Kleine Anfrage der Abg. Cárdenas (Die LINKE) vom 09.06.2015 betreffend Sexualkundeunterricht an Grundschulen und Antwort des Kultusministers Die Kleine Anfrage beantworte ich wie folgt: Frage 1. Wie werden Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer während des Studiums auf das Lehren von Sexualkunde vorbereitet? "Sexualkunde" ist kein eigenes Unterrichtsfach. Eine spezifische Ausbildung der Studierenden in der ersten Phase der Lehramtsausbildung (Studium) erfolgt deshalb nicht. Vielmehr sind die Inhalte der Sexualkunde in das Unterrichtsfach Sachkunde integriert. Diese finden sich in verschiedenen Lernfeldern des Sachkundeunterrichts wieder. Größere Schnittmengen bestehen zu Lernfeldern des Sachkundeunterrichts, die dem Fach Biologie nahestehen. So finden sich bspw. in den Modulen der Goethe-Universität in Frankfurt/Main "Biologie im Sachunterricht" und "Biologiedidaktik" Bezüge zur Sexualerziehung. Diese wird aber explizit als fächerübergreifendes Themenfeld bezeichnet. Die erste Phase der Lehramtsausbildung (Studium) befasst sich ebenfalls in FachdidaktikModulen mit der Umsetzung der Curricula bspw. auch im Sachkundeunterricht. Frage 2. Stellt das HKM Lehrmaterialien für Sexualkunde zur Verfügung? Das HKM hat eine "Handreichung zur Sexualerziehung an Schulen in Hessen" herausgegeben. Hierin finden sich fundierte Informationen für eine zeitgemäße Sexualerziehung (Anlage). Frage 3. In welcher Jahrgangsstufe wird Sexualkunde in welchem Umfang unterrichtet? Sexualerziehung in der Schule ist nicht gleichzusetzen mit Sexualkunde, auch wenn diese ein unverzichtbarer Bestandteil von Sexualerziehung ist. Sexualkunde beschränkt sich auf Fakten zum Thema Sexualität und zwar in der Regel auf biologische Fakten. Sexualerziehung vermittelt Orientierungshilfen für den Umgang mit der eigenen Sexualität, mit der Sexualität anderer, mit veröffentlichter Sexualität und mit historisch und kulturell bedingten Erscheinungsformen. Die Sexualerziehung der Schülerinnen und Schüler wird von Jahrgang 1 an sukzessive altersentsprechend durchgeführt. Die "Handreichung zur Sexualerziehung an Schulen in Hessen" gibt einen Rahmen für die Auswahl der Themen. In Hessen ist jedoch keine zeitliche Einteilung nach Jahrgängen oder der Umfang des Unterrichts festgelegt. Dies kann an jeder Schule für die jeweilige Schülerschaft individuell angepasst werden. Frage 4. Wann und wie häufig werden diese aktualisiert? Unterrichtsmaterialien werden regelmäßig nach Bedarf aktualisiert. Frage 5. Wie beurteilt das HKM den Unterricht von Sexualkunde anhand von Lehrmaterial aus den 1970er-Jahren entsprechend dem damaligen medizinischen Wissensstand? Während eine Verwendung von Materialien, die den medizinischen Wissensstand der 1970erJahre widergeben, grundsätzlich denkbar wäre, etwa in der Grundschule, ist dies weniger der Fall bei Materialien, die das Thema gesellschaftlich einordnen. Eingegangen am 10. August 2015 · Ausgegeben am 14. August 2015 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/2134 10. 08. 2015 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/2134 Frage 6. Welche Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für Grundschulkräfte finden in diesem Bereich statt? Es bestehen derzeit folgende Fortbildungsangebote: Fortbildungsangebote zum Thema "Sexualkundeunterricht bzw. Sexualerziehung an Grundschulen ": Das Fortbildungsangebot für hessische Lehrkräfte (externe und interne Anbieter) richtet sich grundsätzlich nach Angebot und Nachfrage der Schulen. Seit 01.01.2010 wurden den hessischen Lehrkräften zum spezifischen Themenbereich "Sexualkundeunterricht bzw. Sexualerziehung an Grundschulen" vier akkreditierte Veranstaltungen angeboten. In Hessen besteht seit 01.01.2010 ein kontinuierliches Fortbildungsangebot für Lehrkräfte aller Schulformen zu den Themenbereichen "Sexuelle Gewalt" sowie zum Themenbereich "Sexual *". - Fortbildungsangebote zum Themenfeld "Sexuelle Gewalt": Es bestanden über 100 akkreditierte Veranstaltungen für alle Schulformen (einschließlich Grundschulen). - Fortbildungsangebote zum gesamten Themenbereich "Sexual*": 196 Veranstaltungen für alle Schulformen (einschließlich Grundschulen) waren akkreditiert. Frage 7. In welcher Quantität werden diese Fort- und Weiterbildungen besucht? Auf die Antwort zu Frage 6 wird verwiesen. Wiesbaden, 29. Juli 2015 Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz Die komplette Drucksache inklusive Anlage kann im Landtagsinformationssystem abgerufen werden (www.Hessischer-Landtag.de). Hessisches Kultusministerium Amt für Lehrerbildung Handreichung zur Sexualerziehung an Schulen in Hessen Text: Prof. Dr. Karla Etschenberg bella Textfeld bella Textfeld Anlage petri Schreibmaschinentext petri Schreibmaschinentext Impressum Herausgeber Amt für Lehrerbildung Stuttgarter Str. 18 – 24 60329 Frankfurt am Main E-Mail: publikationen@afl .hessen.de Satz/Layout s.tietze@medien-frankfurt.com Druck Druckerei des Amts für Lehrerbildung, Fuldatal Aufl age 2.500 Stück 1. Aufl age 2010 ISBN 978-3-88327-579-6 Titel.indd 2Titel indd 2 09.08.10 07:4409 08 10 07:44 Handreichung zur Sexualerziehung an Schulen in Hessen Handreichung zur Sexualerziehung an Schulen in Hessen Text: Prof. Dr. Karla Etschenberg, Köln 2 InhaltsübersichtInhaltsübersicht 1 Einleitung ................................................................3 2 Argumente für Sexualerziehung in der Schule ..4 2.1 Vergleich mit dem Elternhaus ............................. 4 2.2 Vergleich mit den Medien ................................... 5 2.3 Schülerorientierung .............................................. 6 2.4 …und eigentlich fi ndet Sexualerziehung auf jeden Fall statt! ............................................... 6 2.5 Fazit ...................................................................... 6 3 Was ist Sexualität? ................................................. 7 3.1 Bedeutung und Funktionen ................................ 7 3.2 Typisch menschlich ............................................... 8 4 Sexualerziehung – Ziele und Wertorientierung ............................... 10 4.1 Sexualerziehung ist mehr als Sexualkunde ........................................................ 10 4.2 Schutz des ungeborenen Lebens ..................... 12 4.3 Ehe und Familie und die Pluralität der Lebensformen .............................................. 12 4.4 Sexualität und Liebe ........................................... 14 4.5 Toleranzgebot und Indoktrinationsverbot....... 14 5 Schulische Sexualerziehung außerhalb des Unterrichts .................................................... 16 6 Beteiligung der Eltern ........................................ 17 7 Zusammenarbeit mit außerschulischen Institutionen ......................... 18 8 Didaktische Fragen ............................................. 20 8.1 Methoden ............................................................ 20 8.2 Schülerbefragungen und Schülerfragen ......... 21 8.3 Medien und Sprache .......................................... 22 8.3.1 Medien ...................................................... 23 8.3.2 Internet ...................................................... 24 8.3.3 Sprache ..................................................... 24 8.3.4 Wortwahl ................................................... 25 8.4 Lern- und Leistungskontrollen .......................... 27 8.5 Differenzierungen ............................................... 27 8.5.1 Koedukativ oder getrenntgeschlechtlich? ......................... 27 8.5.2 Kultursensibel und integrativ ................. 28 9 Curriculum Sexualität ......................................... 29 9.1 Wann ist der richtige Zeitpunkt für welches Thema? .................................................. 29 9.2 Lehrplan Sexualerziehung und Lehrpläne anderer Fächer zum Thema ............ 30 9.3 Fächerübergreifendes Lernangebot zur Sexualerziehung ........................................... 32 9.3.1 Koordinierung von Fachbeiträgen zu einem Thema der Sexualerziehung ....... 32 9.3.2 Eigenständige Beiträge der Fächer ....... 33 9.3.3 Beispiel für die koordinierte fächerübergreifende Behandlung eines Themas: Körperpfl ege und Hygiene ..... 34 Quellennachweise ................................................... 37 Anhang .................................................................... 38 Ergebnisse einer Stichprobenbefragung des Staatlichen Schulamtes für den Main-Kinzig-Kreis zur Umsetzung des neuen Lehrplans Sexualerziehung vom 1. Oktober 2007 (ausgewählte Übersichten ) 3 1. Einleitung1. Einleitung Eine Handreichung zur Sexualerziehung an Schulen wird vielen Lehrerinnen und Lehrern in Hessen nicht unbedingt erforderlich erscheinen, weil sie seit Jahren erfolgreich und problemlos Beiträge zur Sexualerziehung ihrer Schülerinnen und Schüler leisten: - Legitimiert durch die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1968 zur Sexualerziehung an Schulen [1], durch § 7 des Hessischen Schulgesetzes in der aktuellen Fassung [2], - unterstützt durch zahlreiche Medienangebote (in Schulbüchern, Fachzeitschriften Materialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und durch Internetangebote unter lernarchiv.bildung .hessen.de) und - ggf. bestärkt durch persönliche Erfahrungen mit dem Unterrichtsthema bei mehreren Schülergruppen auf der Basis früherer Rahmenpläne und Richtlinien für die Sexualerziehung an allgemein bildenden und berufl ichen Schulen, für die Grundschule und für den Bildungsgang Gymnasium in Hessen [3] Somit erscheint ihnen Sexualerziehung inzwischen als ein selbstverständlicher Bestandteil ihrer Erziehungs - und Bildungsarbeit. Dennoch ist die Bereitstellung einer Handreichung sinnvoll: 1. Der neue Lehrplan Sexualerziehung von 2007 [4] macht die Zusage, dass eine Handreichung zur Verfügung gestellt wird. Sie soll allen Lehrern und Lehrerinnen, die eine solche Unterstützung nutzen wollen, die unterrichtliche Umsetzung erleichtern. Damit soll Sexualerziehung noch breitfl ächiger als bisher an Schulen angeboten werden. Da es sich bei der Sexualerziehung, die nach diesem Lehrplan gefordert ist, um eine „fächerübergreifende“ Aufgabe handelt und sich nicht – wie bisher – auf die Fächer Biologie und Religion/Ethik konzentrieren soll, werden sich jetzt auch Fachlehrer und Fachlehrerinnen, die sich früher nicht mit dem Thema befassen mussten, für dieses Thema interessieren . 2. Es fehlt – trotz verbindlicher Sexualerziehung seit 1968 an Schulen – die Verpfl ichtung und oftmals auch die Möglichkeit, sich in Aus- oder Fortbildung mit diesem Thema professionell zu befassen . So werden immer noch und immer wieder junge Lehrerinnen und Lehrer unvorbereitet mit der Situation konfrontiert, im Unterricht vor Kindern oder Jugendlichen fachlich einwandfrei, zielgerichtet und methodisch durchdacht über das Thema Sexualität reden und im Schulalltag pädagogisch angemessen auf sexuelle Äußerungen von Jungen und Mädchen reagieren zu müssen. Hier kann die Handreichung ermutigen und Anregungen bieten. 3. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von älteren Lehrerinnen und Lehrern, die gerne mehr zur Sexualerziehung beitragen würden, wenn sie zu einigen Fragen mehr Informationen hätten. Diese Handreichung ist kein Handbuch zur Sexualerziehung und auch keine Materialsammlung. Sie vertieft ausgewählte Aspekte des Lehrplans und bietet fachliche und pädagogisch-didaktische Anregungen für den Unterricht und für den Umgang mit Sexualität im Schulalltag an. 4 2. Argumente für die Sexualerziehung in der Schule 2.1 Vergleich mit dem Elternhaus Grundsätzlich ist Sexualerziehung vorrangig Aufgabe und Recht der Eltern bzw. der erwachsenen Menschen, die Verantwortung für Entwicklung und Erziehung eines Kindes in einer häuslichen Gemeinschaft übernommen haben. Sie leben dem Kind auf jeweils individuelle Art vor, wie man mit Sexualität umgehen kann und nehmen durch ihr Reden und Handeln Einfl uss auf sein Denken und Wollen. Diese Beeinfl ussung ist naturgemäß eindrucksvoll und wirkt nachhaltig. In der Pubertät beeinfl ussen auch die Gleichaltrigen das Sexualverhalten von Jungen und Mädchen stark. Viele Eltern nehmen ihre Aufgabe bezüglich Sexualerziehung verantwortungsbewusst und kompetent wahr. Befragungen von Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren und deren Eltern belegen, dass Eltern, vor allem Mütter, bei allen Jungen und Mädchen als „Vertrauenspersonen für sexuelle Fragen“ an erster Stelle stehen. Für die Wissensvermittlung zum Thema Sexualität stehen sie als „präferierte Personen“ ebenfalls an erster Stelle, spielen hier aber eine etwas weniger dominante Rolle. In zunehmendem Maße werden Kinder von den eigenen Eltern aufgeklärt . 75% der Mädchen-Eltern und 68% der JungenEltern halten den Aufklärungsstand ihrer Kinder für ausreichend [5]. Die Befragungsergebnisse und die Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen zeigen, dass sexuelle Aufklärung und Sexualerziehung nicht in allen Elternhäusern gleich gut geleistet wird. Manche Eltern sind mit dieser Aufgabe überfordert. Vor diesem Hintergrund lässt sich zur schulischen Sexualerziehung sagen: - Wenn die Wissensvermittlung einschl. des zugehörigen Wortschatzes zum Themenkomplex Sexualität , Körper, sexuelle Gesundheit usw. zu Hause unzureichend ist, führt dies zu Benachteiligungen betroffener Kinder bei der persönlichen Lebensgestaltung in diesem Bereich (z.B. beim Thema Empfängnisregelung oder Erhalt reproduktiver Gesundheit im Zusammenhang mit sexuell übertragbaren Krankheiten). Schulische Sexualkunde und -erziehung kann hier kompensierend wirken und zur Chancengleichheit beitragen. - Schule und Unterricht ermöglichen die Diskussion strittiger Themen (z.B. sexuelle Orientierungen, Enthaltsamkeit, Schwangerschaftsabbruch, Familienplanung , Sex in den Medien, medizinisch assistierte Empfängnis, Treue in der Partnerschaft, geschlechtstypisches Verhalten) in der Gleichaltrigen -Gruppe. Diese Auseinandersetzung kann im Unterricht mit der vom Lehrplan Sexualerziehung geforderten Offenheit und Toleranz unter gleichzeitiger Berücksichtung der geforderten Wertorientierungen gefördert und pädagogisch begleitet werden. Damit wird Einfl uss auf die Meinungsbildung in der Gleichaltrigen-Gruppe genommen. - Gemeinsame intime Erfahrungen, die eine sachliche Beschäftigung mit Sexualität grundsätzlich erschweren (z.B. beim Thema Nacktheit, Hygiene, sexuelle Gewalt, Pornografi e), spielen in der Schule (gewöhnlich) keine Rolle, während sie sich im Elternhaus durch das enge Zusammen leben oder sogar durch problematische Vorfälle mitunter hemmend auswirken und offene Gespräche blockieren können. Zu betonen ist: Sexualerziehung in der Schule soll Kinder und Jugendliche keineswegs „gleich schalten “ und den individuellen Einfl uss des Elternhauses einschränken. Sie soll durch öffentlich diskutierte und im Sinne eines gesellschaftlichen Minimalkonsenses abgestimmte Ziele und Inhalte zu einer gemeinsamen Basis in der nachwachsenden Generation beitragen , die gerade in Zeiten hohen Integrationsbedarfes wichtig ist, um u.a. weltanschaulich-kulturell begründeten Missverständnissen und Konfl ikten vorzubeugen . 2. Argumente für die Sexualerziehung in der Schule 5 2.2 Vergleich mit den Medien Die Medien sind „voll von Sex“, und spielen – neben der Familie – von klein auf in zunehmendem Maße eine prägende Rolle bei der Beeinfl ussung des Sexualverhaltens einschl. des Rollenverständnisses von Kindern und Jugendlichen. Werbung „sexualisiert“ viele Bereiche des Alltags (vom Eis am Stiel bis zum Autoreifen), Werbung für Telefonsex im Fernsehen erzeugt ein merkwürdiges Bild von Mann und Frau, Spielfi lmserien kreisen ständig um Sex und Beziehungen , Talk-Shows thematisieren Sex in allen Variationen und selbst öffentlich-rechtliche Sender kommen zumindest hin und wieder nicht ohne handfesten Sex aus. Mitunter sind dabei nicht die eigentlich sexuellen Inhalte, sondern der z.T. zynische ausbeuterische Umgang mit Menschen und der kontinuierliche Abbau von Schamgrenzen und Respekt das Problem. Durch den technischen Fortschritt (Computer , Internet, Handy) steht Kindern und Jugendlichen im Prinzip jede Information zum Thema Sexualität und eine unbegrenzte Bilderwelt mit sexuellen Inhalten zur Verfügung (einschl. Pornografi e). Printmedien (z.B. Jugendzeitschriften) waren und sind in diesem Kontext aus heutiger Sicht „harmlose Vorboten“. Der gesetzlich vorgesehene Kinder- und Jugendschutz – über die Gesetze zum Jugend(medien)schutz hinaus in Artikel 5 des Grundgesetzes verankert – funktioniert in den modernen Massenmedien nur ansatzweise und kann letztendlich den Zugang zu problematischen Angeboten nicht verhindern. Der Umgang bestimmter Medien mit dem Thema Sexualität ist vorrangig bestimmt von kommerziellen Interessen (vor allem Einschaltquoten, eigenen Verkaufszahlen , Werbewirksamkeit für zahlende Auftraggeber ) und ist in vielen Fällen kaum vereinbar mit Wertvorstellungen, die zu tun haben mit dem Recht auf Intimsphäre, mit Empathie, Partnerschaftlichkeit , Gleichberechtigung und Gewaltfreiheit, Rücksichtnahme auf Kinder, Gesundheitsbewusstsein , Sprachkultur u.a.m. Ob über das aktuelle kommerzielle Interesse hinaus von „Medienmachern“ langfristig und planmäßig Ziele bezüglich männlichen und weiblichen Verhaltens verfolgt werden, ist oft nicht zu durchschauen. Jedenfalls bezeichnet man die Medien zu Recht als „heimliche Miterzieher“, über deren Intentionen, Methoden und Wirkungen die Adressaten bzw. Konsumenten kaum noch einen Überblick haben. Medien, insbesondere das Internet, bieten eine Vielzahl an brauchbaren Informationen, die es Kindern und Jugendlichen erleichtern, sich zum Thema Sexualität „schlau“ zu machen. Nicht nur die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und Pro familia, sondern auch etliche Firmen und Organisationen , die sich im Gesundheitsbereich engagieren, bieten eigens für junge Adressaten gestaltete Internet -Seiten an. Dadurch ist aber nicht zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche bei einer Recherche zum Thema Sexualität mit Sicherheit auch auf Seiten stoßen, die nicht förderlich für sie sind und ihnen bei ihrer ursprünglichen Frage nicht weiterhelfen. Abgesehen davon, dass solche „Aufklärungsseiten“ versehentlich sachliche Fehler enthalten können oder ganz bewusst einseitige Akzente setzen, landet man nach Eingabe eines Suchwortes sowohl bei informativen Seiten als auch bei Sex-Shops, Foren und Kontaktbörsen oder auf pornografi schen Seiten. In so einer Situation ist das Kind oder der Jugendliche oft allein und hat keine Möglichkeit, über das Gesehene zu sprechen oder Fragen zu stellen. Ein geordneter Lernprozess wird dadurch nicht angestoßen. Von der Möglichkeit, ein Filterprogramm bei dem von einem Kind oder einem Jugendlichen genutzten InternetZugang einzusetzen, wird nur in wenigen Elternhäusern Gebrauch gemacht. Vor diesem Hintergrund bietet schulische Sexualerziehung eine wichtige Alternative. Einerseits besteht die Chance, Kindern und Jugendlichen Informationen und Orientierungshilfen zu geben, die nicht von wirtschaftlichen Interessen bestimmt sind, andererseits hat schulische Sexualkunde bzw. Unterricht zur Sexualerziehung die Möglichkeit, Lernangebote alters- bzw. entwicklungsadäquat, zielgerichtet und – und das vor allem – kommunikativ (nicht nur interaktiv ) zu gestalten. Das oft gehörte Argument gegen Sexualerziehung in der Schule „Kinder wissen doch eh alles aus den Medien “ ist also nicht stichhaltig, sondern sollte vielmehr dahingehend interpretiert werden, dass gerade durch die Allgegenwart von Sex in Öffentlichkeit und Medien mehr seriöse, pädagogisch begleitete Lernangebote zum Thema erforderlich sind. Dem Thema Sexualität und Medien wird im Lehrplan Sexualerziehung große Bedeutung beigemessen, damit „Kinder und Jugendliche bei der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit – vor allem auch in Ab- 6 grenzung zu in den Medien transportierten Idealen – unterstützt werden“. Bereits in den Klassen 5/6 soll thematisiert und refl ektiert werden: „Der Umgang der Medien mit dem Thema Sexualität und deren Folgen auf die eigene sexuelle Entwicklung“ und in den Klassen 7 bis 10: „Die Scheinwelt der Sexualität in den Medien, z.B. Pornografi e“. Mit Blick auf aktuelle Entwicklungen im Internet (Web 2.0), die den Kindern und Jugendlichen nicht nur den Medienkonsum ermöglichen, sondern auch das interaktive Nutzen und Mitgestalten, ist als weiterer Themenschwerpunkt zu ergänzen: „Kontaktaufnahme , Chatten und Flirten – Chancen und Gefahren im Internet“. Dieses Thema sollte Kinder vom Grundschulalter an begleiten. 2.3 Schülerorientierung Kinder und Jugendliche erwarten von der Schule, insbesondere in den Fächern Biologie und Religion/ Ethik die Thematisierung von menschlicher Sexualität und es kann sich sehr störend auswirken, wenn der Unterricht dem Thema ausweicht. Die „Sexualisierung “ der Umwelt und der Medien im Kontext mit bzw. im Widerspruch zu persönlichen Erfahrungen zu Hause wirft für viele Schüler und Schülerinnen Fragen auf, die sie ansprechen oder diskutieren wollen. Zudem verwirrt die Pubertät mit den zum Teil beunruhigenden Veränderungen bei sich und bei Freunden und Freundinnen. Stellt sich eine Lehrerin oder ein Lehrer diesen Fragen und erweist sich als vertrauenswürdiger und kompetenter Informant bzw. Gesprächspartner , kann dies das Lehrer-Schüler-Verhältnis günstig beeinfl ussen und den Umgang in der Schule miteinander erleichtern. 2.4 … und eigentlich fi ndet Sexualerziehung auf jeden Fall statt! Lehrerinnen und Lehrer sind – wie alle Menschen im konkreten oder medial vermittelten sozialen Umfeld von Kindern und Jugendlichen – auf jeden Fall an deren Sozialisation im allgemeinen und an der sexuellen Sozialisation im Besonderen beteiligt. Modellhaft wirken sie als Frau oder Mann und durch viele, z.T. unbewusste Aktivitäten in Unterricht und Schulalltag geben sie Impulse für die sexuelle Entwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler. Lehrerinnen und Lehrer reagieren – auch wenn sie glauben, sich gar nicht an Sexualerziehung zu beteiligen – auf Pornohefte in der Klasse oder auf sexuelle Übergriffe im Sportunterricht oder auf „blöde Bemerkungen“ über Schwule . Und: Nicht nur das Aufgreifen, sondern auch das Auslassen oder Umgehen des Themas „menschliche Sexualität“ im Fach Biologie oder Religion/Ethik hat Auswirkungen – es sind Beiträge zur „beiläufi gen“ sexuellen Sozialisation, über deren Wirkungen Lehrerinnen und Lehrer vielleicht gar nicht glücklich wären , wenn sie ihnen bewusst würden. Die Beschäftigung mit Sexualerziehung hilft Lehrerinnen und Lehrern, sich mit ihrer „beiläufi gen“ Einfl ussnahme, die auch als „geheimer Lehrplan“ bezeichnet wird, auseinander-zusetzen und diese zu professionalisieren. 2.5 Fazit Schulische Sexualerziehung ist ein Beitrag zur Chancengleichheit und ein Gegengewicht zu der unausweichlichen interessegeleiteten und mitunter problematischen Einfl ussnahme medialer „heimlicher Miterzieher“ auf das Sexualverhalten von Jungen und Mädchen. Außerdem trägt sie zur Schülerorientierung von Schule und Unterricht bei und veranlasst Lehrer und Lehrerinnen, sich mit ihrer Rolle im Prozess der sexuellen Sozialisation ihrer Schüler und Schülerinnen auseinanderzusetzen. Diese Argumente sollen Lehrerinnen und Lehrer ermutigen , sich auf Sexualerziehung in ihrem Unterricht einzulassen, auch wenn die pubertätsbedingte Entwicklungsheterogenität sowohl im biologischen wie auch im mentalen und psychosozialen Bereich unterrichtliche Aktivitäten zur Sexualerziehung oft zu einem Balanceakt werden lässt, der sehr viel Fingerspitzengefühl verlangt. Die hier formulierten Argumente für schulische Sexualerziehung können auch in der Auseinandersetzung mit skeptischen Eltern hilfreich sein (siehe auch Punkt 6). 7 3.1 Bedeutung und Funktionen Wenn man Einfl uss nehmen will auf die Sexualität von Kindern und Jugendlichen bzw. auf ihr Sexualverhalten , dann steht am Anfang die Frage: Was ist Sexualität und worauf kann oder muss man Einfl uss nehmen? Von der Antwort hängen Aussagen und Deutungen zu vielen Teilthemen im Unterricht ab. Außerdem interessieren sich auch Schüler und Schülerinnen für die Frage, was es mit dieser Sexualität auf sich hat, der sie im Alltag ständig begegnen und die sie spätestens ab der Pubertät persönlich so sehr beschäftigt. Es gibt viele Antworten auf die Frage “Was ist Sexualität ?“. Sie setzen zum Teil auf verschiedenen Ebenen an und hängen stark von der Sichtweise bzw. Wissenschaft ab, von der aus die Antwort hergeleitet wird (vor allem Biologie, Pädagogik oder Religion). Mitunter fallen die Antworten sehr mysteriös aus und helfen Kindern und Jugendlichen kaum weiter bei ihrer Suche nach einer „vernünftigen“ Erklärung für das, was sie bei sich und in ihrem Umfeld beobachten. Hier sei eine Antwort formuliert, die die Tatsache berücksichtigt , dass Sexualität kein „Privileg“ des Menschen ist, und die einen rationalen Zugang zu vielen sexuellen Sachverhalten erleichtert. Sexualität (= Geschlechtlichkeit) ermöglicht geschlechtliche (biparentale) Fortpfl anzung, bei der – bis auf wenige Ausnahmen in der Pfl anzen- und Tierwelt - zwei Individuen zur Entstehung eines neuen Lebewesens beitragen und dabei für eine Rekombination von Erbgut sorgen. Sexuelle Fortpfl anzung ist Grundlage lebendiger Vielfalt, von Evolution und Artenreichtum . Auch die Verbreitung des Menschen auf der ganzen Erde und das angepasste Leben und Überleben unter verschiedenen und wechselnden Umweltbedingungen wären ohne sexuelle Fortpfl anzung und genetischer Variabilität nicht denkbar. Anmerkung: Bei ungeschlechtlicher (vegetativer) Vermehrung ist das Erbgut der Nachkommenschaft identisch mit dem der einen Pfl anze oder dem des einen Tieres, von dem sie abstammt und bietet kaum Chancen des Überlebens für eine Teilpopulation, wenn sich durch Klima oder Parasiten die Umweltbedingungen ungünstig verändern. Sexuelle Fortpfl anzung ist aufwendiger als ungeschlechtliche Vermehrung und ihr Gelingen hängt – hier bezogen auf Säugetier und Mensch – von vielen anatomischen und physiologischen (vor allem hormonellen ) Bedingungen und von einem Verhalten der Beteiligten ab, das Verpaarung, Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Versorgung der Nachkommen gewährleistet. In der Tierwelt ist das durch ein angeborenes, meist periodisches Verhalten gesichert [6]. Beim Menschen ist diese Absicherung ungewiss. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das den Zusammenhang von Sexualität und Fortpfl anzung durchschaut und sich den Anstrengungen, die mit dem Kinderkriegen verbunden sind, entziehen kann (u.a. durch sexuelle Abstinenz oder Empfängnisverhütung ), selbst wenn man annehmen muss, dass es auch beim Menschen grundsätzlich – nicht in jedem Einzelfall – eine angeborene Bereitschaft und Tendenz gibt, eigene Kinder zu haben und sich fortzupfl anzen. Lustgefühle und die Erwartung sexueller Befriedigung motivieren jedenfalls Mann und Frau – ohne periodische z.B. jahreszeitliche Schwankungen - zu Handlungsweisen, die sexuelle Fortpfl anzung möglich machen. Dazu sind Kontaktaufnahme, Kommunikation , Verständigung und Absprachen erforderlich. Sie erfolgen im Kontext mit individuellen Beziehungen , die kurzfristig (z.B. in einem Flirt) oder lebenslang (z.B. in einer Ehe) zu Sexualpartnern aufgebaut werden. Die gemeinsam erlebte Lust wird oft als wichtiger Bestandteil einer solchen Beziehung erfahren und kann zur liebevollen Bindung zwischen Menschen beitragen. So eine Bindung ist für die Nachkommen, die sehr lange abhängig von Eltern (oder fürsorglichen Ersatzpersonen) sind, vorteilhaft, 3. Was ist Sexualität?3. Was ist Sexualität? 8 wird aber auch unabhängig vom Fortpfl anzungsaspekt von den meisten Menschen angestrebt. Dabei kann sich die sexuelle Komponente in Beziehungen auch konfl iktträchtig und zerstörerisch auswirken. So kann man sagen, dass Sexualität beim Menschen mindestens drei Funktionen erfüllt [7]: - Sie ermöglicht Fortpfl anzung, - sie ermöglicht Lustgewinn und Befriedigung und - ist Bestandteil vielfältiger Kommunikationen und Beziehungen. Die subjektiv erlebte Reihenfolge dieser drei Funktionen ist im Verlauf eines individuellen Lebens unterschiedlich , oft wird zuerst die Lustfunktion entdeckt, dann die Bedeutung für Kommunikation und Beziehungen erfahren und schließlich die Fortpfl anzungsfunktion genutzt. Die Gewichtung der Funktionen kann sich im Laufe des Lebens verändern. 3.2 Typisch menschlich Menschliche Sexualität unterscheidet sich trotz grundsätzlicher Gemeinsamkeiten in vielen Punkten von der Sexualität verwandter Tiere. Einiges dazu wurde im vorigen Abschnitt bereits gesagt. Typisch menschlich ist zudem, dass Mann und Frau sexuellen Lustgewinn auch unabhängig von einem Fortpfl anzungswunsch bzw. einer Fortpfl anzungsmöglichkeit genießen können bzw. wollen. Sex mit sich allein (Selbstbefriedigung), sexuelle Handlungen von Kindern, Lust älterer Menschen auf sexuelle Handlungen, homosexuelle Handlungen u.a.m. sind Erscheinungsformen dieser Funktion von Sexualität . Sexualität mit ihren physischen und psychischen Gegebenheiten ist eine „Energiequelle“ für körperliche, seelische und soziale Aktivitäten im Leben jedes einzelnen Menschen. Diese Quelle – um im Bild zu bleiben – sprudelt individuell unterschiedlich stark und im Laufe eines Lebens in Abhängigkeit von den Lebensumständen mal stärker, mal schwächer. Typisch menschlich ist, dass Mann und Frau mit Sexualität ähnlich variationsreich umgehen können wie z.B. mit dem Thema Ernährung: Es gibt in beiden Bereichen Asketen, Fast Food-Konsumenten, Gourmets, Süchtige und „Unersättliche“, Wohlüberlegende, Spontane u.a.m. Dieser individuelle Umgang mit Sexualität ist Ausdruck und Teil der Gesamtpersönlichkeit eines Menschen. Die partnerbezogenen Ausdrucksformen reichen von leidenschaftlicher, liebevoller, sehnsüchtiger Hinwendung zu einem bestimmten Menschen bis hin zu bindungsloser Promiskuität oder Gewalt und Missbrauch. Auch sexuelle Gleichgültigkeit ist eine Ausdrucksform unter vielen. Die Variationsbreite in den Ausdrucksformen hängt in hohem Maße von der Kommunikations-, Empathie-, Beziehungs- und Bindungsfähigkeit ab, die zweifellos in sehr früher Kindheit durch diesbezügliche Erfahrungen im Elternhaus und durch weitere Erfahrungen in Kindheit und Jugend geprägt wird und durch Sexualerziehung weiterentwickelt werden kann. Sexualität ist auch Energiequelle für kulturelles Schaffen . In Kunst, in Dichtung und Musik, in bildender und darstellender Kunst drückt sich menschliche Sexualität mit all ihren Facetten aus. Die Menschheitsgeschichte zeigt, dass Sexualität sogar politisches Handeln beeinfl ussen kann. In der Wissenschaft ist Sexualität Forschungsgegenstand verschiedener Disziplinen und bei einigen Wissenschaftlern auch Motor ihres Forschungsdrangs. Sexualität ist aber auch ein „großes Geschäft“ (Sex sells), weil es offenbar möglich ist, den Wunsch vieler Menschen nach sexuellen Anreizen und Verheißungen kommerziell auszunutzen. Man muss diese Erscheinungsformen menschlicher Sexualität sehen und sich mit ihnen auseinandersetzen, um in der Sexualerziehung kein verkürztes Bild von menschlicher Sexualität zu transportieren . Eine besondere Stellung nehmen Philosophie und Theologie ein, die sich mit anthropologischen und ethischen Fragen menschlichen Sexualverhaltens befassen. Hier spielt es eine besondere Rolle, dass der Mensch Verantwortung für sein sexuelles Handeln übernimmt, weil er – im Gegensatz zu Tieren – instinktreduziert und bewusst handelt bzw. handeln kann und Folgen seines Handelns abschätzen kann. Diese Fähigkeiten sind in ihrer Ausprägung und Wirksamkeit in hohem Maße von Bildung und Erziehung abhängig. 3. Was ist Sexualität? 9 In den großen Religionen wird Sexualität als zentrales Thema behandelt [8]. Sie wird unterschiedlich gedeutet und bewertet, und in multikulturellen Gruppen und Gesellschaften kann dies zu ernsthaften Konfl ikten führen – das um so mehr, weil es bei den weltanschaulichen Interpretationen oftmals nicht nur um Sexualität im biologischen Sinne und um sexuelle Handlungen geht, sondern auch um die Rolle von Mann und Frau in Familie und Gesellschaft und um die Verteilung von Ressourcen und Macht. In den letzten Jahren wird beim Menschen oft zwischen Sex und Gender unterschieden; Sex meint alles , was mit der „körperlich-biologischen“ Sexualität zu tun hat, „Gender“ alles, was mit dem „sozialen“ Geschlecht zusammenhängt. Das soziale Geschlecht wird jedem Menschen auf der Basis des biologischen Geschlechtes bei der Geburt zugewiesen. Es ist sozusagen das „Programm“, das die Gesellschaft für einen männlichen oder weiblichen Menschen vorsieht, das sich aber durch vielfältige Lern- und Anpassungsprozesse im Laufe der sexuellen Sozialisation in sehr unterschiedlicher Weise zu individuellen sozialen Geschlechtsmerkmalen und einem individuellen männlichen oder weiblichen Rollenverhalten entwickelt . Es gibt Meinungsverschiedenheiten darüber, wie eng die Geschlechterrolle als ein geschlechtstypisches Verhalten mit dem biologischen Geschlecht assoziiert ist bzw. assoziiert sein soll – „Das Lied von der Glocke“ (Schiller) ist ein berühmtes literarisches Zeugnis. Die aktuelle Entwicklung in Deutschland läuft darauf hinaus, dass jede Frau und jeder Mann im Prinzip jedes Verhalten (privat, berufl ich, politisch) frei und gleichberechtigt wählen und zeigen kann ohne Rücksicht auf traditionelle Geschlechterrollen. Dabei können sie sich selbstverständlich auch für ein Verhalten entscheiden, dass diesem traditionellen Rollenverständnis entspricht. Diese typisch menschliche Variationsbreite beim Umgang mit Sexualität verweist auf die Möglichkeiten und auch auf die Notwendigkeit von Sexualerziehung. Dabei ist Sex ualerziehung ohne Auseinandersetzung mit geschlechtstypischem Verhalten und Geschlechterrollen im Kontext mit weltanschaulichen, kulturellen und politischen Gegebenheiten, Traditionen und Entwicklungen praktisch nicht möglich. 3. Was ist Sexualität? 10 4.1 Sexualerziehung ist mehr als Sexualkunde Sexualerziehung in der Schule ist nicht gleichzusetzen mit Sexualkunde, auch wenn diese ein unverzichtbarer Bestandteil von Sexualerziehung ist. Sexualkunde beschränkt sich auf Fakten zum Thema Sexualität und zwar in der Regel auf biologische Fakten . Der Lehrplan fordert gleich im ersten Absatz „die Vermittlung einer wissenschaftlich fundierten Sexualkunde “. Kinder und Jugendliche haben selbstverständlich das gleiche Recht auf korrekte und wissenschaftlich einwandfreie Informationen über ihren Körper und über Geschlechtlichkeit – auch über Bedeutung und Funktionen von Sexualität in der Natur einerseits und als typisch menschliches Phänomen andererseits – wie über andere Sachverhalte (z.B. über physikalische Gesetze , Bedeutung der Regenwälder oder die Weimarer Republik). Diese Informationen sind die kognitive Basis für ein bewusstes – auch verantwortungs- und gesundheitsbewusstes – Sexualverhalten. „Sexualerziehung“ aber meint mehr: Sie vermittelt Anregungen und Orientierungshilfen für den Umgang mit der eigenen Sexualität, mit der Sexualität anderer, mit veröffentlichter Sexualität und mit historisch und kulturell bedingten Erscheinungsformen. Sexualerziehung bahnt die Nutzung diesbezüglichen Wissens bei eigenen Entscheidungen für das eine oder andere konkrete Verhalten an. „Sie kann nur gelingen, wenn Lehrkräfte sich als Erzieherinnen und Erzieher begreifen , die den Auftrag haben, Orientierung zu geben …“ – so der Lehrplan Sexualerziehung. Sexualerziehung braucht also nicht nur sexualkundliches Wissen, sondern auch Zielvorstellungen zu wünschenswerten Einstellungen und zu konkretem Handeln. Leider ist es bei der Sexualerziehung deutlich schwieriger als etwa bei der Verkehrserziehung, allgemein akzeptierte Ziele zu formulieren. Während es jedem sofort einleuchtet, dass es z.B. bei der Verkehrserziehung darum geht, jeden Verkehrsteilnehmer vor vermeidbaren Schäden zu schützen, sind solche Ziele beim Thema Sexualität nicht so offenkundig . Man kann es sich leicht machen und für Sexualerziehung analog zur Verkehrserziehung Ziele formulieren , die die Vermeidung von individuellen Problemen in den Mittelpunkt stellen: Vermeiden von ungewollten Schwangerschaften, Vermeiden von Verletzungen und Infektionen, Prävention von sexueller Gewalt. Der hessische Lehrplan Sexualerziehung geht diesen einfachen Weg nicht, sondern differenziert bei den Zielen zwischen 1. angestrebten Lernprozessen, bei denen Schüler und Schülerinnen - altersgemäß mit den biologischen, religiösen, ethischen, kulturellen und sozialen Voraussetzungen und Bezügen der Geschlechtlichkeit des Menschen vertraut werden - die grundlegende Bedeutung von Partnerschaft, Ehe und Familie kennenlernen - das Bewusstsein für eine persönliche Intimsphäre und für partnerschaftliches, gewaltfreies Verhalten in persönlichen Beziehungen entwickeln - Sexualität und Liebe als zusammengehörige, aber auch als getrennt auftretende Phänomene begreifen - unterschiedliche sexuelle Lebensstile respektieren und tolerieren können so wie eine eigene Intimsphäre entwickeln - mediale Darstellungen mit sexuellen Inhalten kompetent beurteilen und sich davon auch distanzieren können - bei der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit – vor allem auch in Abgrenzung zu in den Medien transportierten Idealen – unterstützt werden. 4. Sexualerziehung – Ziele und Wertorientierung 4. Sexualerziehung – Ziele und Wertorientierung 11 2. wünschenswerten Entwicklungsprozessen, die zu tun haben - mit positivem Körpergefühl und Gestaltung von Nähe, Distanz und Zärtlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung - mit Kommunikations- und Handlungsfähigkeit - mit Konfl iktfähigkeit und Problemlöseverhalten - mit einer eigenen Intimsphäre Jeder dieser Formulierungen liegt eine Wertentscheidung zugrunde: Von alternativ denkbaren Einstellungen und Fähigkeiten wird jeweils eine als erstrebenswert hervorgehoben. Noch deutlicher wird diese Wertentscheidung, wenn gesagt wird: „Sexualerziehung - setzt sich ein für Gleichberechtigung von Männern und Frauen - unterstützt eine kritische Haltung gegenüber allen Zwängen und Ansprüchen - muss die Fähigkeit fördern, über Sexualität angemessen , differenziert und sensibel zu sprechen - will Schülerinnen und Schüler darin unterstützen, ihre eigene verantwortliche sexuelle Identität zu entwickeln und zu bejahen und mit dabei auftretenden Konfl iktsituationen umzugehen.“ Es sind durchgängig positiv formulierte Ziele, die den Lehrplan kennzeichnen. Dabei enthält sich der Lehrplan einer grundsätzlichen Aussage über den Stellenwert von Sexualität im Leben des einzelnen Menschen. „Die Entwicklung der ganz persönlichen Einstellung zur Sexualität gehört in erster Linie in die Familie“ wird im ersten Absatz des Lehrplans gesagt und setzt damit jedem „missionarischen Eifer“ von Lehrpersonen eine Grenze. Man sollte sich vor Augen halten, dass keiner voraussagen kann, welche Art des Umgangs mit Sexualität im Privatleben auf Dauer „glücklicher“ oder „zufriedener“ macht; nur Unaufgeklärtheit, Angst, Fremdbestimmung und Gewalt sind dabei mit Sicherheit hinderlich. Grundlage für die im Lehrplan vertretenen handlungsleitenden Grundsätze ist im Wesentlichen die von Alex Comfort 1968 [9] veröffentlichte und bis heute akzeptierte und auch im Lehrplan sinngemäß zitierte Position: „Du sollst die Gefühle eines Menschen nicht rücksichtslos ausnutzen und ihn mutwillig enttäuschenden Erfahrungen aussetzen“ und „Du sollst unter keinen Umständen fahrlässig die Zeugung eines unerwünschten Kindes riskieren“. Wichtig ist, dass hier nicht die sexuelle Handlung an sich, sondern der beteiligte Mitmensch bzw. das möglicherweise gezeugte Kind im Mittelpunkt der Bewertung steht. Trotz der „negativen“ Formulierung handelt es sich um eine positive Zielsetzung, die von Sexualpartnern Empathie, Respekt und Achtsamkeit und mit Blick auf die Möglichkeit der Zeugung Verantwortungsbewusstsein fordert. Dahinter steht ein Menschenbild, das den anderen Menschen – unabhängig davon, wie die emotionale oder sexuelle Beziehung zu ihm gestaltet ist – nicht als Objekt oder als Mittel ansehen darf und dass man sich selbst auch nicht zum Objekt oder Mittel machen lassen soll. Das heißt: Oberste Norm für die Sexualerziehung ist die Achtung der Menschenwürde – der eigenen und der eines Partners oder einer Partnerin. Dadurch wird Sexualerziehung nicht nur wichtiger Teil der Persönlichkeitserziehung, sondern auch der Sozialerziehung. Mit Blick auf diese in einer pluralen, aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft konsensfähige Norm sollen die im Lehrplan genannten Inhalte zielorientiert bearbeitet werden: - die Entwicklung der sexuellen Identität und mögliche unterschiedliche Lebensstile - Vorgänge der körperlichen Entwicklung und körperlichen Reifung, über Schwangerschaft, Geburt und frühkindliche Entwicklung - die Bedeutung des Schutzes ungeborenen menschlichen Lebens - Verhütungsmöglichkeiten/-methoden und deren sachgerechte Anwendung - sexuell übertragbare Krankheiten und Schutzmöglichkeiten - Beratungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit sexuellem Lebensstil, ungewollter Schwangerschaft , sexueller Gewalt/sexuellem Missbrauch. 12 Besonders hervorgehoben werden bei den „Grundlagen der Sexualerziehung“ im Lehrplan die Themen „Schutz des ungeborenen Lebens“ und „Ehe und Familie “. Beide Themen unterlagen und unterliegen einem allgemeinen „Wertewandel“, der viele Bereiche des Sexuallebens betrifft und Ergebnis einer langen gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und politischen Entwicklung ist. Ihre unterrichtliche Behandlung ist vor diesem Hintergrund zu sehen. 4.2 Schutz des ungeborenen Lebens Die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs lässt oftmals in Vergessenheit geraten, dass er in Deutschland im Prinzip rechtswidrig ist. Nur in defi - nierten Ausnahmefällen, nämlich beim Vorliegen einer medizinischen oder kriminologischen Indikation ist er nicht rechtswidrig. Dass der Schwangerschaftsabbruch ohne Indikation innerhalb einer bestimmten Frist straffrei bleibt, ändert nichts an der Tatsache, dass er eigentlich nicht mit dem traditionellen Wertesystem in unserer Gesellschaft vereinbar ist. Aber der Schwangerschaftsabbruch bleibt straffrei, wenn sich eine schwangere Frau aus einem persönlichen Konfl ikt heraus gegen das ungeborene Kind entscheidet. Daraus darf nicht geschlossen werden, der Schwangerschaftsabbruch könne „bagatellisiert“ werden und sei eine gleichrangige Alternative zu anderen Methoden der Familienplanung. Aufklärung und Motivation, verantwortungsbewusst mit der eigenen Fruchtbarkeit umzugehen und Methoden der Schwangerschaftsverhütung zu nutzen, spielen eine wichtige Rolle beim Thema „ungewollte Schwangerschaft “ in der Sexualerziehung. Es muss bei Mädchen und Jungen überzeugend dafür geworben werden, sich so zu verhalten, dass es nicht zu einer ungewollten Mutterschaft oder Vaterschaft kommt. Das ist sowohl im Interesse des Lebensschutzes als auch im Interesse der „Eltern“, für die ein Schwangerschaftskonfl ikt und ein evtueller Schwangerschaftsabbruch lange nachwirkende Probleme mit sich bringen können . Informationen über Beratungs- und Hilfsangebote in Konfl iktsituationen leisten in vielen Fällen einen wirksamen Beitrag, einer Frau den Abbruch zu ersparen. Schülern und Schülerinnen sind die konkreten Angebote vor Ort zu benennen, damit sie ohne Zeitverlust im Notfall sofort Rat und Hilfe suchen können (empfehlenswert: ein Aushang an einer Stelle, wo sich Schüler und Schülerinnen in Ruhe informieren können). In der Sexualerziehung sollte betont werden, dass auch der Partner einer schwangeren Frau und das gesellschaftliche Umfeld mit verantwortlich sind für einen Schwangerschaftskonfl ikt und die Entscheidung einer Frau für oder gegen das ungeborene Kind. Es kann nicht Aufgabe schulischer Sexualerziehung sein, Frauen, die sich für einen legalen bzw. straffreien Abbruch entscheiden, moralisch zu verurteilen . Im Unterricht können § 218 und § 219 StGB in einfacher Form zur Kenntnis gegeben werden. Auch Methoden des Schwangerschaftsabbruchs und dessen möglichen Auswirkungen können mit aller Zurückhaltung beschrieben werden, damit Schüler und Schülerinnen wissen, worauf sie sich ggf. einlassen. Besonderes Taktgefühl ist gefordert bei der Besprechung von „Spätabbrüchen“ (unter bestimmten Voraussetzungen ohne Einhaltung von Fristen möglich), da man nicht wissen kann, ob eine Familie in der Klasse davon betroffen ist. Es wäre unverantwortlich, hier „Horrorszenarien“ auszumalen. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit weltanschaulich -ethischen Fragen des Schwangerschaftsabbruchs ist Aufgabe des Religionsunterricht oder des Ethikunterrichts. 4.3 Ehe und Familie und die Pluralität der Lebensformen Ehe bedeutet nach traditionellem Verständnis eine langandauernde, möglichst lebenslange Partnerschaft , in der Mann und Frau emotionale und soziale Sicherheit und Kinder ggf. langjährige zuverlässige Fürsorge in der Familie durch Vater und Mutter erfahren . Ehe war und ist auch für viele Menschen der einzig legitime Ort für das Ausleben von Sexualität. Diese Sichtweise von Ehe und Familie ist in einem christlichen Welt- und Menschenbild verankert und hatte darüber hinaus eine Reihe von konkreten materiellen Vorteilen, die mit sozialer Absicherung von Kindern und Frauen und mit Möglichkeiten bzw. fehlenden Möglichkeiten der Empfängnisregelung und des Nachweises von Vaterschaft zu tun hatten. Diese materiellen Vorteile spielen heute keine wichtige Rolle mehr, und so bleibt vor allem der ideelle Aspekt. Großen Rückhalt in der Bevölkerung hat nach wie vor die auf dem Grundgesetz (Artikel 6, Absatz 1) basie- 4. Sexualerziehung – Ziele und Wertorientierung 13 rende Defi nition von Ehe und Familie als „Grundlage des Gemeinschaftslebens“ (Art. 4 der Verfassung des Landes Hessen) und die Forderung des Hessischen Schulgesetzes „Die Sexualerziehung soll (…) die grundlegende Bedeutung von Ehe und Familie vermitteln “ (§ 7 Abs. 1). Die Lebenswirklichkeit spiegelt diese Zustimmung nur bedingt wieder: Im Jahr 2007 wurden in Deutschland 368.922 (in Hessen: 26.928) Ehen geschlossen . 187.072 (Hessen: 15.469) bestehende Ehen wurden in diesem Zeitraum geschieden. Rund 25% (in Hessen: ebenfalls 25%) der Frauen und Männer, die 2007 geheiratet haben, waren (mindestens einmal) geschieden. Es gab 1.570.000 (in Hessen : 105.700) alleinerziehende Mütter und Väter, die mit insgesamt 2.184.000 (in Hessen: 147.300) Kindern unter 18 Jahre zusammenlebten. 30% (in Hessen : 23%) der 2007 geborenen Kinder hatten Eltern, die nicht miteinander verheiratet waren. 117.322 Kinder waren bundesweit Ende 2005 auf Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses angewiesen [10;11]. Hohe Scheidungsraten und eine steigende Anzahl von Kindern, die nicht in einem klassischen Familienverband aufwachsen, zeigen, dass Ehe einerseits und Familie im traditionellen Sinn andererseits nicht mehr die alleinige gesellschaftlich akzeptierte Lebensform ist. Single-Leben mit wechselnden Partnern, „Ehen ohne Trauschein“, eheähnliche Partnerschaften zwischen homosexuellen Frauen oder Männern, alleinerziehende Mütter oder Väter, Mehrfach-Eheschließungen in Folge, Patchwork-Familien u.a.m. sind Ausdruck der möglichen Pluralität von Lebensformen . Abgesehen davon, dass diese Lebensformen zum Teil aus Überzeugung gewählt und als zufriedenstellend erlebt werden, sind sie zum Teil auch unerwünschte Folge moderner Lebensbedingungen, die u.a. zu tun haben mit steigender Lebenserwartung und deren Auswirkungen auf Partnerschaften, mit berufl icher und fi nanzieller Unsicherheit und erzwungener Mobilität. Zusammen mit dem für viele Menschen wichtig gewordenen Ideal der Selbstverwirklichung sind das Faktoren, die Bindungen, Dauerbeziehungen , Ehe und Familienleben in traditioneller Form erschweren und oft auch scheitern lassen. Dass Kinder oft die Leidtragenden einer solchen Entwicklung sind, braucht hier nicht weiter erläutert zu werden, weil das jedem Pädagogen aus der Erfahrung mit Kindern und Jugendlichen und/oder aus der Fachliteratur bekannt ist. Viele Kinder und Jugendliche haben durch diese Entwicklungen nur noch wenige positive Vorbilder für stabile Ehen und Familien im persönlichen Umfeld . Es ist nicht Aufgabe von Lehrpersonen, im Rahmen der Sexualerziehung betroffenen Kindern und Jugendlichen vor Augen zu führen, dass sie in „defi - zitären“ familiären Verhältnissen leben und dass sie selbst einmal ihr Lebensziel verfehlen, wenn sie keine Ehe eingehen oder eine Familie im traditionellen Sinne gründen. Genau so unangemessen ist es, diese Lebensformen in Frage zu stellen oder abzuwerten . Wünschenswert ist, dass sich Jugendliche im Unterricht mit verschiedenen Lebensformen gedanklich auseinandersetzen und Erfahrungen austauschen , so dass sie sich entscheiden können, welche Lebensform sie – auch im Interesse eigener Kinder – einmal anstreben werden. Bei dieser Auseinandersetzung ist die gesetzlich verankerte Forderung zu beachten, dass „die besondere Bedeutung der Familie und Ehe in ihrer individuellen, gesellschaftlichen und rechtlichen Dimension wesentlicher Gegenstand der Sexualerziehung“ ist. Eine gute Ausgangsbasis dafür ist die hohe Wertschätzung für die Familie, die bei Jugendlichen festzustellen ist [12] und in der Sexualerziehung unterstützt werden kann. Ob jedoch der Mangel an diesbezüglicher lebendiger Erfahrung durch unterrichtliche Maßnahmen zur Sexualerziehung kompensiert werden kann, ist derzeit schwer zu beurteilen. Hier kann neben dem Religionsunterricht der Geschichtsunterricht wichtige Denkanstöße geben, da der Wandel von Ehe und Familie nur im historischgesamtgesellschaftlichen Kontext verstehbar ist. Die Forderung, dass sexuelle Aktivitäten nur in der Ehe einen legitimen Platz haben, fi ndet, unabhängig von der Akzeptanz der Ehe als Lebensform, keine so breite Zustimmung mehr, weil sie als eine Überforderung vor allem für junge Menschen empfunden wird. Die körperliche Reife tritt immer früher ein, aber die sozialen Voraussetzungen für eine langfristige Bindung bzw. Familiengründung werden durch Ausbildungszeiten und verzögerten Eintritt ins Berufsleben immer später erfüllt. 2007 lag das Durchschnittsalter von ledigen Frauen und Männern zum Zeitpunkt der Eheschließung bei rund 30 Jahren. Die Forderung nach sexueller Abstinenz ist unter diesen Bedingungen schwer zu erfüllen. Dafür kann aber selbstverständlich zu Hause von entsprechend überzeugten Eltern und in der Schule von Vertretern der Religionsgemeinschaften geworben werden. 4. Sexualerziehung – Ziele und Wertorientierung 14 Gesellschaftlich ist es inzwischen weitgehend akzeptiert , dass in dieser Zeitspanne sexuelle Erfahrungen auch mit wechselnden Partnern oder Partnerinnen gesammelt werden. Dass frühe fl üchtige sexuelle Aktivitäten ohne Einbindung in eine Beziehung, die auch von Respekt und Verantwortungsgefühl füreinander geprägt ist, der Persönlichkeitsentwicklung eines Mädchens oder Jungen abträglich sein können , sollte im Unterricht angesprochen werden. Es gibt gute Argumente für sexuelle Zurückhaltung, die in der Sexualerziehung thematisiert werden und Jugendliche auf sich wirken lassen können. Die Argumente sollten von den Jugendlichen selbst formuliert werden. Aus den Medien sind solche Argumente nicht zu erfahren, weil da die Tendenz überwiegt, Jungen und Mädchen zu frühen Sexualkontakten einschließlich Geschlechtsverkehr zu ermuntern. Ähnlich ist es mit Promiskuität und Treulosigkeit, die von vielen Jugendlichen und Erwachsenen – selbst wenn sie ihre Partner oder Partnerinnen wechseln – abgelehnt werden. Auch in diesem Punkt fi nden sie wenig Unterstützung in den Medien, weil sich Promiskuität und Treulosigkeit vor allem von Prominenten gut vermarkten lassen. Weniger präsent in den Medien sind stabile Partnerschaften, beständige Ehen und unspektakuläres Familienleben – das sollte ein Thema in der Sexualerziehung sein. 4.4 Sexualität und Liebe Liebe ist ein zentraler Begriff in der Sexualerziehung, und es ist ein traditioneller Grundsatz, sexuelle Handlungen ethisch anders zu bewerten, wenn sie in eine liebevolle Beziehung integriert, sind als wenn sie losgelöst von solchen Beziehungen stattfi nden. Es ist aber realistisch, wenn der Lehrplan diesbezüglich formuliert: „Schülerinnen und Schüler sollen Sexualität und Liebe als zusammengehörige, aber auch als getrennt auftretende Phänomene begreifen.“ Sexualität kann einerseits als „Sex für sich allein“ (Selbstbefriedigung ) als auch mit einem Partner, einer Partnerin genossen werden, wenn keine „Liebe im Spiel ist“, sondern „nur“ die Freude aneinander und miteinander beim Sex oder auch nur der Spaß am Sex schlechthin. Es gibt aber auch liebevolle Beziehungen , in denen Sex eine nachgeordnete Rolle spielt. Die Unfähigkeit, bei sich selbst und bei einem Partner oder einer Partnerin sexuelle Anziehung und Liebe zu unterscheiden, führt bei vielen Menschen zu Konfl ikten. Will ein junger Mann z.B. eigentlich „nur Sex“, glaubt aber der Partnerin „Liebe“ vorgaukeln zu müssen, damit sie „ja“ sagt, ist das genauso konfl iktträchtig , wie folgende Situation: Eine Frau, die in einer harmonischen Dauerbeziehung lebt, will sich nicht eingestehen, dass sie sich von einem anderen Mann „nur sexuell“ angezogen fühlt. In der Annahme , dass eine solche Anziehung nur im Rahmen einer liebevollen Beziehung in Ordnung ist, stellt sie ihre bisherige Beziehung grundsätzlich in Frage. Die meisten Menschen streben ein Sexualleben im Rahmen einer liebevollen Beziehung an, die über sexuelle Attraktivität und Verliebtsein hinaus geprägt ist von emotionaler Anteilnahme, gemeinsamen Zielen , gegenseitigem Respekt, Solidarität, Treue und Zuverlässigkeit, gemeinsam wahrgenommener Verantwortung u.a.m. Es ist schwer zu defi nieren oder zu beschreiben, was Liebe ist, und es ist noch viel schwerer, Menschen verständlich zu machen, was damit gemeint ist, wenn sie nicht selbst schon als Kind etwas erfahren und erlebt haben, was sie als Liebe bezeichnen. So kann man auch nicht fordern, dass schulische Sexualerziehung gleichzusetzen ist mit „Liebeserziehung“ oder „Erziehung zur Liebesfähigkeit “, weil es dafür in der Schule vielleicht schon zu spät ist bzw. es dafür auch keine schulische Lehroder Lernmethode gibt. Man kann aber zu einem Umgang mit einem Partner oder einer Partnerin erziehen , der sich an den oben genannten Werten (nach Comfort) orientiert. In Rollenspielen kann dieser Umgang konkret sichtbar gemacht, zur Diskussion gestellt und bewertet werden. Dabei kann es sowohl um den ehrlichen Umgang mit einer Zufallsbekanntschaft (z.B. anlässlich eines Disko-Besuches) als auch um den fairen Umgang miteinander bei einem langjährig verbundenen Paar gehen. Außerdem ermöglichen viele Dokumente in den Fächern Deutsch, Kunst und Musik einschließlich Unterhaltungsmusik (hier vor allem deutsche Schlagertexte ) eine Annäherung an das, was man Liebe nennt. 4.5 Toleranzgebot und Indoktrinationsverbot Die unabdingbare Wertorientierung in der Sexualerziehung ist einer der Gründe für Vorbehalte gegenüber diesem Erziehungsauftrag von Schule, weil Eltern oder gesellschaftliche Gruppen fürchten, ihre Sichtweise könne abgewertet und in der nachwachsenden Generation an Gewicht verlieren. Dem Vorbehalt 4. Sexualerziehung – Ziele und Wertorientierung 15 muss entgegen gehalten werden, dass es ein Toleranzgebot in der Hessischen Verfassung gibt, die eine einseitige Beeinfl ussung im Sinne einer Indoktrination ausschließt. „Grundsatz eines jeden Unterrichts muss die Duldsamkeit sein. Der Lehrer hat in jedem Fach auf die religiösen und weltanschaulichen Empfi ndungen aller Schüler Rücksicht zu nehmen und die religiösen und weltanschaulichen Auffassungen sachlich darzulegen “ (Art. 56 Abs. 3 und 4 der Hessischen Verfassung ). „Durch die Sexualerziehung, die als Teil der Gesamterziehung zu den Aufgaben der Schule gehört, sollen die Schülerinnen und Schüler sich altersgemäß mit den biologischen, ethischen, religiösen, kulturellen und sozialen Tatsachen und Bezügen der Geschlechtlichkeit des Menschen vertraut machen. Die Sexualerziehung soll das Bewusstsein für eine persönliche Intimsphäre und für ein gewaltfreies, respektvolles Verhalten in gegenwärtigen und zukünftigen persönlichen und partnerschaftlichen Beziehungen entwickeln und fördern sowie die grundlegende Bedeutung von Ehe und Familie vermitteln. Bei der Sexualerziehung ist Zurückhaltung zu wahren sowie Offenheit und Toleranz gegenüber den verschiedenen Wertvorstellungen in diesem Bereich zu beachten; jede einseitige Beeinfl ussung ist zu vermeiden “ (§ 7 Abs. 1 Hessisches Schulgesetz). Das bedeutet: Die Lehrperson ist nicht berechtigt, eine einseitige weltanschauliche Grundposition zum Maßstab für verallgemeinernde Bewertungen zu machen. Sie kann Grundsätze und Grundpositionen und die zugehörigen Argumente zur Diskussion stellen. Dabei muss sie darauf achten, dass sich auch Schüler und Schülerinnen untereinander an das Toleranzgebot halten. Selbstverständlich ist keine Toleranz gefordert gegenüber Positionen, die gegen geltendes Recht verstoßen (z.B. genitale Verstümmelung von Mädchen, sexuelle Handlungen mit Kindern oder „Ehrenmorde“) oder unvereinbar sind mit Prinzipien des respektvollen, toleranten und gewaltfreien Zusammenlebens der Geschlechter (z.B. Zwangsehen oder Gewalt gegen den Ehepartner oder Diskriminierung sexueller Minderheiten). Hier sind Schülerinnen und Schülern bei ihren Äußerungen deutlich Grenzen zu setzen, was insbesondere gegenüber Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern und aus anderen Kulturkreisen mitunter nicht leicht ist. Selbstverständlich hat jeder Lehrer und jede Lehrerin das Recht, das eigene Privat-/Sexualleben so zu gestalten, wie er oder sie es für richtig hält, aber persönliche Wertentscheidungen sollten – wenn sie zur Sprache kommen – als solche vor der Klasse offengelegt werden („Wenn Ihr mich nach meiner persönlichen Meinung fragt, dann …“). 4. Sexualerziehung – Ziele und Wertorientierung 16 5. Schulische Sexualerziehung außerhalb des Unterrichts Der Schulalltag ist reich an Situationen, in denen Lehrpersonen als „Sexualpädagogen“ gefordert sind. Hier seien nur ein paar typische genannt: - Körperliche Übergriffe: Mädchen in der Grundschule beklagen sich darüber, dass ihnen von Jungen der Rock hochgeworfen wird, in der Sekundarstufe I werden Mädchen von Jungen in den „Schwitzkasten“ genommen oder ein Junge oder ein Mädchen wird von einer Gruppe festgehalten und „begrapscht“ oder abgeküsst. - Jungen oder Mädchen werden dabei ertappt, dass sie auf der Toilette der jeweils anderen Gruppe „rumspionieren“. - Verbale Übergriffe: Diskriminierende Schimpfwörter mit sexuellen Anspielungen (Hurensohn, Schwuchtel, geile Fotze u.ä.m.) werden im Beisein von Lehrpersonen benutzt oder ein Schüler bzw. eine Schülerin beschwert sich über solche Schimpfwörter . - In der Schule kursiert sexistisches oder pornografi sches Bild-, Film- oder Tonmaterial. - Auf einer Klassenfahrt oder -feier kommt es zu sexuellen Handlungen. - An der Schule gibt es Pärchen, die in der Öffentlichkeit intensiv Zungenküsse und andere Zärtlichkeiten austauschen. - Ein Schüler oder eine Schülerin bekennt sich offen zu seiner/ihrer Homosexualität. - Der Liebeskummer eines Jungen oder eines Mädchens wird offenkundig. - Eine Schülerin wird schwanger. - Der Fall eines häuslichen sexuellen Missbrauchs wird bekannt. - Ein Exhibitionist im Umfeld der Schule beunruhigt Kinder. Grundsätzlich sind bei der Reaktion auf das Verhalten der Schüler und Schülerinnen die gleichen Wertvorstellungen zu vertreten, die auch im Unterricht zur Sexualerziehung vermittelt werden. Es sollten keine Widersprüche oder Brüche spürbar werden – wie in folgendem Beispiel: Im Unterricht über Homosexualität plädiert die Lehrperson für Toleranz und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Als dann ein Junge von anderen als „warmer Bruder“ gehänselt wird, weil Mitschüler ihn für homosexuell halten, reagiert die Lehrperson mit der Bemerkung: „Selber Schuld, warum trägt er auch diese läppischen Ohrringe ?“ So etwas sollte nicht passieren. Im Übrigen können die sexualpädagogischen Reaktionen sehr unterschiedlich aussehen. So ist zum Beispiel zu unterscheiden zwischen der Bewertung der sexuellen Handlung an sich und der Situation, in der sie auffällt: Zärtlichkeiten zwischen Jugendlichen sind in Ordnung, aber sie gehören in die Privatsphäre und – genau wie später im Berufsleben auch – nicht in die Öffentlichkeit. Sie können andere stören. Darauf kann man Schüler und Schülerinnen hinweisen und um Zurückhaltung bitten. Ähnlich ist es bei sexuellen Handlungen auf Klassenfahrten (z.B. Masturbieren im Jungenschlafraum). Da nicht auszuschließen ist, dass Jungen anwesend sind, denen solche Intimitäten anderer peinlich sind, sollte darauf Rücksicht genommen werden. Die Selbstbefriedigung („Sex mit sich allein“) selbst wird dadurch nicht negativ bewertet. Gegen körperliche und verbale Übergriffe muss die Lehrperson den Angegriffenen oder die Angegriffene in Schutz nehmen, am besten durch ein Gespräch mit den Beteiligten, durch das zur Empathie mit dem Opfer angeregt wird. Ein Rollenspiel mit vertauschten Rollen kann in manchen Fällen helfen. In Einzelfällen kann es auch sinnvoll sein, sexuell dis- 5. Schulische Sexualerziehung außerhalb des Unterrichts 17 kriminierende Äußerungen oder Verhaltensweisen über eine Maßnahme aus der Schulordnung zu „bestrafen “. Im Lehrplan Sexualerziehung wird die Frage gestellt: „Trifft die Schulordnung Regelungen für Fälle von sexuell diskriminierenden Äußerungen und Verhaltensweisen?“ Solche Regelungen sollten aber themenbezogen sein, weil „einfaches Nachsitzen“ wenig Wirkung im Sinne der Sexualerziehung hätte. Bei Liebeskummer oder beim Coming-out homosexueller Jungen oder Mädchen kann ein unterstützendes Einzelgespräch hilfreich sein. In anderen Fällen ist es angebracht, eine professionelle Beratung von außerhalb einzubeziehen (z.B. bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch) oder das betroffene Kind oder den Jugendlichen zu einer professionellen Beratung zu vermitteln (z.B. bei befürchteter oder schon eingetretener ungewollter Schwangerschaft oder bei „Angst vor AIDS“). Der Hinweis auf die Gesetzeslage (mit sachlicher Begründung !) und restriktives Einschreiten kann im Fall von Pornografi e angesagt und selbst das Einbeziehen der Polizei kann sinnvoll sein (z.B. bei kinderpornografi schem Material auf Schülerhandys oder im Fall eines Exhibitionisten im Umfeld der Schule). Auf keinen Fall sollte die Schule die Augen verschließen vor sexuellen Signalen und Auffälligkeiten. Wenn es der Lehrperson schwer fällt, eine Auffälligkeit anzusprechen , die sie als störend empfi ndet und von der sie glaubt, dass gegengesteuert werden soll, kann sie das Gespräch beginnen mit der Mitteilung: „Ich erlebe ein Problem, über das ich gerne mit euch (mit dir) sprechen möchte...“ Es ist gut, wenn sich Kollegen und Kolleginnen über das Vorgehen in Situationen wie den genannten absprechen . Auch Lehrpersonen, die sich nicht an der unterrichtlichen Sexualerziehung beteiligen, sollten sich verpfl ichtet fühlen, in ihren Spontanreaktionen Grundgedanken und Ziele schulischer Sexualerziehung zu berücksichtigen. Wenn sich die Entwicklung eines ernsten Problems abzeichnet (z.B. Verdacht auf Missbrauch), bewährt sich ein persönliches Protokoll der involvierten Lehrperson über das, was sie beobachtet und was sie selbst unternimmt (z.B. Beobachtung im Klassenverband , Einzelgespräch mit der Schülerin oder dem Schüler, Kontakt zu einer Beratungsstelle oder dem Jugendamt, Rücksprache mit Klassenlehrerin oder Klassenlehrer bzw. mit der Schulleitung, ggf. Elterngespräch ), so dass man – wenn sie den Fall an eine zuständige professionelle Stelle „abgibt“ – gut nachvollziehen kann, was sie selbst pädagogisch verantwortlich unternommen hat. Bei Einzelgesprächen mit einer Schülerin oder einem Schüler dient es dem eigenen Schutz der Lehrperson , wenn sie darauf achtet, dass trotz der Vertraulichkeit des Gespräches eine gewisse Öffentlichkeit gewahrt bleibt z.B. dadurch, dass der Besprechungsraum durch eine Glasscheibe einsehbar ist oder dessen Tür etwas geöffnet bleibt. 18 6. Beteiligung der Eltern Die meisten Eltern sind erleichtert, wenn sich Schule an der Sexualerziehung ihrer Kinder beteiligt. Sie haben aber auch kein Recht, ihr Kind von der Sexualerziehung fernzuhalten, weil Sexualerziehung inzwischen nach allgemeiner Rechtsauffassung zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der öffentlichen Schulen gehört. Der Lehrplan betont: „Sexualerziehung steht im Spannungsfeld zwischen dem Recht der Eltern, dem Persönlichkeitsrecht des Kindes und dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der öffentlichen Schule. Sexualerziehung ist also in einem sinnvollen Zusammenwirken von Schule und Elternhaus zu erfüllen.“ Der Lehrplan sieht vor, dass Eltern vor Beginn des sexualkundlichen Unterrichts rechtzeitig in einem Elternabend über Ziele, Inhalte und Methoden zu informieren sind. Dieser Tagesordnungspunkt wird in der Einladung gesondert ausgewiesen. Das ist vor allem in der Grundschule wichtig, damit Eltern evt. vor dem Unterricht mit ihrem Kind über Mutterschaft, Vaterschaft, Zeugung und andere ihnen wichtig erscheinende Fragen sprechen und den Unterricht zu Hause begleiten können. Auch in der Sekundarstufe I wünschen sich viele Eltern die Möglichkeit einer solchen Begleitung. Darauf müssen sie sich manchmal selbst vorbereiten. Die Lehrperson kann ihnen dazu auf dem Elternabend Literatur (z.B. gute Aufklärungsbücher für Jugendliche [13; 14] oder Internetseiten [15]) empfehlen. Vielleicht lässt sich auch an Beispielen demonstrieren, dass es nicht unproblematisch ist, Kinder und Jugendliche unbegleitet im Internet nach Informationen zum Thema Sexualität suchen zu lassen. Da sich nicht alle sexualerzieherischen Aktivitäten auf geplanten Unterricht beschränken können, empfi ehlt es sich, Grundsätze und Wertvorstellungen, an denen sich schulische Sexualerziehung im Schulalltag und bei besonderen Veranstaltungen (z.B. Klassenfahrten) orientiert, auch unabhängig von konkret geplantem Unterricht auf einem Elternabend zu Beginn des Schuljahres offen zu legen. Der Elternabend ist eine gute Gelegenheit Eltern anzuregen, nicht nur ihr Recht, sondern ihre Verpfl ichtung zur Sexualerziehung in der Familie wahrzunehmen und ihren Kindern zu helfen, sich zu beziehungsfähigen Menschen und ihre Sexualität als integrierten Teil ihrer Persönlichkeit zu entwickeln. Interessant für Eltern ist es, wenn seitens der Lehrperson dann auch Informationen z.B. zur Entwicklung in der Pubertät, zu negativen Auswirkungen von Pornografi e auf junge Menschen oder zu Risiken beim Chatten und Flirten im Internet angeboten werden. Viele Eltern sind dankbar für solche Informationen . Insbesondere bei Eltern mit Migrationshintergrund ist der Hinweis wichtig, dass Grundgesetz, Landesverfassung und Schulgesetz den legitimen Rahmen für Sexualerziehung liefern. Über solche Informationen auf einem Elternabend sollte Protokoll geführt werden. Gibt es an einer Schule „Den Tag der offenen Tür“, dann kann man auch einmal eine Unterrichtsmaßnahme zur Sexualerziehung im Beisein von Eltern durchführen. 6. Beteiligung der Eltern 19 7. Zusammenarbeit mit außerschulischen Institutionen Neben Elternhaus und Schule bemühen sich seit vielen Jahren außerschulische Institutionen und in manchen Schulbezirken auch engagierte Einzelpersonen (z.B. Ärzte) um eine Verbesserung der Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen. Pro familia, Aids-Hilfen, ÄGGF (Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau e.V.) und eine Reihe anderer Institutionen und Vereine verfügen über gut ausgebildete medizinische und/oder sexualpädagogische Fachkräfte . Die Einbeziehung solcher Fachkräfte in schulische Sexualerziehung ist Abwechselung und Bereicherung für Schüler und Schülerinnen, weil es sich um Personen handelt, die nichts mit dem übrigen Schulalltag und insbesondere nichts mit den für Schule typischen Leistungsanforderungen zu tun haben. Ihnen werden unbefangener Fragen gestellt und ihre Antworten erscheinen oft glaubwürdiger und kompetenter als die der Lehrerin oder des Lehrers. Dennoch gilt der Grundsatz: „Die Sexualerziehung kann nur von kontinuierlich in der Klasse tätigen pädagogisch ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet werden “ (Lehrplan Sexualerziehung). Singuläre Veranstaltungen mit externen Fachkräften, auch wenn sie noch so interessant sind, sind kein Ersatz für die sexualpädagogisch refl ektierte Begleitung von Kindern und Jugendlichen im Schulalltag und eine kontinuierliche Bearbeitung des Themas Sexualität in verschiedenen Unterrichtsfächern. Werden externe Fachkräfte eingeladen, ist im Vorfeld zu klären, ob Inhalte und Akzentsetzungen mit den Zielen schulischer Sexualerziehung übereinstimmen und ob die geplanten Methoden kompatibel sind mit schulischen Rahmenbedingungen. Externe Fachkräfte unterstützen und ergänzen schulische Sexualerziehung, die Verantwortung für eine Maßnahme , die von der Schule angeboten wird, trägt die Schule. Eine „parallele“ Sexualerziehung, die von 7. Zusammenarbeit mit außerschulischen Institutionen Prinzipien außerschulischer Jugendarbeit geprägt ist, wäre nicht hilfreich. Die Frage, ob der zuständige Lehrer oder die Lehrerin bei einer von außerschulischen Fachkräften gestalteten Veranstaltung anwesend sein sollen, wird kontrovers diskutiert. Einerseits kann die Lehrperson das offene Sprechen und Agieren der Schülerinnen und Schüler hemmen, andererseits sollte sie Zeuge sein von alternativen Lernangeboten externer Fachkräfte, damit sie anschließend die diesbezügliche Weiterverarbeitung in der Lerngruppe fördern kann. Uneingeschränkt ist die kontinuierliche Zusammenarbeit mit außerschulischen Fachkräften zu pfl egen als - Ansprechpartner bei Beratungsbedarf seitens der Lehrerschaft (z.B. auch schon bei der Konzeptentwicklung zur schulischen Sexualerziehung) und seitens der Schülerschaft, - Partner bei der Gestaltung besonderer Angebote außerhalb des regulären Unterrichtsgeschehens (z.B. Projekttage/-woche, Besuch einer Frauenarztpraxis ), - Referenten und Diskussionspartner bei pädagogischen Tagen (schulinterne Lehrerfortbildung) und - evt. als Unterstützung bei Elternabenden. Außerschulische Beratungsangebote für Kinder und Jugendliche sind der Schülerschaft in jeweils aktueller Version und mit kurzer Charakterisierung per Aushang bekannt zu machen. Der Kontakt zu Einrichtungen bzw. Personen, die den kulturellen Hintergrund ausländischer Schüler und Schülerinnen bzw. von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gut kennen, ist besonders hilfreich und sollte seitens der Lehrerschaft gepfl egt werden. 20 8. Didaktische Fragen Das Thema Sexualität hat selbstverständlich viele Gemeinsamkeiten mit anderen Themen in jedem Fachunterricht, aber es gibt themenspezifi sche Besonderheiten , die hier angesprochen werden sollen. 8.1 Methoden Will man das Thema Sexualität in geplanten Unterrichtssequenzen angehen, sind auch Entscheidungen über angemessene und erfolgversprechende Methoden zu fällen. Dabei sind Methoden zu unterscheiden , die für das Sprechen über Sexualität oder für das Sprechen über die eigene Sexualität/ von der eigenen Sexualität geeignet sind. Diese Unterscheidung ist bei anderen Unterrichtsthemen wie z.B. in Geographie oder Mathematik nicht erforderlich. Die eigene Sexualität ist Gesprächsgegenstand in Selbsterfahrungsgruppen und Therapiesitzungen und evt. auch in themenbezogenen Gruppentreffen der außerschulischen Jugendarbeit. Hier wissen alle Beteiligten im Voraus, worauf sie sich einlassen, die Teilnahme ist freiwillig, und vom Gruppenleiter oder von der Gruppenleitern kann erwartet werden, dass er oder sie für das Vorhaben besonders qualifi ziert ist. Biografi sches Arbeiten (z.B. „Meine ersten Erfahrungen mit Selbstbefriedigung“ oder „Kennst du sexuelle Gewalt?“ „Welche Erinnerung hast du an den Körper deiner Mutter?“) oder gemeinsame körperliche Erlebnisse (z.B. durch Massageübungen oder Statuenarbeit) und ähnliche Methoden können starke Emotionen und gruppendynamische Prozesse auslösen, auf die eine Lehrperson in der Regel nicht professionell vorbereitet ist. Es gibt auch Jungen und Mädchen, denen solche Anregungen unangenehm sind, weil sie sich bei dem Gruppenleiter oder der Gruppenleiterin bzw. in der Gruppe nicht wohl fühlen . Es kann schließlich nicht ausgeschlossen werden , dass ein Lehrer oder eine Lehrerin erotische Eigeninteressen verfolgt oder dass Mitschüler indiskret mit Selbstbekenntnissen umgehen. Der Hinweis auf die Freiwilligkeit solcher Übungen führt keineswegs bei allen Kindern und Jugendlichen zu einer ehrlichen Reaktion. Zudem können Details aus dem häuslichen Umfeld zur Sprache kommen, die eigentlich zur Intimsphäre der Familie gehören und Außenstehende nichts angehen. Selbstverständlich sollen Jungen und Mädchen das, was im Unterricht angesprochen wird, auf sich selbst beziehen und auch Fragen stellen, die die Anwendung des Gehörten auf sich selbst, d.h. hier auf ihre eigene Sexualität und ihre Erfahrungen mit Sexualität ermöglichen. Diese Ich-Nähe kann aber im Rahmen des Schulunterrichts nicht methodisch „erzwungen“, sondern nur angeboten werden. Eine offene, vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zwischen Lehrkraft und Schülergruppe einerseits und bei den Jungen und Mädchen untereinander andererseits genügt oft schon, so ein freiwilliges sich Einbringen von einzelnen Schülern und Schülerinnen zu initiieren, wenn es sich vom Thema her ergibt. Grundsätzlich ist das bei allen Themen erwünscht, selbst wenn es eigentlich „nur“ um die Vermittlung von Sachwissen geht, wie z.B. beim Thema Geschlechtsorgane („Was ist normal?“) oder beim Thema Monatszyklus („Warum werden da manche Mädchen so launisch?“). Von der Frageform her erkennt man nicht, ob ein allgemeines Interesse oder ein persönliches Problem zugrunde liegt. Es ist wichtig, nicht darauf zu bestehen, dass Kinder oder Jugendliche das, was sie erzählen oder fragen, ggf. in der „Ich-Form“ tun. Sie dürfen sich durchaus hinter irgendeiner Person („Eine Freundin hat das Problem, …“ oder „Ich habe gehört, dass jemand…“) verstecken , um etwas Persönliches zu kaschieren. Bei der Reaktion achtet die Lehrperson dann darauf, dass diese auch in dem Fall pädagogisch angemessen ist, wenn der Junge oder das Mädchen selbst vom Sachverhalt betroffen ist. Kommt die Vermutung auf, dass der Beitrag Ausdruck eines ernsthaften persönlichen Problems ist, kann das Angebot eines Einzelgesprächs nach der Stunde oder zu einem anderen Zeitpunkt gemacht werden. Eine Möglichkeit im Sinne eines Angebotes, angesprochene Aspekte von Sexualität mit eigenen Erfah- 8. Didaktische Fragen 21 rungen und Einstellungen zu verknüpfen, sind Methoden , bei denen Schüler und Schülerinnen in die Rolle eines Stellvertreters oder einer Stellvertreterin schlüpfen und sozusagen an deren Stelle erzählen, interpretieren, argumentieren und entscheiden können : - die Auseinandersetzung mit vorgegebenen fi ktiven Geschichten von Gleichaltrigen mit einem bestimmte Problem (z.B. Sorge bezüglich Infektion mit einer Geschlechtskrankheit oder Angst vor sexuellen Übergriffen eines Onkels), - das Ausfüllen von Denk- oder Sprechblasen in comicartigen Abbildungen für Selbstgespräche oder zwischengeschlechtliche Kommunikation (z.B. zum Thema Attraktivität oder Verhütungsverhalten), - das Ausdenken des Weitergangs von Bilder-/Fotogeschichten (z.B. von einem Streit aus Eifersucht), - Podiumsdiskussionen von Schüler-„Experten“ (z.B. zum Thema sexuelle Attraktivität und Schönheitsoperationen ), - Rollenspiele (z.B. Verhandeln mit der Mutter über ein Camping-Wochenende mit dem Freund/der Freundin) u.a.m. Ob der Beitrag eines Jungen oder Mädchens tatsächlich in der Rolle einer fi ktiven Figur oder als „IchBotschaft “ geleistet wird, ist für den Unterricht nicht von Bedeutung. Die Beiträge der Schüler und Schülerinnen können jedenfalls offen und auch „hart“ diskutiert werden, da ja niemand persönlich angegriffen wird, sondern nur die fi ktiven Personen, in die sie sich hineinversetzt haben. Es bleibt den Lernenden überlassen , wie sie das Gehörte verarbeiten. Grundsätzlich sind alle Methoden, die das sachliche Sprechen über Sexualität und das Gespräch der Schüler und Schülerinnen untereinander fördern, rezeptivem Lernen vorzuziehen. Dennoch muss es Kindern und Jugendlichen zugestanden werden, dass sie über rein fachliche Antworten auf Fragen der Lehrperson hinaus weder mit ihr noch mit Mitschülern oder Mitschülerinnen über Sexuelles und über damit zusammenhängende Gefühle reden möchten. Außerhalb des Unterrichts kann man diesen Bereich ja auch der Intimsphäre zuordnen und die Kommunikation darüber einer Partnerschaft vorbehalten. Durch das Zuhören allein werden aber auch schon hilfreiche Sprachmuster und Argumentationen erlernt . Dieses Zugeständnis ist gerade in Klassen mit Kindern und Jugendlichen aus anderen Kultur kreisen wichtig. 8.2 Schülerbefragungen und Schülerfragen Es ist eine beliebte Methode, den sexualkundlichen Unterricht bzw. Aktivitäten zur Sexualerziehung einzuleiten mit einer Befragung von Kindern und Jugendlichen : „Was wollt Ihr wissen, was besprechen?“ Die Durchführung einer solchen Befragung ist anders zu bewerten als das tatsächliche Vorgehen danach im Unterricht. Die (anonyme) Befragung zeigt Schülern und Schülerinnen , dass man Ihre Interessen ernst nimmt und eröffnet der Lehrperson die Möglichkeit, ihre Schüler und Schülerinnen besser kennenzulernen. Von daher ist eine solche Befragung zu befürworten. Es wäre aber problematisch, wenn ein Lehrplan nach den Schülerantworten ausgerichtet würde. Sie müssen berücksichtigt werden, können aber nicht Grundlage eines Curriculums sein. Jugendzeitschriften, Talkshows , Spielfi lme, Nachrichten, zufällige Ereignisse im Schulbezirk, singuläre Erfahrungen im Elternhaus und anderes mehr bestimmen den aktuellen Fragehorizont von Jungen und Mädchen, spiegeln aber nicht unbedingt die Themen wieder, von denen der Erwachsene weiß, dass sie im Laufe des Lebens relevant sind. Hinzu kommt, dass sich manche Kinder nicht trauen, das, was sie wirklich interessiert, aufzuschreiben , oder nicht in Wort fassen können, während sich Einzelne durch besonders provokante Fragen hervortun, obgleich sie zu den Themen eigentlich keinen Bezug haben. Jungen und Mädchen, die bei der Befragung leere Zettel abgeben, machen besonders nachdenklich (siehe Anhang). Jedenfalls liegt es unabhängig von jedem Befragungsergebnis in der Verantwortung der Lehrperson zu entscheiden, welche Lernangebote für Kinder und Jugendliche aktuell oder in Zukunft wichtig sind. Da die Schüler und Schülerinnen untereinander nicht wissen, welche Fragen oder Themen auf den Zetteln genannt worden sind, kann die Lehrperson durchaus eine „Mischung“ von Planthemen und Wunschthe- 22 men vornehmen, die der Lerngruppe zeigt, dass man ihre Wünsche berücksichtigt, dass die Lehrperson – wie bei anderen Fachthemen auch – aber von sich aus weiß, wie sie einen kontinuierlichen Lernprozess zu fördern hat. Wenn z.B. Fünftklässler in einer solchen Befragungsaktion nach Einzelheiten zu sado-masochistischen Praktiken fragen, bringt ihnen bzw. der Klasse eine ausführliche Antwort wenig, so lange Basiswissen zum Thema Sexualität fehlt. Die Lehrperson kann kurz defi - nieren („Es gibt einige Menschen, die können Sexualität nur genießen, wenn sie dabei Schmerzen erleben oder anderen spielerisch weh tun dürfen. Das ist für die meisten Menschen schwer zu verstehen – aber das müsst Ihr ja auch noch nicht verstehen“) und das „Versprechen “ geben, dass alle Fragen, die auf den Zetteln gestellt wurden, im Laufe des Unterrichts zur Sexualerziehung beantwortet werden. Sie werde aber – ähnlich wie etwa im Geschichtsunterricht – schrittweise vorgehen, damit alle alles verstehen. Eine Hilfe kann hier ein seriöses Lexikon zum Thema Sexualität in der Klassenbücherei sein [16], in dem sich Schüler und Schülerinnen selbst informieren können. Ungünstig wäre es, wenn Schüler (ohne Begleitung) im Internet auf die Suche nach Antworten gehen würden. Schülerfragen sind im Unterricht zum jeweiligen Thema immer willkommen und sollten auch alle spontan oder – mit Hinweis darauf, dass sich die Lehrperson selbst erst informieren muss – in der Folgestunde beantwortet werden, wenn auch vielleicht wie bei dem Beispiel oben nur kurz. Ein „Kummerkasten “, in den Schüler und Schülerinnen anonym Fragen zum Thema Sexualität stellen oder vielleicht auch Kritik am Unterrichtsgeschehen äußern können , sollte in jeder Klasse hängen. Selbstverständlich gibt es in Ausnahmefällen „unechte“ Fragen, die eigentlich nur die Lehrperson in Verlegenheit bringen sollen und zu denen gar keine ernsthafte Antwort erwartet wird (z.B. „Stimmt es, dass es in Afrika einen Mann mit einem 50 cm langen Penis gibt?“). Mitunter sind „unsinnig“ erscheinende Fragen aber auch Signal für ein Missverständnis oder ein persönliches Problem wie z.B.: „Kann man sich bei der Selbstbefriedigung mit HIV infi zieren?“ Bei dem Jungen , der die Frage stellt, ist die vielfach verbreitete Botschaft, dass man sich an Samenfl üssigkeit anstecken kann, falsch verstanden worden, weil der Zusatz fehlte (… an der Samenfl üssigkeit) „eines HIVInfi zierten“. Hinter der Frage steht „schiere Angst“ vor Selbstbefriedigung. Manchmal fragen Kinder und Jugendliche die Lehrperson im Zusammenhang mit einem angesprochenen Thema nach persönlichen Erfahrungen: „Kommen Sie mit Kondomen zurecht?“ oder „Helfen Sie Ihrer Frau bei der Hausarbeit?“ oder „Hatten Sie auch so Bauchschmerzen bei der Periode, als Sie in unserem Alter waren?“ sind solche Fragen, auf die eine ehrliche Antwort für Schüler und Schülerinnen nützlich sein kann. Mitunter kann es auch angebracht sein zu sagen: „Das ist meine Privatsache. Die möchte ich für mich behalten. Ich frage euch ja auch nicht nach so privaten Dingen. Aber wir können über das Thema sprechen.“ So eine Antwort kann sinnvoll sein, wenn die Lehrerin z.B. gefragt wird, ob sie selbst schon einmal „abgetrieben“ hat oder eine Lehrerin oder ein Lehrer gefragt wird, ob sie oder er Gruppensex mag. Die meisten Kinder und Jugendlichen haben in der Regel kein wirkliches Interesse an der Biografi e oder den Gepfl ogenheiten einer Lehrperson, sie wollen aber bestimmte Themen besprechen. Das Offenlegen des eigenen Sexuallebens kann die Lehrperson sowohl bei Schülern und Schülerinnen als auch bei Eltern Respekt und Sympathien kosten, was sich dann in Problemen ganz anderer Art (z.B. bei der Bewertung von Mathematikarbeiten) äußern kann. Dass sich diesbezügliche Maßstäbe ändern, sieht man daran, dass heute – im Gegensatz zu früheren Generationen – ohne Bedenken eine Lehrerin von ihrem „unehelichen“ Kind erzählen oder ein Lehrer bzw. eine Lehrerin offen zu einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft stehen kann. 8. 3 Medien und Sprache Die Bezugnahme auf den eigenen Körper und eigenes Verhalten ist im Unterricht beim Thema Sexualität – anders als etwa beim Thema Bewegung – nur eingeschränkt möglich. Unterricht zur Sexualerziehung ist auf mediale Vermittlung angewiesen. Dabei spielt die Sprache eine besondere Rolle. 8. Didaktische Fragen 23 8.3.1 Medien Grundsätzlich gilt für Medien: - Sie müssen sachlich korrekt sein. - Sie müssen altersgerecht gestaltet sein. - Sie müssen dem Toleranzgebot und dem Indoktrinationsverbot schulischer Sexualerziehung genügen. - Sie müssen Bezug zu den Zielen von Sexualerziehung in der Schule haben. - Mit Rücksicht auf den Problemkomplex „Kinderpornografi e“ sind gezeichnete Darstellungen unbekleideter kindlicher Körper Fotografi en vorzuziehen . - Sie sollen ästhetisch zu den positiven Zielsetzungen schulischer Sexualerziehung passen. - Sie sollen keine überfl üssigen oder überzogen abschreckenden Eindrücke vermitteln (z.B. zur Geburt aus Sicht des Geburtshelfers, Symptome von sexuell übertragbaren Krankheiten an den Geschlechtsorganen ) - Sie dürfen keine pornografi schen Merkmale in Wort und Bild aufweisen – außer in einem begrenzten Maße für die unterrichtliche Behandlung solcher Merkmale. Medien, die über die eingeführten Schulmaterialien hinausgehen, sind oft sehr motivierend (z.B. Text oder Fotostory aus einer Jugendzeitschrift oder Reklamebilder und Werbespots bzw. auch Ausschnitte aus Spielfi lmen oder Talk-Shows), weil sie aktueller und attraktiver gestaltet sind. Wenn diese Medien im Sinne des Jugendschutzes altersgerecht und im Sinne des Lehrplans Sexualerziehung zielorientiert sind, ist gegen die Verwendung im Unterricht nichts einzuwenden. Man sollte darüber auch auf dem Elternabend informieren. Hier einige Anmerkungen zu ausgewählten Medien. Für die sexualkundliche „Aufklärung“ gibt es seit vielen Jahren reliefartige Modelle zu den Geschlechtsorganen im Fachhandel, die problemlos in allen Klassenstufen eingesetzt werden können, um als Vermittler zwischen der dreidimensionalen körperlichen Realität und den im Unterricht üblichen Schemazeichnungen zu dienen. Diese „klassischen“ Modelle haben jedoch Nachteile, die im Unterricht ausgeglichen werden müssen: Das Modell des männlichen Beckens ist ziemlich komplex und bedarf eingehender Erklärungen und Vereinfachungen. Das Modell des weiblichen Beckens ist übersichtlich, berücksichtigt aber nicht die aktuellen Erkenntnisse bezüglich Bau der Klitoris und der weiblichen Schwellkörper und Prostata. Dazu gibt es ein neues, dreidimensionales Modell, das die tatsächlichen Verhältnisse besser darstellt, aber kein Ersatz für das alte Modell ist. Der kombinierte Einsatz beider Modelle wäre optimal. Es gibt auch gute plastische Modellreihen zum Thema Embryonalentwicklung, Schwangerschaft und Geburt [17]. Bei Kindern in der Grundschule können Baby-Puppen mit Geschlechtsorganen als Veranschaulichung eingesetzt werden. Bei Filmen zur Sexualaufklärung in der Grundschule sollte man darauf achten, dass sie keine Fehlvorstellungen wecken wie z.B. der sympathische , aber sachlich in vielen Details fragwürdige Zeichentrickfi lm „Wo komm’ ich eigentlich her?“ Es ist u.a. nicht in Ordnung, Kindern für den äußeren sichtbaren Geschlechtsbereich der Frau den Begriff Scheide nahezubringen oder den Samenerguss in der Scheide wie einen reißenden Fluss darzustellen. Hier wäre eine einfache Aufklärung über Geschlechtsorgane und Geschlechtsverkehr sinnvoll, bevor man den Film einsetzt. Bei den Filmangeboten für die weiterführenden Schulen ist zu unterscheiden zwischen Filmen, die - vor allem zum Nachdenken und zum Gespräch anregen sollen (wie z.B. Fernseh- und Kinospots der BZgA zum Thema AIDS oder der Film „Meinst du mich?“ aus der Serie „Der Liebe auf der Spur“), - vor allem als Informationsquelle genutzt werden können (wie z.B. FWU-Filme zum Thema Sexualität und Fortpfl anzung), - eine Kombination von beidem darstellen. Zur letzteren Kategorie gehört z.B. der Film „Sex – eine Gebrauchsanweisung für Jugendliche“ (ab 14 Jahre), ein etwas älterer Zeichentrickfi lm, der bei den meisten Medienzentren in Hessen auszuleihen ist und der bei Jugendlichen wegen der informativen, 8. Didaktische Fragen 24 deutlichen und humorvollen Darstellung jugendtypischer Probleme gut ankommt. Er passt von den Zielsetzungen her uneingeschränkt zu schulischer Sexualerziehung. Lediglich eine Szene ist kritisch zu kommentieren: Mädchen werden ermutigt, das Jungfernhäutchen selbst zu zerstören. Das ist eine Botschaft, die bei konservativen Jugendlichen (und auch Eltern) schlecht ankommt. Im Verhältnis zu den sonstigen Informationen und Anregungen spielt diese Szene eine untergeordnete Rolle und kann leicht im anschließenden Gespräch relativiert werden . Der Film bietet zahlreiche Gesprächsansätze. Ein neuer Film der BZgA zum Thema „Sexuell übertragbare Krankheiten einschl. HIV/AIDS“ (Spielfi lmtitel : „Was ich will!!“) passt ebenfalls zu dieser Kategorie , weil Sachinformationen einerseits integriert sind in eine Spielhandlung, die zu Diskussionen anregt, andererseits durch Trickfi lme mit Sach informationen (und durch Schülermaterial) ergänzt werden. 8.3.2 Internet Das Recherchieren im Internet ist heute eine nahezu selbstverständliche Ergänzung des üblichen Unterrichts . Eine einfache Anweisung: „Recherchiert dazu im Internet“ ist jedoch bei Kindern und Jugendlichen problematisch; darauf wurde bereits an anderer Stelle hingewiesen. Zu unterscheiden ist die freie Nutzung des gesamten Internets und die Nutzung von Internetadressen, die eigens für Kinder und Jugendliche konzipiert sind wie z.B. die unter seitenstark.de aufzurufenden. Diese Seiten können unbedenklich empfohlen werden. Bei den allgemein zugänglichen Internetseiten macht es für den Unterricht einen Unterschied, ob es ein in sich (weitgehend) geschlossenes Angebot ist (wie z.B. die Seiten der BZgA), bei dem es keine Links gibt, die „ins Ungewisse“ führen, oder um Seiten, die durch Links den direkten Zugang zu anderen Anbietern ermöglichen (wie z.B. wikipedia.de oder netdoktor.de). Hierzu gehören im Prinzip auch Internetadressen, die sich zwar an Jugendliche wenden, wie z.B. die Beratungsseite sexundso.de von pro familia LV Niedersachsen , die aber u.a. über den Link „Alles über Pille & Co“ auf Seiten eines Pharmakonzerns führt. Hier werden wiederum Links angeboten, die schwerpunktmäßig die Produkte dieser Firma darstellen, und Links zu verschiedenen Zeitschriften, wie BRAVO und fi t for fun. Diese sind geeignet, das Interesse der Schüler und Schülerinnen nachdrücklich auf andere als die Unterrichtsthemen zu lenken. Selbst Seiten, die sich auf das Angebot von Unterrichtsmaterialien spezialisiert haben, können Schwierigkeiten bereiten , wenn sie zur inhaltlichen Ergänzung auf andere Internetseiten verweisen, die dann wiederum „im Ungewissen “ enden. Beispielhaft sei hier eine Seite aus dem lernarchiv.bildung.hessen erwähnt, die gut gemachtes Material zur Sexualaufklärung für Grundschüler anbietet und den Kindern dann u.a. einen Link vorgibt, der zu einer Kinderschutzeinrichtung führt, die sich mit Verlinkungen bei ihren Sponsoren bedankt. Zu denen gehört auch eine Autozeitschrift. Wenn man diese Zeitung anklickt, kommt man zum gesamten Zeitschriftenangebot des Verlages, zu dem u.a. eine Zeitschrift gehört, die aktuelle Sex-Tipps bietet, so unter anderem „Tipps für den perfekten Blowjob“ oder „Real Dolls“. Ein ähnliches Problem fi ndet sich bei lehrer-online. Hier wird bei einer Unterrichtseinheit zum Thema Homosexualität die Verlinkung zu einer Kontaktbörse für junge Schwule (ab 14 Jahre) als Teil des Unterrichtsgeschehens vorgegeben . Ein besonderes Problem entsteht dann, wenn sich Kinder und Jugendliche bei Internet-Angeboten „einloggen“ sollen und sich damit zum Adressaten für Firmen und Interessengruppen machen. Die hier genannten Beispiele sollen lediglich zeigen, wie konsequent man die Nutzung von frei zu wählenden Internetseiten,insbesondere zum Thema Sexualität im Unterricht beobachten muss bzw. wie gründlich man Adressen unmittelbar vor der Nutzung im Unterricht prüfen muss: Sind sie den Zielen dienlich oder verführen sie Kinder und Jugendliche dazu, ihre Zeit zu verschwenden? Die Beispiele hier können bei Veröffentlichung der Handreichung bereits nicht mehr aktuell sein – wie das bei vielen Internetseiten eben so ist. 8.3.3 Sprache Wörter sind wie Kleider. Sie kleiden Gedanken ein. Das kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen . Die einfache Unterscheidung nach Fachsprache und Umgangssprache, die bei den meisten anderen Themen genügt, spiegelt die Vielfalt der Sprachebenen beim Thema Sexualität nicht wieder. 8. Didaktische Fragen 25 Es gibt - eine Fachsprache, die korrekt und ohne emotionale Nebeneffekte, aber für die meisten Menschen unanschaulich Sachverhalte benennt (z.B. Vulva, Koitus, Masturbation); meist lateinischen Ursprungs ; - die Umgangssprache (gehobene und einfache), die der Fachsprache ähnelt, sie aber durch deutsche Begriffe verständlicher macht (Spalte, Geschlechtsverkehr , Selbstbefriedigung); - die Kindersprache, die anschaulich und verniedlichend ist (Pfl aume, Liebe machen, Ribbeln...), aber nicht alle Sachverhalte abdeckt; - eine Vulgärsprache, die zwar anschaulich, aber unklarer und mitunter aggressiv und vom Ursprung her oft diskriminierend ist (Fotze, Ficken, Wichsen ); - eine Sprache der intimen Kommunikation, individuelle Mischung aus Umgangs-, Kinder- und Vulgärsprache (Muschi, Schaukeln, den Spatz zwitschern lassen); - Dialekte mit Benennungen und Sprachmustern, die nur regional üblich und verständlich sind. In der Schule ist die Ebene der gehobenen (evt. auch einfachen) Umgangssprache zu pfl egen. Ausgewählte lateinische Fachausdrücke können als Synonyme evtl. im Gymnasium angeboten werden, zum Teil aber auch in Haupt- und Realschule, damit Schüler und Schülerinnen das Gemeinte wiedererkennen, wenn sie darüber etwas hören oder lesen (u.a. Vagina , Uterus, Spermien). Ausdrücke der Kindersprache sind in der Grundschule aufzugreifen, wenn sie von Kindern eingebracht werden und in die Umgangssprache zu überführen . Auch Vulgärausdrücke, die von Schülern oder Schülerinnen spontan im Unterricht benutzt werden, sind – wenn sie nicht nur provokativ verwendet werden – nicht „falsch“ und initial ebenfalls zu akzeptieren, dann aber auch in die Umgangssprache zu überführen. Problematisch ist es, wenn der Eindruck entsteht, man lasse Wörter der Vulgärsprache nicht nur vorübergehend gelten, sondern fördere oder verfestige ihren Gebrauch (z.B. durch Aufschreiben ). Wenn Schüler und Schülerinnen den Vergleich von Sprache und Kleidern verstanden haben, dann akzeptieren sie auch, dass Sprache zur jeweiligen Situation und vor allem zum Gesprächspartner passen muss. So wie unangemessene Kleidung Menschen im Umfeld irritieren, ärgern oder sogar abstoßen können, so kann das auch durch unangemessene Wortwahl geschehen. Ein Junge, der dauernd Vulgärausdrücke zum Thema Sexualität verwendet, gerät bei Mädchen leicht in den Verdacht, genau so grob auch über sie zu denken und sie entsprechend zu behandeln – das macht Angst und kostet Sympathien ! Unterricht vermittelt die Sprache, die Jungen und Mädchen problemlos in jeder Situation einsetzen können und überregional verständlich ist. Wenn sie noch eine andere Sprachebene kennen, so haben sie je nach Situation die Wahl, welche sie nutzen. Der Übergang zwischen den Sprachebenen ist zum Teil fl ießend. So werden z.B. Begriffe der Fachsprache im Laufe der Zeit Bestandteil der gehobenen Umgangssprache (Vagina, Klitoris, Prostata) und Ausdrücke aus der Vulgärsprache zum Bestandteil der einfachen Umgangssprache. Vulgärausdrücke verlieren dabei ihr negatives Image. So ist es mit dem Adjektiv „geil“ gegangen, und durch die fortschreitende Pornografi sierung der Sprache (bei Jugendlichen vor allem durch deutsche Gangsta-Rapper-Songs gefördert), könnten auch Wörter wie „Fotze“ oder „Bitch“ bald zum sprachlichen Alltag gehören, ohne dass sich zumindest in der jungen Generation noch jemand provoziert fühlt. Dennoch sollte man über diese Entwicklung und mögliche handlungsrelevante Konsequenzen für das Verhältnis der Geschlechter zueinander mit den Schülern nachdenken. Ginge es „nur“ um eine jugendtypische Umbenennung könnte man das Wort „Bitch“ für ein Mädchen gelassen hinnehmen. Vergegenwärtigt man sich aber, welche Bedeutung das Wort im Englischen hat (Hündin, Schlampe) und welches Frauenbild ursprünglich und bis heute mit diesem Ausdruck in der Pornografi e und in der Rapper-Szene transportiert wird, dann ist derzeit ein deutliches Gegensteuern in der Sexualerziehung angesagt. 8.3.4 Wortwahl Dass nicht nur die Sprachebene, sondern auch einzelne Begriffe in der Sexualerziehung mit Bedacht gewählt werden müssen, zeigen folgende Beispiele : 8. Didaktische Fragen 26 Geschlechtsspezifi sch/geschlechtstypisch: Geschlechtsspezifi sch sind nur Merkmale und Verhaltensweisen , die ausschließlich bei einem Geschlecht vorkommen (z.B. Hoden, Eierstöcke, Zeugen und Gebären). Merkmale und Verhaltensweisen, die grundsätzlich bei beiden Geschlechtern vorkommen, aber unterschiedlich häufi g, sind geschlechtstypisch (z.B. stärkere Körperbehaarung oder bessere räumliche Orientierung bei Jungen, breiteres Becken oder größerer Sprachschatz bei Mädchen). Unbedachtes Verwenden des Adjektivs geschlechtsspezifi sch lässt die Geschlechterdifferenz größer erscheinen als sie in Wirklichkeit ist [14]. Normal: Dieses Adjektiv hat eine doppelte Bedeutung. Zum einen meint es, dass eine Erscheinung statistisch dem Durchschnitt oder der Mehrheit entspricht wie z.B. in der Aussage „Nebeltage im November sind normal, denn davon gibt es im November immer viele. Wenn es mal nicht nebelig ist, ist das aber auch normal und deshalb „belanglos“ oder “Dass heute Jugendliche Tattoos haben, ist normal; denn das haben viele.“ Zum anderen meint das Merkmal „normal“, dass eine Erscheinung einer vorgegebenen Norm (einem SollWert ) entspricht wie z.B. in der Aussage „Ein Blutdruck von 140 zu 80 ist für Ihr Alter normal, wenn er davon abweicht, müssen wir etwas dagegen tun.“ oder „ Es wäre normal, wenn du dich dafür entschuldigen würdest. Wenn du das nicht tust, ist das nicht o.k.“ Nur der Kontext gibt dem Adjektiv „normal“ im Einzelfall seine Bedeutung. Das zwingt dazu, dieses Adjektiv im Zusammenhang mit Sexualität mit Bedacht zu verwenden: Die Aussage „Es ist normal, dass die äußeren Schamlippen größer sind als die inneren “ kann richtig verstanden werden im Sinne von „meistens“ (in vielen Fällen sind sie auch kleiner, beides ist in Ordnung). Die Variationsbreite in der „normalen“ anatomischen und physiologischen Ausstattung des männlichen und weiblichen Körpers ist grundsätzlich sehr groß, ohne dass dadurch Funktionstüchtigkeit oder Attraktivität beeinträchtigt werden ! Der beschriebene Sachverhalt kann aber genau so gut missverstanden werden als „anormale“ Abweichung von einem „gesunden“ Zustand. Dadurch werden „große“ innere Schamlippen als Differenz zu einem „Soll-Wert“ gedeutet. Betroffene Mädchen können darunter sehr leiden bis hin zu der Entscheidung , sich operativ korrigieren zu lassen. Analog verhält es sich beim Thema „sexuelle Orientierung “: Dass die meisten Menschen heterosexuell empfi nden und handeln, ist unstrittig, und in diesem Sinne auch „normal“. Genauso „normal“ ist es aber auch, dass ein Teil der Menschen homosexuell ist und deshalb nicht als Abweichung von einem SollWert zu interpretieren ist. Auch Linkshändigkeit ist zwar seltener als Rechtshändigkeit, ist aber auch keine „pathologische“ Abweichung von einer Nom. Wegen der langen Tradition, Heterosexualität als „gesund“, „natürlich“ und „gottgewollt“ darzustellen und Homosexualität konsequenterweise als „anormal “, „krankhaft“, „unnatürlich“ und „sündig“, ist in diesem Kontext das Adjektiv „normal“ noch unangebrachter als im anatomisch-physiologischen Bereich und belastet oder kränkt unnötigerweise einen Teil der Jungen und Mädchen. Schließlich muss man sich bei allen Aussagen, die man im Unterricht macht, vergegenwärtigen, dass man nicht „nur“ über eine betroffene Gruppe von Menschen spricht, sondern (sehr wahrscheinlich) immer auch mit (!) einigen von ihnen, ohne dass die Lehrperson das merkt. Am besten ist es deshalb, man vermeidet das Adjektiv „normal “ gänzlich in der Sexualerziehung. Auf der Ebene der Benennungen gibt es einiges zu bedenken. Hier stichwortartig Anmerkungen dazu: Empfängnisregelung (nicht „Verhütung“): Auch wenn die meisten Mittel und Methoden dazu dienen, aktuell eine Schwangerschaft zu verhindern, sind sie letztendlich Mittel und Methoden der Empfängnisregelung , nämlich Möglichkeiten, den Zeitpunkt von Vater- und Mutterschaft selbst festzulegen . Schwangerschaftsabbruch (nicht: „Abtreibung“ oder „Schwangerschaftsunterbrechung“): Schwangerschaftsabbruch hat den früher gebräuchlichen Begriff Abtreibung offi ziell (auch im Gesetzestext zu § 218) abgelöst. Schwangerschaftsunterbrechung ist falsch, weil eine Schwangerschaft nicht unterbrochen (und fortgesetzt), sondern nur abgebrochen werden kann. Ausscheidungsorgane für Darm und After (nicht: „Geschlechtsorgane“, wie in einzelnen Veröffentlichungen zur Sexualkunde inzwischen üblich): 8. Didaktische Fragen 27 Auch wenn – ähnlich wie der Mund – After und Darm vielfach bei sexuellen Handlungen einbezogen werden , ist es nicht korrekt, sie als Geschlechtsorgane zu bezeichnen. Im Gegensatz zu den anderen Geschlechtsorganen dienen sie vielen Menschen nicht als Sexualorgane, sondern ausschließlich als Ausscheidungsorgane . Vulva oder Spalte (nicht: „Scheide“ für den äußeren Schambereich bzw. den sichtbaren Teil der Schamlippen , die eine Spalte bilden): Die Scheide ist ein inneres Organ und darf nicht mit dem äußeren Schambereich der Frau gleichgesetzt werden. Aussagen zu Petting und Geschlechts verkehr und zu Hygienemaßnahmen werden sonst falsch bzw. missverständlich. Vulva ist umfassender als Spalte , da alles, was äußerlich sichtbar ist, erfasst wird. Ein deutscher Begriff dafür fehlt. Klitoris (nicht: „Kitzler“ für das dem Penis homologe Organ der Frau): Die „funktionale“ Benennung Kitzler bringt Mädchen in unnötige Verlegenheit. Über Klitoris lässt sich einfacher reden. Äußere und innere Schamlippe (nicht große und kleine Schamlippe): Auch wenn dies nicht der exakten Übersetzung der Fachausdrücke entspricht (Labium majus bzw. minus pudendi), passen die Adjektive, die nur die Lage, nicht die Größe der Schamlippen benennt, mehr zur anatomischen Realität bei vielen Mädchen und Frauen. Bläschendrüse (nicht: „Samenblase“ für Vesicula seminalis ): Samenblase ist zwar die korrekte Übersetzung für den Fachausdruck, aber er verführt zu der irrigen Annahme , sie habe etwas mit der Samenfl üssigkeit (z.B. Speicherfunktion) zu tun. 8.4 Lern- und Leistungskontrollen Der Lehrplan Sexualerziehung sagt nichts aus über Leistungskontrollen in diesem Themenbereich. Es spricht aber nichts dagegen, den Erwerb von Faktenwissen genauso zu überprüfen wie bei anderen Themen (Bau- und Funktion der Geschlechtsorgane, Pubertät, Schwangerschaft und Geburt, Empfängnisregelung , sexuell übertragbare Krankheiten, Besuch eines Frauenarztes, medizinisch assistierte Empfängnis , Gesetzeslage, Beratungs- und Hilfsangebote für schwangere Mädchen und Frauen, historische Aspekte von Geschlechterrollen, Gleichberechtigung und sexueller Selbstbestimmung, Familienformen u. a.m.). Zurückhaltung ist geboten bei Aufgaben, die persönliche Einstellungen berühren. Diese dürfen nicht „zensiert“ werden. Da es aber durchaus sinnvoll ist zu prüfen, ob Schüler und Schülerinnen Argumente bei kontrovers diskutierten Sachverhalten verstanden und refl ektiert haben, sind Aufgaben in einer Leistungskontrolle möglich wie: „Welche Argumente werden von Menschen vorgebracht, die sich für ein Pornografi everbot für Jugendliche einsetzen?“ oder „Nenne mindestens drei sachliche Argumente, die von Befürwortern sexueller Enthaltsamkeit im Jugendalter vorgebracht werden und formuliere dazu Gegenargumente.“ oder „Leihmutterschaft ist in Deutschland verboten, aber es gibt auch Befürworter – welche Argumente hat die eine, welche die andere Seite?“ oder „Nenne zwei unterschiedliche Argumente, die aus Sicht eines Jungen/eines Mannes für die Verwendung von Kondomen sprechen“ oder „Welche sachlichen Argumente sprechen für die rezeptfreie Abgabe der ‚Pille danach’ an Jugendliche , welche dagegen?“ Bei diesen Aufgaben kann sowohl Sachkenntnis als auch die Fähigkeit zur Bewertung aus unterschiedlicher Perspektive nachgewiesen und überprüft werden. Die eigene Einstellung braucht nicht offen gelegt zu werden. 8.5 Differenzierungen 8.5.1 Koedukativ oder getrenntgeschlechtlich? Grundsätzlich werden Jungen und Mädchen an öffentlichen Schulen in Deutschland koedukativ unterrichtet . Das gilt auch für den Sexualkundeunterricht und andere Maßnahmen zu Sexualerziehung. Dennoch: Jungen und Mädchen reagieren oft schon in der Grundschule auf bestimmte Themen oder auch Arbeitsformen unterschiedlich. So scheitert ein gemischtgeschlechtliches Kreisgespräch nicht selten 8. Didaktische Fragen 28 an den Albernheiten von Jungen, die vor lauter Aufgeregtheit beim Stichwort Sexualität nicht mehr still sitzen können, während sich die Mädchen ernsthaft auf das Gespräch einlassen wollen. Auf der anderen Seite verstummen Mädchen in der Pubertät mitunter im Beisein der Jungen aus Angst gehänselt oder provoziert zu werden. Geradezu beklommen wird die Situation in Gruppen mit Schülern und Schülerinnen aus Kulturkreisen, in denen das Thema Sexualität zwischen den Geschlechtern tabuisiert ist und Jungen und Mädchen grundsätzlich unterschiedliche Rollen spielen (sollen). Darüber hinaus gibt es Themen, zu denen Mädchen „unter sich“ und Jungen „unter sich“ ins Gespräch kommen wollen (z.B. beim Thema Intimhygiene oder Selbstbefriedigung oder Gewalterfahrung). Man sollte daraus die Konsequenz ziehen und Mädchen und Jungen zumindest punktuell geschlechtshomogene Gruppengespräche anbieten . Das ist organisatorisch am ehesten in Eckstunden oder im Nachmittagsunterricht möglich. An Projekttagen oder in Projektwochen ist darüber hinaus eine jahrgangsübergreifende Zusammenstellung von Mädchen- oder Jungengruppen möglich, in denen die Entwicklungsunterschiede nicht so groß wie in den Stammgruppe sind. Vorzugsweise sollte für Jungen ein männlicher Pädagoge, für Mädchen eine Pädagogin zu Verfügung stehen. Aus Mangel an männlichen pädagogischen Fachkräften innerhalb und außerhalb der Schule ist diese Bedingungen oft nicht zu erfüllen. Das darf aber nicht dazu führen, dass die „Jungenstunde“ ausfällt. Hier müsste eine Lehrerin/Pädagogin einspringen, die Verständnis für die Situation (pubertierender) Jungen aufbringt. Der ausschließlich „weibliche Blick“ auf männliches Verhalten , den Jungen von klein auf an durch die Dominanz von Frauen im pädagogischen Bereich gewöhnt sind, führt zu einer gewissen Benachteiligung von Jungen, die sich ungünstig auf das Geschlechterverhältnis auswirken kann. Optimal ist es, wenn Jungen und Mädchen über ein Thema, das sie zuerst einmal „unter sich“ klären konnten , schließlich gemeinsam sprechen. 8.5.2 Kultursensibel und integrativ Wegen der Probleme, die manche Eltern aus anderen Kulturkreisen mit dem Thema Sexualität an deutschen Schulen bzw. überhaupt in der deutschen Gesellschaft haben, wird immer wieder versucht, Kinder und Jugendliche aus diesem Unterricht fernzuhalten. Der Lehrplan Sexualerziehung bezieht dazu ausdrücklich Stellung: „Der Unterricht zur Sexualerziehung ist für alle Mädchen und Jungen verbindlich und nicht an die Zustimmung der Eltern oder bei älteren Schülerinnen und Schülern an deren Zustimmung gebunden. Dies gilt auch für Kinder anderer Kulturkreise.“ Es wäre eine gravierende Behinderung der Integrationsbemühungen, wenn sich Kinder mit Migrationshintergrund der Auseinandersetzung mit Sexualität in ihrem neuen Heimatland entziehen würden . Für ihren persönlichen Umgang mit Sexualität gilt das gleiche wie für alle anderen Kinder und Jugendliche: Das Elternhaus kann seinen Einfl uss von klein auf geltend machen. Lehrer und Lehrerinnen berichten von Protesthaltungen solcher Schüler und Schülerinnen, die sich zur Teilnahme gezwungen fühlen. Das ist eine sehr ungünstige Ausgangssituation für alle Beteiligten, insbesondere auch weil die anderen Schüler und Schülerinnen keine Chance zu einer entspannten Lernatmosphäre bekommen. Hilfreich in so einer Situation ist die Unterstützung durch ein kundiges Elternteil, eine pädagogische Fachkraft von außerhalb oder auch durch ältere Schüler und Schülerinnen des gleichen Kulturkreises. In einer kleineren Gruppe kann gesprächsweise geklärt werden, welche Maßnahmen im Unterricht besonders aversiv aus Sicht der Schüler und Schülerinnen sind (z.B. Zeigen von Nacktfotos). Vielleicht wird die Situation schon allein dadurch entspannter , dass betroffenen Schülern und Schülerinnen keine aktive Teilnahme am Unterrichtsgeschehen (z.B. an Podiumsdiskussionen oder Rollenspielen) abverlangt wird. Die Lehrperson begründet die Notwendigkeit von sexueller Aufklärung vor allem mit Hinweis auf die Gesunderhaltung und wirbt für gegenseitigen Respekt. Dass kulturell bedingte Gepfl ogenheiten, die nicht mit deutschen Gesetzen vereinbar sind, im Unterricht entsprechend bewertet werden müssen, wird klar gestellt. Oft kann durch eine solche spezielle pädagogische Maßnahme der Widerstand deutlich reduziert werden. Das gilt sinngemäß auch für Schüler und Schülerinnen aus deutschen Elternhäusern mit besonderen religiösen Überzeugungen. Wenn Kinder zu Hause Konfl ikte befürchten wegen der Unterlagen, die sie in der Schule zur Sexualerziehung erhalten, sollten sie diese – auf eigenen Wunsch – in der Schule liegen lassen dürfen. Die Vorbereitung auf eine Leistungskontrolle auf der Basis dieser Unterlagen müsste dann auch in der Schule erfolgen. 29 9. Curriculum Sexualität 9.1 Wann ist der richtige Zeitpunkt für welches Thema? Es ist lange her, dass man glaubte sicher zu wissen, wann welches Thema der Sexualkunde /-erziehung für Kinder und Jugendliche „passend“ ist. Man konnte sich an der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen orientieren, deren Pubertät deutlich später begann als heute, denen keine frühzeitigen sexuellen Aktivitäten und keine sexuelle Selbstbestimmung zugestanden wurden und die in der Regel keinen realen oder medialen Zugang zur Erwachsenensexualität hatten. Nach wie vor stimmt es, dass Jungen und Mädchen nicht in jedem Alter gleich offen und interessiert an Fragen zur Sexualerziehung sind, da sie auf Grund ihrer körperlichen Veränderungen von der Kindheit über die Pubertät zum jungen Erwachsenen unterschiedlich sensibel für bestimmte Themen sind. So interessieren sich Erstklässler zwar für das Thema Geschlechtsverkehr , weil sie wissen wollen, wie Kinder entstehen, aber nicht für Orgasmusschwierigkeiten. Solange sie selbst keine Erfahrung mit den starken sexuellen Bedürfnissen ab der Pubertät gemacht haben , können sie viele Aspekte von Sexualität nicht nachvollziehen, und die Lehrkraft würde sie überfordern , wenn sie über die Sachinformationen hinaus Details aus der „Erwachsenensexualität“ ansprechen würde. Durch die Präsenz von Sexualität in der Öffentlichkeit und in den Medien hat sich aber vieles verändert. So sehen sich bereits Erzieher und Erzieherinnen im Kindergarten mit dem Problem konfrontiert, dass Kinder nicht mehr nur ihre harmlos-neugierigen „Doktorspiele “ praktizieren, sondern bis hin zu „Vergewaltigungen “ oder „Fesselspielen“ alles mögliche imitieren , was sie „irgendwo“ gesehen haben. „Sexuell übergriffi ge“ Kinder sind symptomatisch für diese Entwicklung [15]. Darüber muss gesprochen werden. In der Grundschule kennen Kinder durch die Medien bzw. sogar durch häuslichen Pornokonsum schon viele spezielle Erscheinungsformen menschlicher Sexualität, ehe sie begriffen haben, welche Bedeutung ihre eigene Sexualität überhaupt hat. Sie wollen , dass man mit ihnen über das Gesehene und Gehörte – kindgerecht! – redet, damit sie es einordnen können. Kinder, die – aus welchen Gründen auch immer – schon mit 13 Jahren Geschlechtsverkehr haben, können mit Aufklärung über Empfängnis- und Infektionsschutz und Beratungsangebote in der 8. Klasse nur noch wenig anfangen – sie brauchen die se Informationen früher. Das macht die curriculare Planung von Sexualerziehung so schwierig. Es kann sein, dass einzelne Themen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung mehrmals im Unterricht angesprochen werden müssen, zum einen um dem aktuellen, vielleicht sehr frühen Informationsbedürfnis von Jungen und Mädchen gerecht zu werden und zum anderen, um ihnen zu einem späteren Zeitpunkt in einem Curriculum ein systematisch aufgebautes Lernangebot zu machen. So ist bereits bei Grundschulkindern im Gespräch über den Zusammenhang von Geschlechtsverkehr und Zeugung die Information angebracht, dass es notwendig und (durch die „Pille“ oder durch Kondome ) möglich ist, eine Zeugung zu vermeiden, wenn man zwar Geschlechtsverkehr, aber noch kein Baby haben möchte. Eine fachlich umfassende Information zu Methoden und Mitteln der Empfängnisregelung gibt aber erst ab der 6. Klasse Sinn, wenn Bau und Funktionen der Geschlechtsorgane besprochen und hormonelle Vorgänge beim Monatszyklus zumindest so weit verstanden sind, dass die Wirkungsweise und die Anwendung der „Pille“ einsichtig wird. Ein vertieftes Verständnis für hormonelle Verhütung kann erst bei einem dritten Durchgang geweckt werden , wenn in der 9. Klasse Einzelheiten hormoneller Regelungen unterrichtlich behandelt werden. Ein weiteres Beispiel: Jungen, die schon von Kindheit an spüren, dass sie sich zu Jungen und Männern hingezogen fühlen, sind – genau wie Mädchen, die gleichgeschlechtlich orientiert sind – auf aufklärende und ermutigende Worte vor oder zu Beginn der Pu- 9. Curriculum Sexualität 30 bertät und nicht erst in der 9. Klasse angewiesen. Eine solche frühzeitige Entängstigung bezüglich eigener Homosexualität ist erst seit der Liberalisierung des Umgangs mit sexuellen Orientierungen möglich, aber auch konsequent. Vor der Pubertät ist der Hinweis hilfreich, dass sich in der Reifezeit herausstellen wird, ob ein Junge oder Mädchen – wie die meisten Jungen und Mädchen – heterosexuell oder – wie einige Jungen und Mädchen – homosexuell orientiert sein wird, sich also zu einem Menschen des eigenen Geschlechts oder zu einem Menschen des anderen Geschlechts hingezogen fühlt. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Sexuelle Orientierung und Partnerschaften“ ist demgegenüber erst in einer höheren Klasse sinnvoll. Symptomatisch ist, dass inzwischen das Thema Pubertät bereits in der Grundschule „als Vorbereitung auf die Pubertät“ angesprochen werden soll, auch wenn es schwerpunktmäßig erst in der 5./6. Klasse vorgesehen ist. Die Pubertät ist nach der frühkindlichen Entwicklungsphase der wichtigste Entwicklungsschritt im Leben eines Menschen. Er wird unterschiedlich heftig und krisenhaft erlebt und stellt sich nach außen auch unterschiedlich dar. Wachstum und Gestaltwandel, erste Monatsblutung und erster Samenerguss, hormonelle Umstellungen, das Erleben neuartiger Gefühle und Sehnsüchte, Pickel , der Verlust kindlicher Sichtweisen, Erahnen von „Verlockungen“ jedweder Art, Konfl ikte mit den Eltern , Bewusstwerden zukünftiger Aufgaben, Sorgen um Schulabschlüsse, erste sexuelle Erfahrungen und einiges mehr machen Jungen und Mädchen schwer zu schaffen. Die Pubertät setzt bei Jungen und Mädchen immer früher ein, aber nicht bei allen. So gibt es inzwischen durchaus Mädchen in der 4. Klasse, die ihre Monatsblutung regelmäßig bekommen (also auch schon schwanger werden können), aber es gibt auch 15- jährige, die noch auf die Blutung warten. Bei Jungen tritt der Samenerguss im Durchschnitt mit 12 bis 13 Jahren auf, aber auch da gibt es große zeitliche Schwankungen. Das bedeutet, dass tatsächlich schon in der Grundschule ein Ausblick auf das gegeben werden muss, was die Kinder erwartet. Wichtig ist die Vermittlung der Gewissheit, dass es sich bei der Pubertät um ein Übergangsstadium handeln wird, das schwierig werden kann, auf das sie sich aber auch freuen können, weil sie erwachsen werden. Sie sollen neugierig werden auf sich selbst und ermutigt werden , „das Beste“ aus sich zu machen. In der Sekundarstufe I stellt sich die Situation so dar: In einer Klasse mit Mädchen zwischen 12 und 13 Jahren oder mit Jungen zwischen 14 und 15 Jahren sind drei unterschiedlich entwickelte Gruppen vertreten, nämlich Schülerinnen bzw. Schüler vor, während und nach der Geschlechtsreife [16]. Da der physische Entwicklungsstand im Prinzip unabhängig vom kognitiven , emotionalen und sozialen ist, darf man sich von dem äußeren Erscheinungsbild der Gruppen und insbesondere von „erwachsenem Gehabe“ der körperlich am weitesten Entwickelten nicht beirren lassen. Es gilt herauszufi nden, wo man die Jugendlichen fachlich, sprachlich und emotional „abholen“ kann, um dann ggf. bei manchen Aussagen Differenzierungen vorzunehmen (z.B. beim Thema „Umgang mit Pornografi e“, „Flirten“ oder „Anwendung von Kondomen“ ). In zumindest zeitweise jahrgangsunabhängig zusammengestellten Lerngruppen ist eine solche Rücksichtnahme auf pubertätsbedingte Entwicklungsunterschiede am ehesten zu realisieren. 9.2 Lehrplan Sexualerziehung und Lehrpläne anderer Fächer zum Thema Sexualität Der Lehrplan Sexualerziehung für Hessen verweist einleitend zu dem Abschnitt über „Aufgaben und Themen der Sexualerziehung“ auf die Lehrpläne des Faches Biologie, die für Hauptschule, Realschule und Gymnasium bereits zahlreiche Themen zur Sexualität für verschiedene Klassenstufen ausweisen. Für den Sachunterricht in der Grundschule gibt es bisher keine Themenliste zur Sexualerziehung. Der Lehrplan Sexualerziehung schlägt nun für die Primarstufe fünf Themen vor: - Kinder in unterschiedlichen Familiensituationen - Ich mag mich, ich mag dich - Ich sage NEIN – Prävention sexuellen Missbrauchs, Informationen über Hilfsmöglichkeiten bei sexuellem Missbrauch 9. Curriculum Sexualität 31 - Der kleine Unterschied wird größer (Vorbereitung auf die Pubertät) - Kindliches Sexualverhalten Diese Liste gibt keine Reihenfolge für die Behandlung der Themen oder von Teilthemen vor. Es wäre auch problematisch, wenn der Liste z.B. abgelesen würde, dass über die Geschlechtsorgane erst und nur im Kontext mit Veränderungen in der Pubertät gesprochen werden soll. Der „kleine Unterschied“ muss schon in der 1. oder 2. Klasse thematisiert werden, damit die Kinder ihre Bedeutung für die eigene Geschlechtszuordnung erkennen und damit z.B. über das, was mit „sexuellen Missbrauch“ gemeint ist, behutsam aber deutlich aufgeklärt werden kann. Auch das Thema „Kindliches Sexualverhalten“, das ja auch konkrete sexuelle Handlungen (Manipulationen an den Geschlechtsorganen ) beinhalten kann, setzt Kenntnisse über diese Geschlechtsorgane voraus [21]. Erfahrungsgemäß ist es einfach, mit Grundschulkindern über Sexualität zu sprechen. Anlässe für einen Einstieg gibt es viele (Beispiele): 1. Familien sind unterschiedlich zusammengesetzt. In manchen Familien fehlt die Mutter, in anderen der Vater. Gibt es Kinder ohne Mutter oder ohne Vater? 2. Eine Lehrerin ist schwanger: Was macht das Baby im Bauch der Mutter, wie kommt es da heraus und wie ist es da hinein gekommen? Wie sind Frau und Mann gebaut, damit sie ein Baby bekommen können? 3. Ein Kind der Klasse bekommt ein Geschwisterchen : Wo kommt das Baby her und … und … und siehe Fragen bei 2. 4. Jungen benutzen andere Toiletten als Mädchen. Womit hängt das zusammen? Wozu ist die unterschiedliche Organausstattung gut? 5. Ist das neue Kind in der Parallelklasse ein Junge oder ein Mädchen? Woran kann man Junge und Mädchen mit Sicherheit unterscheiden? Wozu sind die unterschiedlichen Organe gut? 6. Jungen spielen mit anderen Spielzeugen als Mädchen . Hat das was mit den unterschiedlichen Organen zu tun? 7. Wir müssen uns regelmäßig waschen oder duschen . Wie heißen die Körperteile, die gesäubert werden? Welche Bedeutung hat es, dass bei einem Jungen einige Organe anders aussehen als bei einem Mädchen? Es wäre sicherlich hilfreich für Lehrer und Lehrerinnen ab der 5. Klasse, die Sexualerziehung leisten wollen, wenn es einen kleinen verbindlichen Wissenskatalog für die Primarstufe gäbe, damit sie in den Eingangsklassen der weiterführenden Schulen nicht immer mit Rücksicht auf einzelne Kinder „bei Null“ anfangen müssen. So wichtig eine gute Sachaufklärung in der Grundschule ist, so unverzichtbar ist es aber auch, psychosoziale Aspekte von kindlicher Sexualität ernst zu nehmen und zu thematisieren. Schon Kinder im Grundschulalter erleben heftige Gefühle von Hingezogensein , Eifersucht und Trennungsschmerz, machen Erfahrungen mit Macht und Ohnmacht in Beziehungen zu Freunden und Freundinnen. Vielleicht haben sie auch schon Gewalt erfahren. Es erleichtert sie, wenn diese Themen im Unterricht angesprochen werden, vor allem wenn sie zu Hause keine Gesprächspartner haben. Auch das Ansprechen von „Selbstbefriedigung“ („Es gibt angenehme und unangenehme Körpergefühle“) kann – wenn dies nicht als „Aufforderung“ zur Selbstbefriedigung formuliert wird – Kindern helfen, mit sich selbst besser klar zu kommen. Die Vermutung, dass sich der Lehrplan Sexualerziehung für die Klassen 5 bis 9 mit den Lehrplänen für das Fach Biologie an Haupt-, Realschule und Gymnasium zum Thema Sexualität überschneidet, bestätigt sich nicht. Die Themen für den Biologieunterricht benennen vorwiegend biologische Sachverhalte, geben aber an vielen Stellen Raum für weiterführende Aspekte von Sexualerziehung wie „Funktionen der Sexualität“ oder „Falsche Kinderfreunde“ (5. Klasse Hauptschule); „Liebe als Basis zwischenmenschlicher Beziehungen“ oder „Sexualität in der Werbung“ (9. Klasse Hauptschule); „Partnerschaft und Rollenverständnis “ oder „Verantwortung für das Kind“ (6. Klasse Realschule); „Gesetzliche Regelungen“ oder „Selbstbestimmung“ (9. Klasse Realschule); „Sexueller Missbrauch“ oder „Sexualität in den Medien“ (5. Klasse Gymnasium); „Sexuelle Lebensformen“ oder „Formen des geschlechtlichen Verhaltens“ (9. Klasse Gymnasium). Hier kommen die Themen des Biologi- 9. Curriculum Sexualität 32 eunterrichts der ganzheitlichen Sicht des Lehrplans Sexualerziehung entgegen. Auch in den Fächern Katholische und Evangelische Religion sind bereits verbindliche Themen vorgesehen , die der Sexualerziehung nahe stehen: Neben explizit formulierten Themen wie „Einander lieben und miteinander leben, Partnerschaft, Liebe, Treue“ (Kath. Religion Haupt-/Realschule und Gymnasium 9. bzw. 10. Jahrgang), „Liebe, Partnerschaft, Sexualität“ (Ev. Religion Haupt-/Realschule und Gymnasium, 9. Jahrgang), sind sexualerzieherisch relevante Aspekte implizit bei Themen zu fi nden, die u.a. mit Persönlichkeitsentwicklung , Vorbildern, Sehnsucht nach einem erfüllten Leben, Verantwortung für das Leben, Schuld und Vergebung zu tun haben. Im Fach Ethik sind in Hauptschule und Realschule sowohl für die Klassen 6 als auch für die Klassen 8 die Lehrpläne überschrieben mit „Liebe I“ und „Liebe II“ und bieten dadurch ebenfalls unabhängig vom Lehrplan Sexualerziehung viele Gelegenheiten zu sexualerzieherischen Aktivitäten. Der Lehrplan für das Fach Ethik am Gymnasium ist thematisch breiter angelegt, nennt aber auch die Elemente „Liebe I“ und „Liebe II“. 9.3 Fächerübergreifendes Lernangebot zur Sexualerziehung Eine didaktische Herausforderung ist die Tatsache, dass Sexualerziehung im Lehrplan als „fächerübergreifende “ Aufgabe gesehen wird, also als eine Aufgabe , an deren Bewältigung sich mehrere Fächer beteiligen sollen. Da bisher nur die Fächer Biologie und Religion bzw. Ethik Sexualität ausdrücklich thematisieren – in keinem anderen Lehrplan erscheint dieser Begriff – müssen Lehrkräfte verschiedener Fächer ko operieren, um die gesteckten Ziele zu erreichen . Unter einer fächerübergreifenden Sexualerziehung kann Verschiedenes verstanden werden: 1. die Koordination von Lernangeboten verschiedener Fächer zu einem Thema der Sexualerziehung . 2. eigenständige fachtypische Lernangebote verschiedener Fächer zu Themen der Sexualerziehung unabhängig von den anderen Fächern. Beide Modelle veranlassen Lehrkräfte, ihren Fachplan daraufhin zu analysieren, wo sie vorgegebene Themen und Ziele der Sexualerziehung in ihren Unterricht integrieren können, und motivieren zur Zusammenarbeit . Es fällt in die Zuständigkeit des Klassenlehrers bzw. der Klassenlehrerin oder des Tutors/der Tutorin, Aktivitäten zur Sexualerziehung zwischen beteiligten Lehrkräften zu koordinieren. Die Klassenkonferenz ist der Rahmen für solche Absprachen. Der Lehrplan Sexualerziehung selbst sagt nichts aus über die Fächer, die zu beteiligen sind. Somit können Lehrer und Lehrerinnen der Fächer Deutsch, Sachunterricht , Geschichte, Sozialkunde/ Politik und Wirtschaft , Kunst, Musik, Fremdsprachen oder Sport mit Fantasie und Engagement Ideen entwickeln. 9.3.1 Koordinierung von Fachbeiträgen zu einem Thema der Sexualerziehung Bezüglich der Möglichkeit, die Beiträge der Fächer zu einem Thema des Lehrplans zu koordinieren, hier einige Beispiele. Beispiel 1: Thema des Lehrplans Sexualerziehung für die Klassen 5 und 6 „Der Umgang der Medien mit dem Thema Sexualität und deren Folgen für die sexuelle Entwicklung “ Mögliche Beiträge der Fächer: Biologie: Sachliche Analyse von Fragen und Antworten auf der Beratungsseite einer Jugendzeitschrift zum Thema Sexualität. Religion/Ethik: Analyse der Bewertungsmaßstäbe für Sexualverhalten auf der Beratungsseite und mögliche Auswirkungen der üblichen Alters- und Geschlechtsangaben auf die gleichaltrigen Leser und Leserinnen. Deutsch: Sprache und Aufbau von Antworten des Beraterteams einer Jugendzeitschrift. Versuch, eigene Antworten zu formulieren. Kunst: Analyse der grafi schen Gestaltung der Zeitschriftenseiten zum Thema „Sexualität für Jugendliche “ 9. Curriculum Sexualität 33 Beispiel 2: Thema des Lehrplans Sexualerziehung für die Klassen 7 bis 10 „AIDS – kein Thema?“ Mögliche Beiträge der Fächer: Biologie: Immunsystem und HIV-Infektion bzw. AIDS Religion/Ethik: Umgang mit HIV-infi zierten Menschen Sozialkunde/Politik und Wirtschaft: Die AIDS-Problematik in der Dritten Welt Geschichte: Syphilis und AIDS – Krankheiten, die die Welt veränderten Deutsch: AIDS-Witze – Witz oder Diskriminierung? Kunst: Plakate und ihre Botschaften zum Thema HIV/ AIDS Beispiel 3: Thema des Lehrplans Sexualerziehung für die Klassen 7 bis 10 „Die Scheinwelt der Sexualität in den Medien, z.B. Pornografi e“ Mögliche Beiträge der Fächer zum Teilthema „Pornografi e“: Biologie: Gesundheitliche Risken bei ausgefallenen sexuellen Praktiken Religion/Ethik: Menschenwürde und Pornografi e Sozialkunde/Politik und Wirtschaft: „Sex sells“- Sex und Pornografi e als Wirtschaftsfaktor Geschichte: Jugendmedienschutz im Wandel der Zeit Deutsch/Musik: Liebesgedichte/Liebeslieder, (pornografi sche) Sprache in Rapper-Songs Kunst: Erotische und pornografi sch verzerrte Darstellungen des menschlichen Körpers – Versuch einer Abgrenzung Diese Art des koordinierten Vorgehens eignet sich besonders gut für Projekttage oder -wochen zum Thema Sexualität (siehe auch Beispiel unter 9.3.3). 9.3.2 Eigenständige Beiträge der Fächer Über diese „fächerübergreifende“ Koordinierung von Fachbeiträgen zu einem Thema im Lehrplan Sexualerziehung hinaus, können die Fächer auch eigenständige Beiträge zur Sexualerziehung leisten. Neben den Fächern Biologie und Religion/ Ethik gibt es praktisch in fast allen Fächern Ansatzpunkte, fachliche Themen im Sinne der Sexualerziehung zu gestalten . Hier nur einige Beispiele: Grundschule Deutsch: Lesen – Leseförderung. Hier kann durchaus ein Text über Familienformen eingesetzt werden (an Stelle eines Textes etwa über den Wochenmarkt), der dann im Sinne der Sexualerziehung diskutiert wird. Zum Aufgabenbereich „Sich informieren und sachbezogen verständigen“ kann eine „Täterbeschreibung“ zu einen Mann, der Kinder auf dem Spielplatz belästigt, erarbeitet werden an Stelle der Beschreibung einer beliebigen Person des öffentlichen Lebens oder aus dem Umfeld der Kinder. Zugleich wird darüber gesprochen, warum und wie sich Kinder vor Sexualtätern (die nicht aus der Familie oder dem Bekanntenkreis des Kindes stammen) schützen können. Der Übergang zum Sachunterricht ist fl ießend. In der Sekundarstufe I erweitern sich die Möglichkeiten zur Sexualerziehung im Fach Deutsch. In der Hauptschule kann unter der Überschrift „Sprechen und Schreiben“ z.B. aufgegriffen werden: „Ich sage jemandem, dass ich mit ihm/ihr Kontakt haben will oder schreibe eine SMS“ oder „Verbale Anmache , die ich mag, die ich nicht mag“ usw.. Auch an solchen Texten, die inhaltlich einen Beitrag zu Sexualerziehung leisten, kann Fachtypisches erarbeitet oder geübt werden. In der Realschule können unter der Überschrift „Umgang mit Texten“ Prosawerke und lyrische Gedichte oder Balladen zum Thema Liebe, Sehnsucht, Liebeskummer und Trennung (auch) mit Blick auf die Ziele von Sexualerziehung interpretiert werden. Im Gymnasium können über die Möglichkeiten der Haupt- und Realschule hinaus z.B. zum Themenbereich „Wortschatz“ die Vielfalt und verschiedenen Ebenen von Benennungen und „Ausdrücken“ zum Thema Sexualität und eine Abgrenzung zur Pornografi e bearbeitet werden. 9. Curriculum Sexualität 34 Im Fach Sozialkunde/Politik und Wirtschaft bieten die Themen “Medienerziehung – Freizeitplanung und -gestaltung“ (7. Jahrgang) und „Gleichberechtigung “ (10. Jahrgang) in der Hauptschule Anknüpfungspunkte für Sexualerziehung. In der Realschule sind es die Themen „Massenmedien im Wandel“ (9. Jahrgang) und „Gleichberechtigung“ (10. Jahrgang ). Derartige Anknüpfungsmöglichkeiten sind im Gymnasium durch die Themen „Medien und Freizeit“ (7. Jahrgang) und „Medien: Pressefreiheit und Markt“ (9. Jahrgang) gegeben. In Geschichte gibt es die Möglichkeit, bei der Besprechung aller Epochen auch die Rolle von Mann und Frau, das Familienleben, den Umgang mit sexuellen Minderheiten (z.B. Homosexuellen im Nationalsozialismus ) u.a.m. zu thematisieren und im Sinne der Ziele von Sexualerziehung zu akzentuieren. Im Fach Kunst an Hauptschule und Realschule können unter dem Titel „Der menschliche Körper und seine Ausdrucksformen“ Darstellungen von Paaren aus verschiedenen Epochen Gespräche über Liebe, Leidenschaft, Sehnsucht, Nähe, Distanz und Fürsorge anregen. An Gymnasien sind durch die ausdifferenzierten Themen im Lehrplan viele unterschiedliche Zugänge zum Thema Sexualität möglich. Auch der fremdsprachliche Unterricht (einschließlich Latein) kann Beiträge zur Sexualerziehung leisten, wenn Prosatexte, Dramen und lyrische Gedichte (auch) unter dem Aspekt Beziehung, Geschlechterverhältnis und Geschlechterrollen interpretiert und diskutiert werden oder Sprachproduktionen zu relevanten Themen verfasst werden. Der Sportunterricht bietet der engagierten Lehrperson vielfältige Gelegenheiten, sexualerzieherisch wirksam zu werden: körperliche Attraktivität, Schamgefühl , Respekt vor der Intimsphäre, Hygiene, geschlechtstypische Unterschiede bei der Ausübung von Sportarten, sexuelle Übergriffe und andere Themen können von ihr beiläufi g oder systematisch angesprochen werden. Auch diese eigenständigen Beiträge der Fächer zur „fächerübergreifenden“ Sexualerziehung werden zu Jahresbeginn auf der Klassenkonferenz festgelegt. 9.3.3 Beispiel für die koordinierte fächerübergreifende Behandlung eines Themas: Körperpfl ege und Hygiene „Körperpfl ege und Hygiene“ ist ein Thema des Lehrplans Sexualerziehung für die Klassen 5 und 6. Allgemeine Körperpfl ege und – im Kontext mit Sexualität – vor allem auch Intimhygiene sind aus drei Gründen wichtig: 1. Sie dienen der Gesunderhaltung und der Infektionsvermeidung . 2. Körperliche Attraktivität hängt (auch) von der Körperpfl ege ab. 3. Mangelnde Körperpfl ege kann zu einem Problem in der Partnerschaft werden. Der letztgenannte Grund spielt in einer 5. oder 6. Klasse sicherlich noch keine ausdrückliche Rolle. Die Besprechung von Körperpfl ege bzw. Intimhygiene kann aber seitens der Lehrperson diesen Aspekt immer mit bedenken, damit Jungen und Mädchen diesbezügliche Schlüsse selbst ziehen können. Ein ungepfl egter Körper macht keine Lust auf Zärtlichkeiten und führt statt zu einem liebevollen Vorspiel oder zu einem risikoarmen Petting oft unmittelbar zum Vollzug des Geschlechtsverkehrs. Schlechte Intimhygiene bedeutet auch für den Partner oder die Partnerin ein Infektionsrisiko bezüglich sexuell übertragbarer Krankheiten und Parasiten. Im Biologieunterricht bzw. in der Sexualkunde kommen folgende Aspekte, die für die Sexualerziehung relevant sind, zur Sprache: Körperpfl ege bekommt in der Pubertät eine neue Dimension im Vergleich zur Kindheit: Einerseits arbeiten Schweiß- und Duftdrüsen vermehrt und auch die Smegmaproduktion nimmt zu, und zum anderen treten neuartige Körperausscheidungen auf – beim Mädchen Weißfl uss und Menstruationsblut und beim Jungen Samenfl üssigkeit . Körperpfl ege und Monatshygiene sind Regelthemen des Biologieunterrichts, die meist mit dem Thema Pubertät und Monatszyklus verbunden werden. Oft wird dabei die Frage nach Körperpfl ege und Intimhygiene bei Jungen übergangen, obgleich Jungen 9. Curriculum Sexualität 35 durch Pollution und Masturbation vor für sie neuartigen hygienischen Problemen stehen. Sexualpädagogisch relevant ist die Behandlung des Themas „Jungfernhäutchen“ im Zusammenhang mit der Verwendung von Binde oder Tampon. Das Thema ist vor allem für Mädchen aus konservativen Elternhäusern wichtig. Aktuell bedeutsam ist für Jungen und Mädchen das Thema „Intimrasur“, weil diese als „Modeerscheinung“ in unserem Kulturkreis in den letzten Jahren populär und über Jugendzeitschriften bei Jungen und Mädchen bekannt geworden ist und kritisch bezüglich der gesundheitlichen Auswirkungen auf die Haut im Intimbereich besprochen werden muss. Im Geschichtsunterricht kann ein kulturgeschichtlicher Aspekt thematisiert werden: Im Laufe der Geschichte haben sich die Möglichkeiten zur Körperpfl ege kontinuierlich verändert, und es ist eine interessante Aufgabe für Schüler und Schülerinnen, sich konkret vorzustellen, wie in Zeiten ohne fl ießendes Wasser, ohne Badezimmer und Dusche (natürlich auch ohne Waschmaschine) und ohne „Einmalbinden“ und Tampons Körperpfl ege und Monatshygiene möglich waren. Die „emanzipatorische“ Dimension von Einmalbinden und Tampons kann offenkundig werden. Körperpfl ege von Jugendlichen und insbesondere von Mädchen (wegen der Monatshygiene) ist ein interessanter Wirtschaftsfaktor, der von der Werbeindustrie kreativ unterstützt wird. Werbung für „Pickelmittel “, Körpersprays (einschl. Intimsprays) ist ein ergiebiges Objekt für Analysen im Kunstunterricht. Welche Sehnsüchte und Bedürfnisse werden mit welchen „Tricks“ und Gestaltungsmitteln in der Werbung angesprochen und mit dem Produkt (berechtigter oder unberechtigter Weise) assoziiert? Auch das Verwobensein von „Anzeigen“ und redaktionellen Beiträgen kann an einzelnen Beispielen deutlich werden und Werbestrategien „entlarven “. Solche Aspekte können auch in Sozialkunde/Politik und Wirtschaft aufgegriffen werden. Im Deutschunterricht können „Gegenstands beschrei bungen“ zu einer Binde oder Slipeinlage und zu einem Tampon angefertigt werden. Dafür müssen beide Gegenstände sachlich analysiert und dann in Form einer Beschreibung erfasst werden. Zur Biologie können Schüler und Schülerinnen hier eine zweite Verbindung herstellen: Die Bestandteile einer Binde oder Slipeinalge (in vielen Fällen eine Folie) im Vergleich zum Tampon (reine Baumwolle) sind auch ökologisch interessant. Im Sportunterricht kann eine Diskussion darüber in Gang kommen, wie Schüler und Schülerinnen Körperpfl egemaßnahmen und z.B. das unbekleidete Duschen in der Gruppe empfi nden. Der Schwerpunkt liegt sicherlich einerseits bei hygienischen Aspekten , andererseits bei dem Wunsch nach oder bei dem Recht auf eine Intimsphäre, die jedes Mädchen und jeden Jungen vor den Blicken (und dem Gerede ) anderer schützt. Unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in Abhängigkeit von der Herkunftskultur werden deutlich. Im Religions-/Ethikunterricht können Mythen, Tabus und Rituale, die mit der Monatsblutung zusammenhängen , in altersgerechter Form angesprochen werden . Ziele der unterrichtlichen Behandlung, die je nach Fach unterschiedlich gewichtet sind: Schüler und Schülerinnen - wissen, wie Haut, Kopfhaare und Mundhöhle vernünftig gepfl egt werden (kein direkter Bezug zur Sexualerziehung, aber biologischer Basiskontext) - verstehen das Zustandekommen von Weißfl uss, Monatsblutung und Samenfl üssigkeit (humanbiologisches Grundwissen zum Thema Pubertät) - kennen und diskutieren Argumente für sorgfältige Körperpfl ege und sehen Körperpfl ege als Bestandteil gesundheits- und verantwortungsbewusster Lebensgestaltung - kennen und begründen Maßnahmen der Intimhygiene (Säubern der Ausscheidungs- und Geschlechtsorgane bei Junge und Mädchen) und setzen sich kritisch mit dem Thema Intimrasur auseinander - unterscheiden Binden und Tampons als Mittel der Monatshygiene - stellen sich vor, wie Körper- und Monatshygiene sich im Laufe der Zeit verändert haben 9. Curriculum Sexualität 36 - unterscheiden hygienische Aspekte beim Thema „Körperpfl ege und Duschen in der Gruppe“ von anderen Aspekten und werden ermutig, ihre Intimsphäre zu schützen - setzen sich mit Aktivitäten zu werbender Körperpfl ege und Intimhygiene auseinander - lernen die Bedeutungen, die dem Monatszyklus in anderen Epochen und Kulturen durch Mythen, Tabus und Rituale zugewiesen wurden, kennen - üben sachliches Sprechen über Körperpfl ege und Intimhygiene - entwickeln Verständnis für individuell oder kulturell bedingte unterschiedliche Sichtweisen zum Thema Den Abschluss einer solchen fächerübergreifenden Lernsequenz kann die Gestaltung einer Wandzeitung bilden, auf der wichtige Ergebnisse aus den Fächern in Wort und Bild präsentiert und anderen Schülern und Schülerinnen zugänglich gemacht werden. Motivierend kann auch der Auftrag sein, einer Brieffreundin oder einem Brieffreund in Deutsch oder in Englisch oder Französisch mitzuteilen, was man im Unterricht über Körperpfl ege und Hygiene gelernt hat. 37 Quellenangaben 1. Kultusministerkonferenz (Hrg): Empfehlungen zur Sexualerziehung an Schulen. Bonn 1968 2. Land Hessen (Hrg): Hessisches Schulgesetz (HSchG ) in der Fassung vom 14. Juni 2005 (GVBl. I S. 442), zuletzt geändert durch Gesetz vom 14. Juli 2009 (GVBl. I S. 265) 3. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrg): Richtlinien und Lehrpläne zur Sexualerziehung . Köln 2003, S.83 ff 4. Hessisches Kultusministerium (Hrg): Lehrplan Sexualerziehung vom 1. Okt. 2007 5. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrg.) Jugendsexualität – Wiederholungsbefragung von 14- bis 17-Jährigen und ihren Eltern. Ergebnisse der Repräsentativbefragung aus 2001. Köln 6. Zankl, H.: Phänomen Sexualität. Vom „kleinen“ Unterschied der Geschlechter. Wiss. Buchgesellschaft . Darmstadt 1999 7. Pschyrembel Wörterbuch Sexualität. De Gruyter. Berlin 2003, S. 485 ff 8. Parrinder, G.: Sexualität in den Religionen der Welt. Patmos-Verlag. Düsseldorf 2004 9. Comfort, A.: Der aufgeklärte Eros. Rororo. Reinbeck 1968, S. 178 10. Statistisches Bundesamt 2008 11. Hessisches Statistisches Landesamt 2008 12. Shell Jugendstudie 2006 13. Schütz, E.E./Kimmich, Th.: Körper und Sexualität. Herder. Freiburg 2001 14. Schneider, S./Rieger, B.: Das Aufklärungsbuch. Otto Maier. Ravensburg. 2007 15. www.bzga.de (Sexualaufklärung und Familienplanung ) 16. Meyers Lexikonredaktion (Hrg): Schülerduden Sexualität . Mannheim 1997 17. www.somso.de (Genitalorgane, embryonale Entwicklung ) 18. Beier, K.M./Bosinski, H./ Loewit, K.: Sexualmedizin . Urban & Fischer. München/Jena 2005, S. 62 19. Freund, U./Riedel-Breidenstein, D.: Sexuelle Übergriffe unter Kindern. mebes & noack. Köln 2004 20. Oerter, R./Montada, L. (Hrg): Entwicklungspsychologie . Weinheim/Basel 2008, S. 295 21. Etschenberg, K.: Sexualerziehung in der Grundschule . Cornelsen. Berlin 2000 Quellenangaben 38 AnhangAnhang Ergebnisse einer Schülerbefragung an Grund-, Haupt- und Realschulen, Integrierten Gesamtschulen und Gymnasien in den Jahrgangsstufe 3 bis 12 (N=357, 42 der ursprünglich 399 beteiligten Schüler und Schülerinnen gaben leere Zettel ab). (Staatliches Schulamt für den Main-Kinzig-Kreis 2008) Zu folgenden Kategorien und Unterkategorien lagen Äußerungen von Schülerinnen und Schülern vor: 1 Biologischer Bereich 1.1 Körperprobleme Größe des Penis Form und Aussehen des Busens Schamhaare Jungfräulichkeit Aussehen des Genitalbereichs (Scheide, Schamlippen, Klitoris) Probleme mit dem Aussehen (allgemein) Körperbehaarung 1.2 Funktionsweisen des Körpers Fragen zur Zeugung Info-Wunsch über Geschlechtsorgane (Funktion) des anderen Geschlechts Info-Wunsch über Geschlechtsorgane (Funktion) des eigenen Geschlechts Fragen zum individuellen Entwicklungsstadium/ Pubertät (allgemein) Fragen zur Menstruation und Zyklus Sorgen um Fertilität Scheidenfl üssigkeit bei sexueller Erregung Erektionsprobleme („Schwäche“ ) / Impotenzsorgen Menarche (1. Regelblutung) Menstruationsschmerzen Ausfl uss/Weißfl uss Fragen zur Ejakulation 1.3 Fragen zur Genetik Hautfarbe genetische Abweichungen Wie entstehen Zwillinge? „Wird es ein Junge oder ein Mädchen?“ 1.4 Intimhygiene Allgemeine Fragen zur Intimhygiene (Gebrauch von) Tampons Hygiene beim Geschlechtsverkehr 1.5 Verhütung Allgemeiner Info-Wunsch Kondom / Handhabung / Anwendungsfehler / Varianten / Beschaffung „Pille"/ Wirkungsweise, Beschaffung, Nebenwirkungen Andere Verhütungsmittel (Spirale, Diaphragma, Vaginalsuppositorien, natürliche Verhütungsmethoden ) Info-Wunsch über Besuch beim Frauenarzt allgemein 1.6 Schwangerschaft und Geburt Allgemeiner Info-Wunsch Ängste und Probleme bei der Schwangerschaft Schwangerschaftsabbruch Muttermilch Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft / Auswege Auswirkungen auf den eigenen Körper Schwangerenberatung Künstliche Befruchtung Leihmutterschaft 2 Der sozial-kommunikative Bereich der Sexualität 2.1 Kommunikation mit dem Partner Unverständnis gegenüber Verhaltensweisen des Partners Allg. Fragen zur Beziehung 39 Wie kommt man in Kontakt? Trennungsproblematik 2.2 Homosexualität Allgemeine Fragen inkl. Praktiken Bisexualität 2.3 Transsexualität Allgemeine Fragen 2.4 Familie / Eltern Familienprobleme / Probleme mit den Eltern Elterliche Sexualität 2.5 Schule Probleme in der Gruppe / Freundschaft 2.6 Störungen im Sexualleben Allgemeines 3 Der Bereich der Lustfunktion 3.1 Masturbation Allgemeiner Info-Wunsch Angst vor Schäden 3.2 Erregbarkeit allgemein Erregbarkeit Orgasmus (allgemein) Aphrodisiaka / Viagra G-Punkt Vorspiel 3.3 Sexuelle Verhaltensweisen mit dem Partner / Info-Wünsche Allg. Infowunsch Pornographie Oralverkehr Schmerzen / unangenehme Gefühle beim Geschlechtsverkehr Ängste vor dem (ersten) Geschlechtsverkehr Analverkehr Verschiedene Stellungen Sex-Sucht Sexspielzeug Küssen Variantes Sexualverhalten (allgemein) Transvestismus Intimpiercing Gruppensex Sado-/ Masochismus Fragen zu Petting / gegenseitige Masturbation 4 Der individuell-psychologische Bereich 4.1 Stimmungen, Ängste, Schüchternheit Allgemein Verliebt sein 4.2 Attraktivität 5 Der Gefahrenbereich der Sexualität 5.1 Sexuell übertragbare Krankheiten / Geschlechtskrankheiten Allgemein AIDS 5.2 Sexuelle Übergriffe Belästigungen Missbrauch Vergewaltigung Verführung durch ältere/n Frau/Mann Verführung mit Hilfe von Alkohol / Drogen 5.3 Inzest Mit Mutter (bei männlichen Teilnehmern) 5.4 Verschiedene Probleme Prostitution, Sex-Shop, Telefonsex Suchtprobleme 6 Der gesellschaftlich-institutionelle Bereich der Sexualität 6.1 Zweck und Bedeutung der Sexualität 6.2 Sexualität und Gesetzgebung 6.3 Fragen zur eigenen Elternschaft 6.4 Sexualität – Kultur und Religion 6.5 Sexualmoral 6.6 Sex und Behinderung 7 Vorschläge für den Unterricht 7.1 Externe Infoquellen nutzen / Beratungsstelle / Internet, Bravo 7.2 Fachbegriffe erläutern 7.3 Individuelle Aufarbeitung eigener Probleme 40 7.4 Sexualkundeunterricht zu früherem Zeitpunkt durchführen 7.5 Aufklärungsfi lme zeigen 7.6 Vorschläge zur Organisation 7.7 Trennung der Schülerinnen und Schüler im Unterricht nach Geschlecht 7.8 Umgang mit obszöner Jugendsprache Diagramm 1: Themennennungen in den Jahrgangsstufen (in fünf Gruppen zusammengefasst) Anhang Funktionsweise des Körpers Schwangerschaft und Geburt Erregbarkeit allgemein Sexuelle Verhaltensweisen mit dem Partner-/ Info-Wünsche Geschlechtskrankheiten 40 35 30 25 20 15 10 5 0 3 und 4 5 und 6 7 und 8 9 und 10 11 und 12 Jahrgangsstufe (über alle Schulformen gemittelt) p ro ze nt ua le N en nu ng