Erkenntnisse vorlagen, sind diese aufgrund der Vorgaben zu Löschfristen nicht mehr vorhanden. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. c. Inwiefern hatten das LfV und/oder das LKA Erkenntnisse über die Teilnahme von Timo S. an der NPD-Demonstration zum 1.5.2012 in Neumünster (hinter einem Transparent der „Kameradschaft Northeim “) und über die Feststellung seiner Personalien in diesem Zusammenhang? d. Inwiefern hatte das LfV und/oder das LKA Erkenntnisse über die Teilnahme von Timo S. an einem Naziaufmarsch 2012 (vermutlich beim „Tag der deutschen Zukunft“ am 2.12.2012 in Hamburg), bei dem ein „SPIEGEL-ONLINE“-Video ihn im Block der Weiße Wölfe Terrorcrew zeigt (http://www.spiegel.de/video/buergerwehr-freitaltimos -hass-auf-die-fluechtlinge-video-1646417.html)? Inwiefern waren dem LfV und/oder dem LKA die Verbindung von Timo S. zu mindestens einem führenden „Kader“ dieser inzwischen verbotenen Vereinigung bekannt, wie in dem „SPIEGEL-ONLINE“-Video behauptet wird? Der Polizei Hamburg liegen keine Erkenntnisse zu den erfragten Sachverhalten vor. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 2. Inwiefern haben Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/8479 3 a. das Landesamt für Verfassungsschutz, b. das LKA beziehungsweise der Staatsschutz Erkenntnisse über Timo S., seine extrem rechten Umtriebe und seine Verbindungen zu extrem rechten beziehungsweise militanten neofaschistischen Organisationen an die entsprechenden sächsischen Sicherheitsbehörden übermittelt? c. Vor seiner Verhaftung? d. Nach seiner Verhaftung? Sofern der Polizei Hamburg nähere Erkenntnisse zu den erfragten Sachverhalten vorlagen, stehen diese aufgrund der Vorgaben zu Löschfristen nicht mehr zur Verfügung . Ausweislich der Datenbank POLAS befindet sich Timo S. seit November 2015 in Haft; seither hat ebenfalls keine Übermittlung stattgefunden. Auskünfte im Rahmen des vor dem Oberlandesgericht Dresden anhängigen Verfahrens obliegen im Übrigen dem Generalbundesanwalt. Die dem LfV Hamburg vorliegenden Erkenntnisse im Sinn der Frage wurden im Nachrichtendienstlichen Informationssystem – Wissensnetz – (NADIS-WN) gespeichert und damit dem gesamten Verfassungsschutzverbund, somit auch dem sächsischen Verfassungsschutz , zugänglich gemacht. 3. Sofern Erkenntnisse übermittelt wurden: a. auf wessen Initiative? b. zu welchem Zeitpunkt? c. von welcher Hamburger an welche sächsische beziehungsweise Bundesbehörde? d. Waren die übermittelten Erkenntnisse vollständig? Wenn nein, warum und inwiefern nicht? Auf Anfrage des Bundeskriminalamtes (BKA) kam es am 2. Mai 2016 zu einem Informationsaustausch zwischen dem Landeskriminalamt Hamburg und dem BKA. Alle dem LKA im Sinne der Fragen vorliegenden Erkenntnisse wurden übermittelt. Aufgrund einer Anfrage des BKA hat auch das LfV die dem PKA mitgeteilten Erkenntnisse mit Schreiben vom 9. Mai 2016 dem für den Informationsaustausch zuständigen Bundesamt für Verfassungsschutz übermittelt. Im Übrigen siehe Antwort zu 2. 4. Wenn bis zur Verhaftung beziehungsweise Anklageerhebung keine oder nur bruchstückhafte Erkenntnisse gegen Timo S. übermittelt wurden: a. Warum nicht? b. Warum haben die Sicherheitsbehörden, wie im genannten Artikel bei „ZEIT ONLINE“ dargestellt, die Anfrage des sächsischen Operativen Abwehrzentrums nach möglichen Verbindungen zur Weißen Wölfe Terrorcrew negativ beschieden und ihre möglichen weiteren Erkenntnisse zurückgehalten? c. Wann hat die zuständige Behörde Kenntnis von den militanten Umtrieben der „Bürgerwehr Freital“ und insbesondere von Timo S. Kenntnis erhalten? Die Polizei Hamburg erhielt im Jahr 2015 Kenntnis von Ermittlungen im Zusammenhang mit der „Gruppe Freital“. Im Übrigen siehe Antworten zu Fragen 1. bis. 3 und Vorbemerkung.