Kleine Anfrage der Abg. Schott (DIE LINKE) vom 18.05.2016 betreffend Ungleichbehandlung von ehemaligen Heimkindern mit Behinderung im Rahmen der "Stiftung zur Anerkennung und Hilfe für Kinder und Jugendliche" und Antwort des Ministers für Soziales und Integration Vorbemerkung der Fragestellerin: Seit 2012 haben Menschen, die während ihres Heimaufenthaltes im Zeitraum 1949 bis 1975 und 1949 bis 1990 Opfer von Misshandlungen und Unrecht wurden, über die Fonds “Heimerziehung West" und “Heimerziehung in der DDR" die Möglichkeit materiell entschädigt und unterstützt zu werden. Zudem erhalten die ehemaligen Heimkinder Rentenausgleichszahlungen, wenn es durch ihren Aufenthalt im Heim zu einer Minderung von Rentenansprüchen kommt. Menschen, die im selben Zeitraum in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in stationären psychiatrischen Einrichtungen Misshandlungen und Unrecht erlitten, sind von den oben genannten Fonds ausgenommen . Durch den Beschluss vom 7. Juli 2011 des Deutschen Bundestags ist die Bundesregierung aufgefordert ebenfalls für Menschen mit Behinderungen in Zusammenarbeit mit den Ländern und Kirchen eine Regelung herbei zu führen. An dieser Lösung wird momentan gearbeitet. Die “Stiftung zur Anerkennung und Hilfe für Kinder und Jugendliche, die in der Zeit von 1949 bis 1975 (Bundesrepublik Deutschland) bzw. 1949 bis 1990 (DDR) in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe bzw. stationären psychiatrischen Einrichtungen Unrecht und Leid erfahren haben" (kurz: "Stiftung Anerkennung und Hilfe") soll nun zukünftig auch Betroffenen mit Behinderung die Möglichkeit geben für erlittenes Unrecht in einem Heim materiell entschädigt und unterstützt zu werden. Allerdings unterscheidet sich die Höhe der Leistungen für Menschen mit Behinderung deutlich von den Leistungen, die Betroffene ohne Behinderung beziehen können. Betroffene ohne Behinderung können sowohl eine materielle Entschädigung von bis zu 10.000 € erhalten als auch zusätzliche Rentenausgleichszahlungen von bis zu über 20.000 €. Für betroffene Menschen mit Behinderung soll es laut verschiedener Vorschläge nur eine Entschädigung von maximal 9.000 € geben sowie Rentenausgleichszahlungen von maximal 6.000 €. Das bedeutet eine massive Ungleichbehandlung von Menschen mit und ohne Behinderung. Schon allein der Ansatz, dass Betroffene durch zwei unterschiedliche Fonds entschädigt werden sollen, widerspricht der Gleichbehandlung. Diese Vorbemerkung der Fragestellerin vorangestellt, beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1. Wie steht die Landesregierung dazu, dass nicht alle Betroffenen von Misshandlungen und Unrecht in Heimen in der Zeit von 1949 bis 1975 (Bundesrepublik Deutschland) bzw. 1949 bis 1990 (DDR) durch einen Fonds entschädigt werden, sondern durch einen Fonds für ehemalige Heimkinder ohne Behinderung und einen Fonds für Heimkinder mit Behinderung? Frage 2. Warum wurden Betroffene mit Behinderung nicht gleich bei der Einführung der Fonds "Heimerziehung West" und "Heimerziehung in der DDR" berücksichtigt? Die Fragen 1 und 2 werden wie folgt gemeinsam beantwortet: Der "Runde Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren", der sich, dem Auftrag des Petitionsausschusses des Bundestags entsprechend, schwerpunktmäßig mit der Aufarbeitung der Situation in Heimen der Erziehungshilfe befasst und Empfehlungen zur Rehabilitierung ehemaliger Heimkinder und zur Anerkennung des erfahrenen Leids entwickelt hat, hat in seinem Abschlussbericht darauf hingewiesen, dass aus dem Bereich der Behinderteneinrichtungen ähnliche Probleme berichtet werden wie aus der Heimerziehung in der Jugendhilfe. Daher hat der Bundestag in seinem Beschluss vom 7. Juli 2011 die Bundesregierung aufgefordert, die Vorschläge des “Runden Tisches" zur Rehabilitierung von ehemaligen Heimkindern in der Jugendhilfe umzusetzen und zugleich in Abstimmung mit den Ländern “auch für andere Opfergruppen (…) Regelungen zu finden". Vor diesem Hintergrund wurde unmittelbar die Empfehlung des “Runden Tisches" zur Einrichtung eines Fonds “Heimerziehung" umgesetzt. Parallel wurden Gespräche aufgenommen über Rehabilitierungsmöglichkeiten auch für Menschen in Behinderteneinrichtun- Eingegangen am 13. Juli 2016 · Bearbeitet am 13. Juli 2016 · Ausgegeben am 15. Juli 2016 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/3440 13. 07. 2016 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3440 gen und Kinder- und Jugendpsychiatrien. Es bestand daher von Beginn an das Ziel, für alle genannten Bereiche Regelungen zu finden. Die getrennte Bearbeitung und die Verteilung auf zwei Unterstützungssysteme erklären sich also durch die Genese der Aufarbeitung und Beschlussfassung . Die Federführung der Entwicklung eines Unterstützungssystems lag zudem bei der Bundesregierung . Es ist erfreulich und wichtig, dass nach einem längeren Beratungsprozess, der auch unterschiedliche fachliche Anforderungen der jeweiligen Hilfesysteme berücksichtigen musste, nun auch für die Betroffenen aus Behinderteneinrichtungen und Psychiatrien absehbar eine Entschädigung erfolgen kann. Frage 3. Wie erklärt sich die Landesregierung, dass Betroffene mit Behinderung eine eklatant geringere Entschädigung erhalten - in Extremfällen über 20.000 € weniger - als Betroffene ohne Behinderungen ? Bei der Erarbeitung einer Anerkennungs- und Unterstützungsleistung für ehemalige Heimbewohner von Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie ist es wichtig, in einem Hilfesystem die Erfahrungen mit der Umsetzung der bestehenden Fonds “Heimerziehung" West bzw. Ost zu berücksichtigen, und im Hinblick auf den besonderen Personenkreis (Vielzahl von Personen mit geistiger Behinderung) den Betroffenen Leistungen in einem vereinfachten Verfahren zukommen zu lassen. Der erarbeitete Vorschlag einer Arbeitsgruppe (Arbeitsgruppe zur Errichtung der Stiftung “Anerkennung und Hilfe"), bestehend aus Vertretern der ASMK, GMK, JFMK, FMK, der Kirchen, des BMAS sowie BMG und BMF, sieht im Gegensatz zu den bestehenden Fonds daher eine pauschale Geldleistung vor, die für die Betroffenen weniger bürokratischen Aufwand bedeutet und zudem leichter und insbesondere schneller administrierbar ist. Bei den bestehenden Fonds führt die Gewährung von Sachleistungen zu einem aufwendigen Verwaltungsverfahren zur Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs bei den Betroffenen und der zur Linderung der Folgewirkungen geeigneten Sachleistung. Eine pauschale Ausgestaltung der Unterstützungsleistungen bedeutet daher Reduzierung der Bearbeitungsdauer in den Anlaufund Beratungsstellen. Die von der Arbeitsgruppe in langwierigen Verhandlungen vorgeschlagenen Höhen der Grundpauschale (bis 9.000 €) und ggf. hinzukommender Rentenersatzleistungspauschale (bis zu 5.000 €) orientieren sich in etwa an den Erfahrungswerten mit den Fonds “Heimerziehung": dort wurden überwiegend 10.000 € Sachleistungen ausgeschöpft und durchschnittlich 6.000 € Rentenersatzleistung erbracht. Der geleistete Durchschnittsbetrag für den individuellen Hilfebedarf pro Person aus dem bestehenden Heimkinderfonds beträgt in Hessen etwa 14.500 €. Anhaltspunkte für eine im Durchschnittsbereich eklatant geringere Entschädigung liegen nicht vor. Die Festsetzung der Höhe der Pauschale hat angemessen zu berücksichtigen, dass die Betroffenen einen erleichterten, verwaltungsschlanken Zugang zu finanzieller Unterstützung erhalten und nicht die “Eignung" der pauschalen Geldleistung zur Linderung der anhaltenden Folgewirkungen nachweisen müssen, also die Verwendung in das eigene Ermessen der Betroffenen gestellt wird. Im Gegensatz zu den Leistungen der bestehenden Fonds soll eine zweckbestimmte Mittelverwendung nicht gefordert und kontrolliert werden. Es ist auch zu beachten, dass eine Geldpauschale stets in voller Höhe ausgereicht wird, während die Sachleistung der bestehenden Fonds nur in Höhe der dafür anfallenden Kosten gewährt wird, d.h., die vorgesehenen 10.000 € lediglich die Obergrenze bilden und nicht ausgeschöpft werden, wenn die Kosten der zur Linderung der anhaltenden Folgewirkung geeigneten Sachleistung geringer ausfällt. Frage 4. Sieht die Landesregierung einen Widerspruch in dieser Benachteiligung von Menschen mit Behinderung zu dem Artikel 3 GG sowie zur UN-Behindertenrechtskonvention? Frage 5. In welchem Maße versucht die Hessische Landesregierung, die in der Arbeitsgruppe zur "Stiftung Anerkennung und Hilfe" durch Staatsminister Stefan Grüttner in der Jugend- und Familienministerkonferenz vertreten ist, dieser Benachteiligung entgegenzuwirken? Die Fragen 4 und 5 werden wie folgt gemeinsam beantwortet: Die Landesregierung sieht in der Art und Höhe der vorgeschlagenen Ausgestaltung des Hilfesystems keine Benachteiligung im Sinne der Fragestellung. Eine selbstbestimmt verwendbare Pauschale für Anerkennung und Milderung von Folgewirkungen aus Leid und Unrecht ist mit der Zielsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Grundsatz einer inklusiven Teilhabe sowie der damit einhergehenden Stärkung des Wunsch- und Wahlrechtes der Betroffenen in Einklang zu bringen und fand die Akzeptanz in den erfolgten Anhörungen und Stellungnahmen der potenziell Betroffenen. Im Übrigen wird auf die Beantwortung der Frage 3 verwiesen. Wiesbaden, 1. Juli 2016 Stefan Grüttner