BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/9986 21. Wahlperiode 08.08.17 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Dennis Gladiator (CDU) vom 31.07.17 und Antwort des Senats Betr.: Messerstecher von Barmbek – Was ist über den Attentäter bekannt? Am 28. Juli 2017 stach ein offensichtlich psychisch labiler 26-jähriger Islamist mit einem 20 cm langen Küchenmesser in und vor einem Supermarkt an der Fuhlsbüttler Straße in Barmbek wahllos auf mehrere Besucher und Passanten ein; eine Person starb, fünf weitere Personen wurden teils erheblich verletzt . Gegen den mutmaßlichen Attentäter wurde Haftbefehl wegen des Verdachts auf vollendeten Mord sowie mehrfachen versuchten Mord erlassen. Der Attentäter soll im März 2015 über Norwegen nach Deutschland eingereist sein. Bei seiner Einreise habe er keinen Ausweis, aber eine Geburtsurkunde dabei gehabt. Seit sein Asylantrag Ende 2016 ablehnt wurde, ist er ausreisepflichtig. Aufgrund fehlender Dokumente habe man ihn bislang jedoch nicht abschieben können. Das Landesamt für Verfassungsschutz und die Polizei räumten ein, dass sie bereits im Frühjahr 2016 von einem Freund des Attentäters, der in einer Flüchtlingsunterkunft am Kiwittsmoor lebte, auf dessen Radikalisierung hingewiesen worden seien. Wenn es jedoch Hinweise auf eine psychische Instabilität und eine Radikalisierung gab, stellt sich die Frage, warum nicht alle entsprechenden Maßnahmen, wie die Fallkonferenz unter Beteiligung entsprechender Experten, ausgeschöpft wurden. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: 1. Wie stellt sich der Sachverhalt nach derzeitiger Erkenntnislage der zuständigen Behörden im Einzelnen dar? Gibt es zwischenzeitlich nähere Informationen über die Hintergründe der Tat? Falls ja, welche? Der Sachverhalt ist Gegenstand eines laufenden Ermittlungsverfahrens, welches beim Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA) geführt wird. Zum Stand der Ermittlungen wird auf die Pressemitteilung des GBA vom 31. Juli 2017 verwiesen: https://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?newsid=722. 2. Wann ist der 26-jährige Tatverdächtige nach Deutschland eingereist und wie gestaltete sich das aufenthaltsrechtliche Verfahren im Einzelnen? Bitte unter Angabe konkreter Daten darstellen. Der Betroffene reiste am 23. März 2015 nach Deutschland ein und wurde anschließend im asylrechtlichen Verteilungsverfahren von Dortmund nach Hamburg verteilt. In Hamburg stellte er am 11. Mai 2015 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und erhielt gemäß §§ 55, 63 Asylgesetz (AsylG) eine Aufenthaltsgestattung , die im Folgenden bis zum 7. Februar 2017 verlängert wurde. Am 23. Drucksache 21/9986 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 November 2016 lehnte das BAMF seinen als Zweitantrag gemäß § 71 AsylG gewerteten Antrag als unzulässig ab und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegen. Gleichzeitig drohte es die Abschiebung in die palästinensischen Autonomiegebiete nach Ablauf der Ausreisefrist von einer Woche an. Der Bescheid wurde am 3. Dezember 2016 bestandskräftig. Die Mitteilung darüber ging am 2. Januar 2017 bei der Ausländerbehörde ein. Bei der folgenden Vorsprache am 9. Februar 2017 wurde dem Betroffenen eine Duldung ausgestellt, da eine Ausreise wegen fehlender Passpapiere nicht unmittelbar vollzogen werden konnte. Die Duldung wurde zuletzt bis zum 4. August 2017 verlängert. 3. Steht seine Identität eindeutig fest? Falls nein, welche Maßnahmen wurden jeweils wann von welcher Stelle zur Feststellung der Identität ergriffen und warum waren diese bislang erfolglos? 4. Wann wurden jeweils welche Maßnahmen von welcher Stelle zur Beschaffung der Heimreisedokumente ergriffen und warum waren diese bislang erfolglos? Der Betroffene hat im Asylverfahren eine Geburtsurkunde, einen UNRWA1-Registerauszug sowie eine Kopie eines palästinensischen Ausweises vorgelegt. Er sprach nach Aufforderung durch die zuständige Ausländerbehörde am 9. und 30. März 2017 bei der palästinensischen Mission in Berlin zur Beantragung von Passersatzpapieren vor. Nach Aussage der palästinensischen Mission werde die Identität nicht angezweifelt . Derzeit laufe die Überprüfung der eingereichten Dokumente auf Echtheit im Heimatland . Dieses Verfahren werde mindestens drei Monate dauern. Die zuständige Ausländerbehörde hat auf diese Verfahrensabläufe keine Einflussmöglichkeit. 5. Der Erste Bürgermeister erklärte am Wochenende: „Offensichtlich handelte es sich um einen Ausländer, der ausreisepflichtig war, aber nicht abgeschoben werden konnte, weil er keine Papiere hatte. Das zeigt umso dringlicher, dass diese rechtlichen und praktischen Hindernisse bei der Abschiebung beiseite geräumt werden müssen.“ Welche Maßnahmen sollen ergriffen werden, um die rechtlichen und praktischen Hindernisse im Falle von Abschiebungen beim Fehlen von Dokumenten künftig zu überwinden? Die praktischen Hindernisse bei der Abschiebung ausreisepflichtiger Personen ohne Papiere ließen sich nur dadurch überwinden, dass die Heimatstaaten entsprechende Dokumente ausstellen oder aber die Abschiebung auch ohne Dokumente oder mit deutschen Dokumenten zulassen. Ein Instrument wäre insoweit, entsprechende Rückübernahmeabkommen mit den jeweiligen Herkunftsstaaten zu schließen. Die Zuständigkeit dafür liegt bei der Bundesregierung. 6. Ist der 26-jährige Tatverdächtige seit seiner Einreise nach Deutschland strafrechtlich in Erscheinung getreten? Falls ja, wegen welcher Delikte und wurde er auch gegebenenfalls wann zu welchen Strafen verurteilt? Im Vorgangsverwaltungs- und -bearbeitungssystem MESTA der Staatsanwaltschaft Hamburg ist vor der aktuellen Tat ein weiterer Vorgang verzeichnet. Diese Angaben stehen unter dem Vorbehalt der vollständigen und richtigen Erfassung in MESTA. In dem Verfahren wegen des Vorwurfs des Diebstahls geringwertiger Sachen wurde am 11. Mai 2017 wegen Geringfügigkeit gemäß § 153 der Strafprozessordnung (StPO) von der Verfolgung abgesehen. Ausweislich des aktuellen Bundeszentralregisterauszugs ist der Tatverdächtige im Bundesgebiet unbestraft. 7. Welche polizeilichen Erkenntnisse lagen über ihn vor? 1 United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten). Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/9986 3 8. Ist es richtig, dass es Hinweise eines Freundes des Tatverdächtigen zu dessen Radikalisierung gab? Falls ja, wann gingen welche Hinweise bei welchen Stellen zur Radikalisierung des mutmaßlichen Attentäters ein? Was wurde daraufhin von jeweils welcher Stelle wann veranlasst? Über den in der Antwort zu 6. dargestellten Vorgang hinaus liegen der Polizei drei Hinweise aus dem Jahr 2016 zu radikalen Äußerungen, religiöser Auffälligkeit und verbaler Aggressivität des Tatverdächtigen vor. Die Hinweise gingen in unterschiedlichen Polizeidienststellen ein und wurden an die Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes (LKA 7) weitergeleitet. Zudem hatte die Polizei Hamburg Kontakt mit der Wohneinrichtung f & w fördern und wohnen AöR im Kiwittsmoor, im Zuge dessen wurde auch über den Beschuldigten gesprochen. Einer der Hinweise kam von einer Person aus dessen persönlichem Umfeld. Inwieweit sich hieraus eine islamistische Radikalisierung ablesen lässt, ist Gegenstand des aktuell laufenden Ermittlungsverfahrens der Generalbundesanwaltschaft. Im Übrigen sind die genannten Fragen Gegenstand verwaltungsinterner Aufbereitungen, die noch nicht abgeschlossen sind. Am 29. August 2016 übersandte das Landeskriminalamt (LKA) Hamburg dem Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Hamburg einen Vorgang vom 1. April 2016, in dem ein Hinweisgeber die Polizei auf eine mögliche Radikalisierung eines Mannes aufmerksam machte. Die in diesem Schreiben genannten Personalien wurden – mit negativem Ergebnis – mit dem Datenbestand des LfV Hamburg abgeglichen. Aufgrund bestehender Zweifel an der Richtigkeit der Personalien wurden weitere identifizierende Schritte eingeleitet und eine Befragung des Hinweisgebers veranlasst, um nähere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Die Befragung fand am 15. September 2016 statt. Diese Recherchen – zusammen mit der Befragung des Hinweisgebers – führten zu einer zweifelsfreien Identifizierung des jetzt Tatverdächtigen. Auch zu diesen tatsächlichen Personalien lagen beim LfV Hamburg keine vorherigen Erkenntnisse vor. Sowohl eine Internetrecherche als auch eine Befragung der Vertrauenspersonen des LfV Hamburg in der islamistisch-salafistischen Szene verliefen ohne Ergebnis . Nach dem bestehenden Regelwerk wurde der Tatverdächtige als „Verdachtsfall Islamist“ in das Computersystem des Verfassungsschutzverbundes (Nachrichtendienstliches Informationssystem, NADIS) gespeichert. Aus der Befragung des Hinweisgebers ergaben sich allerdings Anhaltspunkte für den Verdacht, dass der Tatverdächtige möglicherweise an einer Reise nach Syrien interessiert sein könnte. Daher schrieb das LfV Hamburg den Tatverdächtigen am 21. September 2016 zur Grenzfahndung aus. Das LKA wurde am 26. September 2016 über den tatsächlichen Namen des Tatverdächtigen unterrichtet. Am 27. September 2016 unterrichtete das LfV Hamburg das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Auch dort lagen zu dem Tatverdächtigen keine Informationen vor. Am 3. November 2016 fand eine direkte Befragung des Tatverdächtigen durch das LfV Hamburg statt. Aus dieser Befragung ergaben sich weder Hinweise auf eine Einbindung in das salafistische Netzwerk noch eine Affinität zur entsprechenden Ideologie. Allerdings waren die Verhaltensweisen des Tatverdächtigen dergestalt, dass sie als eine psychische Auffälligkeit gewertet werden konnten. Am 6. Dezember 2016 erhielt das LfV Hamburg vom Einwohner-Zentralamt einen Hinweis, dass der Tatverdächtige dort unangemeldet erschienen sei, um mitzuteilen, dass er Deutschland freiwillig in Richtung seiner Heimat in Gaza verlassen wolle. Er sei in eine Jalaba gekleidet gewesen und habe einen sehr aufgedrehten und unruhigen Eindruck gemacht. Das LfV Hamburg nahm dies zum Anlass, den Hinweisgeber per SMS zu kontaktieren. Dieser teilte mit, zuletzt vor vier Wochen Kontakt zum Tatverdächtigen gehabt zu haben. Diesem sei es nach seinem Eindruck schlecht gegangen . Er habe mit dem Tatverdächtigen Alkohol und Cannabis konsumiert. Ein erneuter Kontakt des LfV Hamburg mit dem Hinweisgeber am 15. Dezember 2016 erbrachte keine neuen Erkenntnisse. Am 10. Januar 2017 übermittelte das LfV Hamburg dem LKA ein Schreiben mit den vorgenannten Informationen einschließlich der der Polizei bereits im eigenen Zustän- Drucksache 21/9986 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 digkeitsbereich bekannt gewordenen Erkenntnisse vom 18. November und 1. Dezember 2016. Es wurde auf eine mögliche psychische Störung hingewiesen und empfohlen , den sozialpsychiatrischen Dienst des zuständigen Bezirksamtes einzuschalten. 9. Wurde eine Fallkonferenz angeregt? a. Falls ja, von wem und weshalb hat diese nicht stattgefunden? b. Falls nein, weshalb nicht? c. Wer ist für die Entscheidung über die Durchführung von Fallkonferenzen zuständig und wie sieht das Verfahren in solchen Fällen aus? Als Fallkonferenz im Sinne der Fragestellungen wird von der Polizei eine behördenübergreifende Besprechung zum Informationsaustausch und zur Abstimmung sowohl behördeninterner als auch behördenübergreifender Maßnahmen verstanden. Teilnehmer können hierbei – am Einzelfall orientiert – neben der Polizei auch Vertreter anderer Behörden oder Institutionen sein. Die Anregung zur Durchführung einer Fallkonferenz obliegt grundsätzlich allen Beteiligten. Das Verfahren wird jeweils individuell abgestimmt. Ende 2016 meldete sich die zuständige Sachbearbeiterin von f & w bei der Polizei und bat in Abstimmung mit Legato um die Durchführung einer Fallkonferenz zu dem Tatverdächtigen . Am 26. Januar 2017 fand eine Kontaktaufnahme durch Legato zur Polizei statt, in der um polizeiliche Unterstützung gebeten wurde. Eine Fallkonferenz fand in der Folge jedoch nicht statt. Die Gründe dafür sind Gegenstand der laufenden verwaltungsinternen Aufarbeitung, die noch nicht abgeschlossen ist. 10. Welche Erkenntnisse liegen den zuständigen Behörden über etwaige Kontakte des mutmaßlichen Attentäters in die salafistische Szene vor? Die Frage berührt Teile des laufenden Ermittlungsverfahrens der Generalbundesanwaltschaft , zu dem derzeit keine Auskünfte durch die Polizei erteilt werden dürfen. 11. Wie viele der rund 800 Personen, die beim Verfassungsschutz in Hamburg als Islamisten gespeichert sind, sind ausreisepflichtig? Wie viele von diesen können aktuell mangels Dokumenten nicht abgeschoben werden? Wie werden diese von welchen Stellen nun überprüft und gegebenenfalls überwacht? Beim LfV Hamburg werden rund 780 Personen der salafistischen Szene zugerechnet und gemäß Hamburgischem Verfassungsschutzgesetz bearbeitet. Angaben zu einer Ausreisepflicht gemäß § 50 AufenthG bei den rund 780 Personen, zu denen auch Deutsche und Ausländer mit gesichertem Aufenthaltsstatus zählen, liegen nicht in statistisch auswertbarer Form vor. Eine dazu erforderliche Einzelfallauswertung ist in der für eine Schriftliche Kleine Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Die Möglichkeiten zur Herstellung und Durchsetzung der Ausreisepflicht werden aber in allen geeigneten Fällen geprüft. 12. Wie viele von diesen 800 Personen gelten als Gefährder? Wie viele von diesen können aktuell mangels Dokumenten nicht abgeschoben werden ? Wie werden diese von welchen Stellen nun überprüft und gegebenenfalls überwacht? Die Polizei hat aktuell (Stand 1. August 2017) elf Personen als Gefährder eingestuft, von denen zwei Ausländer sind. Diese können derzeit nicht gemäß § 58 AufenthG abgeschoben werden, weil sie nicht ausreisepflichtig sind und sich in Untersuchungshaft befinden (siehe auch § 72 Absatz 4 AufenthG).