BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/9403 21. Wahlperiode 20.06.17 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Joachim Lenders (CDU) vom 12.06.17 und Antwort des Senats Betr.: Verzögert die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration schuldhaft die Einleitung von Asylverfahren für unbegleitete minderjährige Ausländer ohne Bleibeperspektive? Unbegleitete minderjährige Ausländer, die in Deutschland Schutz suchen, werden zunächst in einer Einrichtung in Obhut genommen, in der sie von sozialpädagogischen Fachkräften betreut werden. Aufgabe ist es zunächst, die jungen Menschen zu beraten und ihnen Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagsproblemen zu geben. In Hamburg übernimmt innerhalb der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration das Amt für Familie (FS 44) die sogenannte Amtsvormundschaft für unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA). „Minderjährige Flüchtlinge haben mit ihrer Flucht das Ziel verfolgt, in dem Zielland eine nicht nur kurzfristige Aufenthaltsperspektive zu eröffnen. In diesem Zusammenhang bekommen Fragen und eine qualifizierte Beratung rund um das Asylverfahren und einen ausländerrechtlichen Aufenthaltstitel eine besondere Bedeutung. Aus dem SGB VIII ergibt sich eine Pflicht zur Stellung des Asylantrags für einen in Obhut genommenen Jugendlichen nicht direkt. Auch aus der Obhuts- und Fürsorgepflicht (§ 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII) und der Berechtigung zur rechtlichen Vertretung des Jugendlichen (§ 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII) ergibt sich nach hiesiger Auffassung keine solche Pflicht. Eine Pflicht könnte allenfalls anzunehmen sein, wenn die Stellung des Asylantrags ausschließlich positive Rechtsfolgen für den Minderjährigen haben könnte. Dies ist jedoch nicht der Fall, z.B. in Fällen, in denen tatsächlich keine (staatliche) Verfolgung im Heimatland vorliegt, in Fällen, in denen der Jugendliche ein Bleiberecht aus anderen Gründen hat oder erwerben könnte, in Fällen, in denen bereits ein Erstantrag anderswo gestellt wurde, oder in Fällen, in denen der Jugendliche davon profitiert, dass seine Herkunft unklar oder unbekannt ist. Da jedoch die betreuende Stelle davon ausgehen muss, dass sie über die Hintergründe nicht notwendigerweise vollständig Kenntnis hat, könnte ein Asylantrag dem Minderjährigen auch schaden. Aus der Fürsorgepflicht kann sich daher keine Pflicht ergeben, einen Antrag zu stellen, der sich möglicherweise zum Nachteil des Jugendlichen auswirkt.“ Quelle: Online-Broschüre „Unbegleitete minderjährige Ausländer – Inobhutnahme und Betreuung im Landesbetrieb Erziehung und Beratung“, Ausgabe 2017. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Alle unbegleiteten minderjährigen Ausländer haben einen Anspruch auf Inobhutnahme durch das am tatsächlichen Aufenthaltsort zuständige Jugendamt (§ 42 Absatz 1 Drucksache 21/9403 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Nummer 3 i.V.m. § 87 SGB VIII). In Hamburg ist dies der Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB). Als eine wichtige Schutzmaßnahme wird nach den Regelungen des SGB VIII, des BGB und des FamFG die Bestellung eines Vormundes veranlasst. Die vom Familiengericht bestellten Amtsvormünder der Behörde nehmen ihre Aufgabe der Personen- und Vermögenssorge (§ 56 Absatz 1 SGB VIII i.V.m. § 1793 Absatz 1 und § 1631 Absatz 1 BGB) für das Mündel im Rahmen des Ihnen übertragenen Umfangs gemäß den Vorgaben des § 1626 Absatz 2 BGB war. Leitlinie des Handelns von LEB und Vormündern ist daher das Wohl der betreuten Minderjährigen und die Sicherstellung des nach Artikel 22 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention zu gewährenden Schutzes von minderjährigen Flüchtlingen. Unbegleitete Minderjährige benötigen zu und während der Durchführung des Asylverfahrens eine umfassende Begleitung und Unterstützung durch die Hamburger Kinder- und Jugendhilfe. Der LEB im Rahmen seiner Notvertretung nach § 42 Absatz 2 Satz 4 beziehungsweise nach § 42a Absatz 3 SGB VIII oder der bestellte Vormund unterstützen den asylsuchende Minderjährigen im Asylverfahren. Die asylrechtliche Anhörung findet grundsätzlich in Anwesenheit des Vormundes statt. Der Vormund hat die Gelegenheit, bei der Anhörung Fragen zu stellen, Anliegen und Anmerkungen vorzutragen. Die Begleitung und Unterstützung der asylsuchenden Minderjährigen bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Jugendhilferecht und Aufenthaltsrecht. Eine enge Kooperation zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den zuständigen Hamburger Behörden ist erforderlich und wird sichergestellt. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Wie viele unbegleitete minderjährige Ausländer werden derzeit von den Amtsvormündern und dem Landesbetrieb Erziehung und Beratung betreut? Die zuständige Behörde hat derzeit 502 aktive Vormundschaften für unbegleitete minderjährige Ausländer. In den Flüchtlingseinrichtungen des Landesbetriebes Erziehung und Beratung (LEB) werden aktuell 227 unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA) betreut, davon 155 im Rahmen einer Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII, 10 im Rahmen einer Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII und 62 Minderjährige im Rahmen einer Hilfe zur Erziehung nach § 27 i.v.m. 34 SGB VIII. Weitere 139 Betreute haben das 18.Lebensjahr bereits vollendet und werden im Rahmen einer stationären Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII betreut. 2. Bei wie vielen Mündeln ist die Identität (Personalien, Alter, Herkunft, Staatsangehörigkeit et cetera) geklärt? Alle Jugendlichen sind ausländerrechtlich erfasst und haben eine insoweit zugewiesene Identität. 3. Bei wie vielen Mündeln, deren Identität geklärt ist, besteht Kontakt zu den Behörden der Herkunftsländer beziehungsweise zu den Eltern? Über die Anzahl der Kontakte zu den Behörden der Herkunftsländer und zu den Eltern werden keine statistischen Daten erhoben. Die Entscheidung hierüber wird im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen getroffen; ob die Kontaktaufnahme erfolgreich ist, ist von vielen Faktoren abhängig, unter anderem von der tatsächlichen Erreichbarkeit. Kontakte zu den Eltern werden von den Jugendlichen auch eigenständig hergestellt. 4. Aus welchen Herkunftsländern stammen die Mündel, deren Identität geklärt ist? Bitte nach Anzahl, Geschlecht und Herkunftsland aufführen. Anzahl aktueller Zuständigkeiten gegliedert nach Herkunftsland und Geschlecht Herkunftsland weiblich männlich Ägypten 0 69 Afghanistan 38 143 Albanien 0 9 Algerien 0 3 Armenien 0 1 Benin 2 5 Elfenbeinküste 0 1 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/9403 3 Herkunftsland weiblich männlich Eritrea 21 30 Gambia 4 2 Ghana 0 1 Guinea 6 15 Irak 0 8 Iran 0 4 Libyen 0 1 Marokko 0 6 Mazedonien 0 2 Nigeria 0 1 Pakistan 0 2 Russland 1 0 Somalia 12 15 Syrien 21 79 Gesamtzahl 105 397 5. Wie viele unbegleitete minderjährige Ausländer, deren Identität nicht geklärt ist, werden zurzeit von den Amtsvormündern und dem Landesbetrieb Erziehung und Beratung betreut? Was unternimmt die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration konkret, um die Identität dieser unbegleiteten minderjährigen Ausländer festzustellen? Für die im LEB betreuten unbegleiteten minderjährigen Ausländer siehe Antwort zu 2. Es gelten dieselben Regelungen. Im Übrigen: entfällt. 6. Wie viele unbegleitete minderjährige Ausländer, die sich in der Obhut der BASFI befanden, wurden seit dem 1. Januar 2016 in ihre Heimatländer rückgeführt? Die Rückführung von unbegleiteten minderjährigen Ausländern in ihre Herkunftsländer unterliegt aufgrund internationaler Bestimmungen, unter anderem der UN-Kinderrechtskonvention , sehr restriktiven Bedingungen und ist daher bundesweit nur in Einzelfällen möglich. Initiierte Rückführungen seitens der Ausländerbehörde von Jugendlichen, die sich unter Amtsvormundschaft der zuständigen Behörde befinden, haben daher nicht stattgefunden. Eine statistische Erfassung im Sinne der Fragestellung erfolgt allerdings nicht Bei dem Wunsch einer freiwilligen Rückkehr in das Heimatland muss vorher festgestellt werden, dass die Kinder den Sorgerechtsinhabern in einem geschützten Rahmen zugeführt werden können. Zudem muss die Krisenbeziehungsweise Kriegslage des Heimatlandes eine freiwillige Ausreise zulassen. 7. Wie verfährt das Amt für Familie mit unbegleiteten minderjährigen Ausländern , deren Identität geklärt ist, die aus sicheren Herkunftsländern stammen und in Deutschland keine Bleibeperspektive haben? Die Amtsvormünder der zuständigen Behörde betrachten den jeweiligen Einzelfall und entscheiden im Sinne des Kindeswohls über die Möglichkeit einer Asylantragstellung. Dafür einen Asylantrag zustellen spricht, dass die Rücküberstellung nach der Dublin– VO ausgeschlossen wird und eine Familienzusammenführung in einem anderen Dublin –Staat möglich ist. Des Weiteren ist der Aufenthalt während des Asylverfahrens gesichert. Bei Jugendlichen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern kann es im Interesse der Jugendlichen liegen, stattdessen ein Bleiberecht auf Grundlage guter Integrationsprognose gemäß § 25a und § 25b AufenthG anzustreben. Dies hat zum Beispiel bei Jugendlichen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern den Vorteil, dass sich – anders als bei einem abgelehnten Asylantrag – kein Beschäftigungsverbot gemäß § 60a Absatz 6 AufenthG ergeben kann. Wird das Asylgesuch eines unbegleiteten Minderjährigen vor Eintritt der Volljährigkeit abgelehnt, so vermittelt § 58 Absatz 1a AufenthG einem unbegleiteten Minderjährigen, der im Zielstaat der Abschiebung weder einem Personensorgeberechtigten noch einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben werden kann, einen Schutz vor Abschiebung in prekäre Verhältnisse. Im Übrigen siehe Vorbemerkung und Antwort zu 2. Drucksache 21/9403 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 8. Wie lange dauert es bei einem bekannten unbegleiteten minderjährigen Ausländer ohne Bleibeperspektive, bis es zur Einleitung eines Asylverfahrens kommt? Das Asylverfahren wird innerhalb von zwei Wochen nach Übertragung der Vormundschaft eingeleitet, sofern der Jugendliche asylrelevante Kriterien vorbringen kann. Im Übrigen siehe Antwort zu 2. 9. Bei wie vielen unbegleiteten minderjährigen Ausländern wurde seit dem 1. Januar 2016 ein Asylantrag gestellt? Bitte aufschlüsseln: a) Anzahl der Asylanträge für unbegleitete minderjährige Ausländer mit Bleibeperspektive b) Anzahl der Asylanträge für unbegleitete minderjährige Ausländer ohne Bleibeperspektive Seit dem 1. Januar 2016 wurde für insgesamt 709 unbegleitete minderjährige Ausländer ein Asylantrag gestellt. Von diesen 709 Jugendlichen hatten 635 eine Bleibeperspektive , 74 Jugendliche hatten keine Bleibeperspektive. Im Übrigen siehe Antwort zu 2. 10. Werden Asylanträge für unbegleitete minderjährige Ausländer ohne Bleibeperspektive von den zuständigen Amtsvormündern vorrangig gestellt, um Asylmissbrauch zu verhindern? Falls nein, warum nicht? Siehe hierzu Antwort zu 7. Entscheidend für die Stellung eines Asylantrags ist allein das Kindeswohl (siehe auch OLG Köln, Beschluss vom 15.12.1998, Aktenzeichen: 4 UF 257/98). Darüber hinaus siehe Vorbemerkung. Unabhängig davon kann die Ausländerbehörde auch ohne eine Asylentscheidung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufenthaltsbeendende Maßnahmen nach Erreichen der Volljährigkeit einleiten. 11. Kommt es vor beziehungsweise ist es in der Vergangenheit vorgekommen , dass Amtsvormünder Aufforderungen der Ausländerbehörde hinsichtlich der unverzüglichen Asylantragstellung für unbegleitete minderjährige Ausländer missachten? Falls ja, weshalb? Siehe Antwort zu 7.