Kleine Anfrage der Abg. Geis (SPD) vom 19.05.2016 betreffend KMK-Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler und Antwort des Kultusministers Vorbemerkung der Fragestellerin: Im Juni 2015 hat die Kultusministerkonferenz (KMK) eine Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler verabschiedet, deren Ziel es ist, Möglichkeiten für eine Optimierung der Lernbedingungen für Schülerinnen und Schüler aufzuzeigen, die bereits sehr gute beobachtbare Leistungen erbringen oder deren Potenziale zu erkennen und durch gezielte Anregung und Förderung zur Entfaltung zu bringen. Neben der vorrangigen Förderung der allgemeinen intellektuellen Begabung geht es auch um die Förderung der musischen , sportlichen und emotionalen Fähigkeiten. Vorbemerkung des Kultusministers: Die von der Kultusministerkonferenz am 11. Juni 2015 verabschiedete "Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler" formuliert ganz überwiegend Grundsätze und Ziele, die in Hessen bereits seit langer Zeit im Rahmen der schulischen Begabungsförderung angestrebt und realisiert wurden und werden. Das Hessische Kultusministerium widmet sich seit dem Jahr 1998 kontinuierlich und mit großem Nachdruck der Schaffung und Verankerung einer umfassenden Angebotspalette zur unterrichtlichen Begabungsförderung in möglichst vielen Schulen unterschiedlicher Schulformen und in allen Schulamtsbereichen. Dazu gehören insbesondere vier Elemente der Förderung von Leistungsfähigkeit und Leistungsstärke: Diagnostik auf wissenschaftlichem Niveau (Empirische Längsschnittstudie "Marburger Hochbegabtenprojekt" und Begabungsdiagnostische Beratungsstelle "BRAIN"), Bereitstellung von regionalen Vermittlungs- und Unterstützungsinstanzen (schulpsychologische Generalisten zur Begabungsförderung in allen 15 Staatlichen Schulämtern), Aus- und Fortbildung von Lehrkräften (zwei Module zur Begabungsförderung für alle drei Phasen der Lehrerbildung), möglichst wohnortnahe Förderangebote in den Schulen (landesweites "Gütesiegel- Hochbegabung-Programm" mit aktuell 174 teilnehmenden Schulen, davon 68 Grundschulen, drei Förderschulen, 42 Gesamtschulen, drei berufliche Schulen und 58 Gymnasien). Die Begriffe "Leistungsstärke" und "Begabung" beleuchten dabei zwei Facetten des gleichen Ziels, allen Schülerinnen und Schülern zu einer bestmöglichen Entfaltung und Ausbildung ihrer persönlichen Leistungsfähigkeiten zu verhelfen. Dabei haben selbstverständlich auch Mädchen und Jungen mit besonders hohen Potenzialen das Recht, nach Maßgabe ihrer speziellen Bedürfnisse und Fähigkeiten anspruchsvoll und nachhaltig gefördert und gefordert zu werden. Natürlich bedarf dies adäquater Begleitmaßnahmen in den Bereichen der Lehrerbildung, der Bereitstellung fachlicher Beratungsangebote wie auch der Fundierung durch eine anspruchsvolle Bildungsforschung . Diese Vorbemerkungen vorangestellt beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1. Welche Maßnahmen wurden an den hessischen Schulen durchgeführt, um die Diagnostik zum frühzeitigen Erkennen von besonders leistungsstarken Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, sowie die diagnostische Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern zu stärken? (Für diese und die nachstehenden Fragen wird um die Beantwortung getrennt nach den Schulamtsbezirken gebeten.) Sinnvolle schulische Fördermaßnahmen bedürfen einer geeigneten pädagogischen Diagnostik von Vorwissen und Leistungsstand. Lehrerfortbildung zur pädagogischen Diagnostik wurde und Eingegangen am 17. Juni 2016 · Bearbeitet am 21. Juni 2016 · Ausgegeben am 24. Juni 2016 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/3415 17. 06. 2016 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3415 wird in Gestalt von zentralen und dezentralen Kursen, Veranstaltungen und Tagungen durchgeführt . Beginnend mit einer zweijährigen Lehrerfortbildung zur Begabungsförderung von 2001 bis 2003 findet seitdem dazu alljährlich eine Vielzahl von landesweiten, regionalen und auch schulbezogenen Fortbildungen statt. Beispielhaft wird etwa auf die kontinuierlich zweimal jährlich stattfindenden fünfwöchigen E-Learning-Seminare "(Hoch)begabte Schülerinnen und Schüler erkennen und fördern" gemeinsam mit der Goethe-Lehrerakademie verwiesen. Zudem wurden allein zwischen Juli 2014 und Mai 2016 nicht weniger als 16 ganztägige Fachtagungen zur Begabungsförderung von den Lehrkräften kontinuierlich nachgefragt und sehr gut besucht. (Schulamtsbezogene Statistiken zur Begabungsförderung werden nicht geführt, um den bürokratischen Aufwand für Schulen und Schulverwaltung nach Möglichkeit zu minimieren.) Besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler zeigen in der Schule gute und sehr gute Leistungen, die sich in den entsprechenden Ergebnissen von Klassenarbeiten sowie in den unterrichtlichen Beiträgen der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler dokumentieren. Deshalb werden besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler regelhaft von Anfang an von den Lehrkräften zutreffend als solche erkannt. Darüber hinausgehende Maßnahmen zum frühzeitigen Erkennen besonders leistungsstarker Schülerinnen und Schüler erübrigen sich deshalb. Davon zu unterscheiden ist eine Begabungsdiagnostik, welche den Umfang der individuellen kognitiven Leistungsfähigkeit in den Blick nimmt. Begabung und Leistung korrelieren statistisch zwar positiv miteinander, stellen aber doch gut unterscheidbare Phänomene dar. Eine psychologische Begabungsdiagnostik setzt eine konkrete wichtige Fragestellung voraus und ist im unterrichtlichen Regelfall nicht von Nöten. Bei nicht-kognitiven Bereichen (wie Kunst, Musik, darstellendes Spiel, Tanz oder Sport) werden die bisher gezeigten Leistungen als Kriterium zur Entscheidung über das Vorliegen einer hohen Begabung herangezogen. Frage 2. Wie erfolgt die Etablierung von individuellem Lernen im Unterricht und darüber hinausgehende Förderung? Das hessische Verständnis von schulischer Begabungsförderung zielte schon immer auf ein bestmögliches individuelles bzw. individualisiertes Lernen ab, um der zunehmenden Heterogenität der Klassen aller Schulformen gerecht werden zu können. Nach gesicherten empirischen Erkenntnissen vermögen anregungsstarke Lernumgebungen nicht allein die Leistungen zu verbessern , sondern auch die kognitive Leistungsfähigkeit aller Schülerinnen und Schüler in messbarem Umfang dauerhaft anzuheben. Lehrkräfte sind dabei aufgerufen, alle in der Klasse vorkommenden Begabungen und Leistungsfähigkeiten durch geeignete fachliche Herausforderungen bis zu ihren je persönlichen Leistungsgrenzen herauszufordern, um sie auf diese Weise unterrichtlich optimal zu fördern und ihnen beim Erwerb von Lerntechniken zu helfen. Der herkömmliche fragend entwickelnde Unterricht, der sich - nach Maßgabe der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit der jeweiligen Klasse - an einem gegebenen mittleren Leistungsstand orientiert , muss demgegenüber nachvollziehbarerweise rasch an seine Grenzen stoßen, insbesondere wenn er nicht differenzierend vorgeht. In Zeiten von vielfach differenzierenden Aufgabenblättern unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade für alle Altersstufen und Fächer, von vielfach elektronisch verfügbaren Unterrichts- und Lernmaterialien und eines überaus reichhaltigen und vielgestaltigen Verlagsangebots für Lehrkräfte aller Schulformen verbleibt hierbei die Aufgabe einer sorgfältigen Sichtung dieses Angebots und der Auswahl des für die jeweilige Lerngruppe speziell geeigneten Materials. Den zwei veröffentlichten Evaluationsberichten (vom 20.07.2010 und 10.02.2013) zu dem o.a. "Gütesiegel-Hochbegabung-Programm" sind bei der Umsetzung die folgenden Prioritäten der teilnehmenden Schulen zu entnehmen (jeweils nach der Häufigkeit der Angaben aufgeführt): Binnendifferenzierung mittels stoffvertiefender Aufgaben, Projektarbeit, Wochenplanarbeit, Werkstattunterricht, Präsentationen, Drehtür, Helfersysteme, Freies Lernen, differenzierte Hausaufgabenstellung. Über den Schulunterricht hinausgehende individuelle Förderung erfolgt in Gestalt der weit verbreiteten , vielfältigen und überaus fruchtbaren Kooperation von Schulen mit kompetenten außerschulischen Anbietern von Freizeitkursen, Schülerakademien und Schülerwettbewerben aller Art. Frage 3. Welche Maßnahmen zur Erweiterung des Lernangebots (Enrichment) werden an den hessischen Schulen durchgeführt? Die zwei Evaluationsberichte zu dem o.a. "Gütesiegel-Hochbegabung-Programm" (vom 20.07.2010 und 10.02.2013) berichten hierzu in der folgenden Reihenfolge der von den Schulen eingesetzten Maßnahmen: zusätzliche Arbeitsgemeinschaften, Wettbewerbe, außerschulische Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3415 3 Lernorte, spezielle Begabungs-Arbeitsgruppen, gelenkte Projekte, Pull-Out während des regulären Unterrichts, zusätzliche Leistungskurse bzw. weitere Fremdsprachen, freie Projekte, Pull- Out-Tage, Arbeitsgemeinschaften in anderen Schulen, Portfolio-Arbeit, Lerntalentklassen und Förderband (klassenübergreifende Aufteilung der gesamten Jahrgangsstufe in mehrere Arbeitsgruppen mit verschiedenen Themenschwerpunkten). Frage 4. Welche Maßnahmen zur schnelleren Bearbeitung des Lehrplans bzw. zum schnelleren Durchlaufen der Schullaufbahn (Akzeleration) werden an den hessischen Schulen durchgeführt? Die beiden o.a. Evaluationsberichte belegen die Realisierung folgender Maßnahmen individueller Beschleunigung: Überspringen, Teilnahme am Fachunterricht der nächsthöheren Stufe, vorzeitige Einschulung, Empfehlungen für Akademieteilnahmen sowie für den Besuch der Internatsschule Schloss Hansenberg, Verkürzung der Grundschulzeit, Schulzweigwechsel. Für das Überspringen unterstützt das Hessische Kultusministerium die Eltern und die Schulen mit einer speziellen Handreichung: "Kluge Köpfe - entdecken, beflügeln, fördern, Handreichung zum Überspringen - Planung, Begleitung und Evaluation". Frage 5. Welche Netzwerke und Kooperationen wurden zwischen den hessischen Schulen und Fördereinrichtungen gebildet? In allen 15 Schulamtsbereichen arbeiten regionale Netzwerke zur Begabungsförderung zwischen den beteiligten Schulen unterschiedlicher Schulformen einerseits und kompetenten außerschulischen Institutionen andererseits. Sie werden von den jeweiligen schulpsychologischen Ansprechpartnerinnen bzw. -partnern mit der Generalia zur Begabungsförderung betreut. Die zwei o.a. Evaluationsberichte listen die Kooperationspartner wie folgt auf: Universitäten bzw. Fachhochschulen mit Frühstudium, Theater und Museen, Volkshochschulen, Musikschulen , Schachclubs, Kinder- und Ferienakademien, Begabungsdiagnostische Beratungsstelle "BRAIN", Deutsche Schülerakademie, Hochbegabtenzentrum in Frankfurt am Main, Hessische Schülerakademien für die Mittel- und die Oberstufe, Zentren für Mathematik und für Chemie, Stiftungen, sonderpädagogische Beratungs- und Förderzentren (BFZ), Erziehungsberatungsstellen , Kinderuniversitäten, Elternvereine. Als jüngste Gründung eines solchen außerschulischen Kooperationspartners ist 2016 eine "Schülerakademie Fulda" von dem dortigen Staatlichen Schulamt ins Leben gerufen worden. Frage 6. Welche Maßnahmen zur intensiveren Bildungsforschung, also wissenschaftliche Begleitung und Auswertung durch Universitäten, wurden in Hessen durchgeführt? Der gesamte Aufbau der unterrichtlichen Begabungsförderung wurde von Anfang an auf der Grundlage der aktuellen Befunde der empirischen Begabungsforschung geplant und eingerichtet. Als Fundament diente und dient dabei das (seit dem Jahr 1987 laufende) "Marburger Hochbegabtenprojekt ", eine (breit angelegte und methodisch vorbildhafte) erfahrungswissenschaftliche Längsschnittstudie zur Erforschung der Lebensumwelt von Hochbegabung und Hochleistung (mit zwei Zielgruppen und zwei parallelisierten Vergleichsgruppen), die zahlreiche Fachbücher und ebensolche Artikel in Peer-Review-Zeitschriften hervorgebracht hat und auch weiter hervorbringt . Es ist das exakteste und aussagefähigste Forschungsprogramm zu diesem Thema, das einerseits vielfach unzutreffende Annahmen und Mythen entkräftet und widerlegt und andererseits einen pragmatischen Umsetzungsweg für fachlich geeignete Fördermaßnahmen freigemacht hat. Die Begabungsdiagnostische Beratungsstelle "BRAIN" war deshalb eigens mit dem Lehrstuhl des Leiters des "Marburger Hochbegabtenprojekts", des Pädagogischen Psychologen und Entwicklungspsychologen Professor Rost, verknüpft worden. Er hat das Hessische Kultusministerium seitdem ununterbrochen bei allen Schritten und Maßnahmen der schulischen Begabungsförderung intensiv beraten und begleitet. Weiterhin haben er und das von ihm geleitete "BRAIN"-Team unablässig viele Lehrerfortbildungsmaßnahmen in den Schulen durchgeführt. Nicht zuletzt diese dauerhafte enge Verknüpfung von wissenschaftlicher Forschung einerseits und schulischer Umsetzung andererseits hat dazu geführt, dass die unterrichtliche Begabungsförderung bislang in Hessen zu keinem Zeitpunkt schulpolitisch oder öffentlichkeitswirksam in irgendeiner Art und Weise strittig war. 4 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3415 Darüber hinaus werden in Hessen alljährlich zahlreiche andere wissenschaftliche Forschungsvorhaben im Schulbereich durchgeführt, die nach § 84 Hessisches Schulgesetz einer Prüfung und Genehmigung des Hessischen Kultusministeriums bedürfen. Etliche davon befassen sich auch mit Fragen des individuellen Lernens und der individualisierten Lernförderung. Beispielhaft sind an dieser Stelle etwa die Projekte der LOEWE-Landes-Offensive zur Entwicklung wissenschaftlich -ökonomischer Exzellenz oder des IDeA-Zentrums (Individuelle Entwicklung und Lernförderung) zu nennen. Der Austausch und die Zusammenarbeit mit diesen Forschungsprogrammen dienen der kontinuierlichen Verbesserung von Unterricht und nachhaltigem Lernen in den Schulen. Wiesbaden, 10. Juni 2016 Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz