BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/9544 21. Wahlperiode 30.06.17 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Christiane Schneider und Sabine Boeddinghaus (DIE LINKE) vom 22.06.17 und Antwort des Senats Betr.: Praxis der Versammlungsfreiheit in Hamburg (II) Am Samstag, den 17. Juni 2017, führten die Bürgerschaftsfraktion DIE LIN- KE und die Bezirksfraktion DIE LINKE einen politischen Stadtrundgang in Harburg durch. Das Thema des Stadtteilrundgangs war „Was geht Harburg G20 an?“ und führte von der Harburger Innenstadt über die bereits eingerichtete Gefangenensammelstelle (GeSa) an der Schlachthofstraße zu Rüstungsbetrieben im Harburger Binnenhafen. Als die rund 30 Teilnehmer/-innen vor dem Tor der GeSa eintrafen und den Ausführungen der Bürgerschaftsabgeordneten Christiane Schneider zuhörten , kam die Polizei dazu und stufte den Rundgang als – unangemeldete – Versammlung ein, da es sich bei der GeSa um ein „Reizobjekt“ handele. Der weitere Stadtteilrundgang fand unter polizeilicher Begleitung statt. Bürger/-innen aus dem Bezirk berichten zudem im Zusammenhang mit der GeSa von Überprüfungen der Personalien und Fotoverboten im öffentlichen Raum. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: 1. In wie vielen Fällen wurden Stadtrundgänge in Hamburg als Versammlung angemeldet? Wie lautete der Tenor der Versammlungen? Bitte alle seit dem 01.01.2012 bei der Versammlungsbehörde angemeldeten Stadtrundgänge auflisten. Bitte aufgliedern nach politischen Parteien, privaten Personen und Tourismusunternehmen. Die Auflistung soll nach Stadtteilen getrennt erfolgen. Die erfragten Daten werden von der Polizei statistisch nicht erfasst. Eine Durchsicht, Auswertung und Aufbereitung mehrerer Tausend Vorgänge ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 2. Nach welchen Kriterien stuft die Versammlungsbehörde eine Ansammlung von Menschen als Versammlung ein? Bitte genau ausführen, unter welchen Voraussetzungen eine Versammlung vorliegt und ab wie vielen Teilnehmern/-innen dies der Fall ist. Maßgeblich für die Frage, ob eine Versammlung vorliegt, ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Danach ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vergleiche BVerfG, Beschluss vom 10.12.2010 – 1 BvR 1402/06). Die gemeinsame Zweckverfolgung unterscheidet die Versammlung von der bloßen Ansammlung: Die Versammlungsfreiheit schützt Versammlungen und Aufzüge – im Unterschied zu bloßen Ansammlungen Drucksache 21/9544 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 oder Volksbelustigungen – als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung (vergleiche BVerfG, a.a.O.). Wie viele Teilnehmer für eine Versammlung notwendig sind, ist durch die Rechtsprechung nicht entschieden und in der Literatur umstritten; nach herrschender Meinung sind dies mindestens zwei oder drei Personen. 3. Wurde die Umgebung der GeSa als „gefährlicher Ort“ eingestuft? Wenn ja: a. Welchen Bereich genau umfasst dieser? b. Bei wie vielen Personen wurden seit der Einrichtung Identitätsfeststellungen , Durchsuchungen und weitere Maßnahmen durchgeführt ? Bitte genau nach Datum sowie Art und Anzahl der Maßnahmen auflisten. Nein. 4. Falls es sich nicht um einen „gefährlichen Ort“ handelt, welche Rechtsgrundlagen wurden für Identitätsfeststellungen, Durchsuchungen und weitere polizeiliche Maßnahmen angewendet? Bitte Anzahl der betroffenen Personen, Art und Anzahl der Maßnahmen sowie das Datum seit Beginn der Errichtung der GeSa auflisten. 5. Auf welcher rechtlichen Grundlage und wie oft wurde gegen Bürger/ -innen das Verbot ausgesprochen, von öffentlichem Grund aus Bildaufnahmen von der GeSa zu machen? Abhängig von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ergeben sich die Rechtsgrundlagen aus den einschlägigen Bestimmungen der Strafprozessordnung, dem Gesetz über die Datenverarbeitung bei der Polizei und dem Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Im Übrigen werden die erfragten Daten von der Polizei statistisch nicht erfasst. Für die Beantwortung wäre eine manuelle Durchsicht aller Vorgänge des erfragten Zeitraumes bei der Polizei erforderlich. Eine Durchsicht, Auswertung und Aufbereitung mehrerer Tausend Vorgänge ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 6. Was genau ist unter einem „Reizobjekt“ zu verstehen und wer entscheidet darüber, was ein „Reizobjekt“ ist? 7. Wie oft wurde seit dem 01.01.2012 entschieden, dass aufgrund eines „Reizobjekts“ eine Versammlung vorliegt? Bitte genau ausführen, wann, vor welchen „Reizobjekten“ und aus welchen Anlässen. 8. Der Begriff „Reizobjekt“ kommt im Versammlungsgesetz nicht vor. In der Rechtsprechung ist er im Zusammenhang mit Auflagen für Versammlungen oder Versammlungsverboten zu finden. Auf welchen rechtlichen Grundlagen beruht die Verwendung dieses Begriffes als Kriterium für die Entscheidung, ob es sich um eine Versammlung handelt? Bei einem sogenannten Reizobjekt handelt sich um keinen Rechtsbegriff im versammlungsrechtlichen Sinne, sondern um eine polizeifachliche Sprachregelung. Diese wird in polizeilichen Lageberichten verwendet, um besondere Objekte oder Einrichtungen zu bestimmen, bezüglich derer im Einzelfall versammlungsrechtliche Maßnahmen zu treffen sind. „Reizobjekte“ umfassen etwa Einrichtungen, deren Funktionsfähigkeit bei der Durchführung einer Versammlung im unmittelbaren Umfeld der Einrichtung – beispielsweise durch die Nutzung der An- und Abfahrtswege – eingeschränkt beziehungsweise verhindert würde. Weiterhin kann es sich um Objekte handeln, auf die nach Bewertung der Polizei Angriffe zum Beispiel in Form von Sachbeschädigungen nicht auszuschließen sind. Die Existenz eines „Reizobjektes“ ist für das Vorliegen einer Versammlung nicht maßgeblich. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/9544 3 9. Müssen Touristen- und Besucher-/-innengruppen vor dem „Reizobjekt“ Elbphilharmonie oder anderen Orten, die als „Reizobjekt“ eingestuft werden könnten, zukünftig eine Versammlung anmelden? Touristen- und Besuchergruppen, die nicht örtlich zusammenkommen zur gemeinschaftlichen , auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung unterfallen nicht dem Versammlungsgesetz. Eine Anmeldungspflicht gemäß § 14 Absatz 1 Versammlungsgesetz gilt für alle öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel: Wer die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug zu veranstalten, hat dies spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstandes der Versammlung oder des Aufzuges anzumelden. 10. Wie viele Verstöße gegen das Versammlungsgesetz gab es seit dem 01.01.2012 in Hamburg? (Bitte aufschlüsseln nach Motto der Versammlung , Termin und Art der Verstöße). Die erfragten Daten werden von der Polizei statistisch nicht erfasst. Eine Durchsicht, Auswertung und Aufbereitung von über tausend Vorgängen ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich . 11. In wie vielen Fällen wurden seit dem 01.01.2012 gegen Anmelder/-innen und/oder Versammlungsleiter/-innen von Versammlungen in Hamburg strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet? a. Wegen welcher Verstöße? Bitte genau auflisten. b. In wie vielen Fällen davon kam es zur Einstellung des Verfahrens? Im Vorgangsverwaltungs- und -bearbeitungssystem MESTA der Staatsanwaltschaft Hamburg wird nicht erfasst, ob ein Beschuldigter Anmelder oder Versammlungsleiter einer Versammlung war. Eine Beantwortung der Frage würde daher die händische Auswertung des kompletten jeweiligen Aktenzeichenjahrgangs erfordern. Für jeden Aktenzeichenjahrgang wären damit circa 160.000 Akten auszuwerten. Dies ist in der zur Bearbeitung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 12. In wie vielen Fällen stellte die Versammlungsbehörde seit dem 01.01.2012 unangemeldete Versammlungen fest? Bitte genau angeben, wann und welche Versammlungen. Siehe Antwort zu 10. 13. Nach welchen Kriterien stuft die Versammlungsbehörde in einem solchen Zusammenhang eine Person als Veranstalter einer Versammlung ein? Einstufungen im Sinne der Fragestellung nimmt die Versammlungsbehörde nicht vor. Veranstalter ist, wer im eigenen Namen Einladungen ausspricht beziehungsweise öffentlich auffordert, auf andere Weise Verantwortlichkeit erkennen lässt oder wer die Veranstaltung organisatorisch vorbereitet (vergleiche Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. Auflage, Rn. J 204). 14. In wie vielen Fällen wurde gegen Personen, deren Personalien im Zusammenhang mit einer unangemeldeten Versammlung festgestellt wurden, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren nach § 26 Versammlungs G eingeleitet? Wie oft wurde das Verfahren eingestellt? Zu welchen Verurteilungen kam es im Falle der Nichteinstellung? Bitte genau aufführen . Drucksache 21/9544 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 In MESTA sind für die Aktenzeichenjahrgänge 2012 bis 2017 bezüglich Verfahren mit einem Vorwurf gemäß § 26 VersammlungsG folgende Verfahren und Erledigungen gespeichert (Stand: 23. Juni 2017)1: Az.- Jahrgang Anzahl Verfahren Anzahl Beschuldigte Einstellungen Verurteilungen 2012 30 58 52 keine 2013 45 67 62 keine 2014 48 68 59 keine 2015 38 46 40 zwei Geldstrafen : 35 Tagessät - ze zu je 10 € 20 Tagessät - ze zu je 30 € 1 Die Angaben stehen unter dem Vorbehalt der richtigen Erfassung in MESTA. Die Angabe einer Einstellung oder Verurteilung bezieht sich auf den einzelnen Beschuldigten, da bei mehreren Beschuldigten unterschiedliche Erledigungen erfolgen können. Neben Einstellung (zumeist gemäß §§ 153 Absatz 1 und 170 Absatz 2 StPO) und Verurteilung sind insbesondere Verfahrensverbindungen und Abgaben als Erledigungen gegeben; in zwei Fällen lagen auch Freisprüche vor. Einige Verfahren sind zudem noch offen. Es kann anhand der MESTA-Abfrage nicht sicher festgestellt werden, ob die spätere Verurteilung in den abgefragten Verfahren wirklich wegen des Vorwurfs gemäß § 26 Versammlungsgesetz erfolgte (oder wegen einer anderen angeklagten Tat). Entsprechendes gilt auch im Falle eines Freispruchs.