Kleine Anfrage des Abg. Rock (FDP) vom 12.07.2016 betreffend Auswirkungen der Energieeinsparverordnung und Antwort des Ministers für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung Vorbemerkung des Fragestellers: Nach der Studie des Instituts für Wohnen und Umwelt in Darmstadt fehlen bis zum Jahr 2040 in Hessen insgesamt 517.000 Wohnungen. Der Regionalverband Frankfurt/Rhein-Main erwartet, dass im Rhein-Main- Gebiet bis zum Jahr 2030 gut 184.000 Wohnungen fehlen, davon über 73.000 Wohnungen in der Stadt Frankfurt und über 27.000 Wohnungen im Landkreis Offenbach. Die Deckung des enormen Bedarfs an Wohnungen wird wesentlich durch einen deutlichen Anstieg der Bauerstellungskosten gebremst. Die Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen e.V. (ARGE Kiel), die u.a. auch für das Bundesbauministerium die Kostensteigerungen untersucht hat, sieht in dem Anstieg der energetischen Anforderungen an Um- und Neubauten einen wesentlichen Kostentreiber. So führe die Energieeinsparverordnung 2016 (EnEV2016) gegenüber den Anforderungen der Energieeinsparverordnung 2014 (EnEV2014) zu Mehrkosten von im Durchschnitt 7,5 %. "Die Grenze der wirtschaftlichen Vertretbarkeit, insbesondere für den mehrgeschossigen Wohnungsbau [sei] demnach mit der EnEV 2014 erreicht". Vorbemerkung des Ministers für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung: Die Energieeinsparverordnung (EnEV) ist eine Bundesverordnung und beruht auf dem Energieeinsparungsgesetz (EnEG) sowie der EU-Energieeffizienzrichtlinie, der EU-Gebäuderichtlinie und der delegierten Verordnung Nr. 244/2012 der Europäischen Kommission zur Ergänzung der EU-Gebäuderichtlinie. Mit der EnEV 2009 wurden die Anforderungen an die energetische Qualität von Neubauten erstmals seit dem Inkrafttreten der ersten EnEV am 1. Februar 2002 angehoben. Diese Anforderungen blieben zwischen dem Inkrafttreten der EnEV 2009 am 1. September 2009 und dem 31. Dezember 2015 konstant. Eine Erhöhung der energetischen Standards für den Neubau, trat erst mit der EnEV 2014 nach einer Übergangsfrist ab dem 01. Januar 2016 in Kraft. Derzeit ist eine weitere Novellierung in Vorbereitung, um den Anforderungen der EU-Gebäuderichtlinie zu entsprechen. Als Vorbereitung und Grundlage für die Fortentwicklung der energiesparrechtlichen Vorschriften diente dem Bund jeweils eine Reihe von Gutachten. Die wirtschaftliche Vertretbarkeit (§ 5 Abs. 1 EnEG) des jeweiligen Anforderungsniveaus ist durch Untersuchungen von Gutachtern an typischen Gebäuden belegt. Die Landesregierung geht davon aus, dass die Bundesregierung ein kostenoptimales energetisches Anforderungsniveau an Neubauten nach den einschlägigen Rechtsvorschriften und EU- Richtlinien festgelegt hat. Diese Vorbemerkungen vorangestellt, beantworte ich die Kleine Anfrage im Einvernehmen mit der Ministerin für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wie folgt: Frage 1. Wie haben sich nach Auffassung der Landesregierung die erhöhten energetischen Anforderungen in den letzten fünf Jahren auf die Entwicklung der Bauerstellungskosten im Bereich des Wohnungsbaus ausgewirkt? Für den gefragten Zeitraum ist bis zum 31. Dezember 2015 die EnEV 2009 als Referenz heranzuziehen . Da sich das Anforderungsniveau im Neubau in diesem Zeitraum - wie in der Vorbemerkung dargestellt - nicht verändert hat, gab es bis dahin keine investiven Mehrkosten durch ein geändertes Anforderungsniveau. Erst ab dem 1. Januar 2016 sind Baukostensteigerungen durch das höhere Anforderungsniveau zu verzeichnen. Eingegangen am 30. August 2016 · Bearbeitet am 2. September 2016 · Ausgegeben am 5. September 2016 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/3609 30. 08. 2016 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3609 Empirisch abgesicherte Kostenfunktionen und Kostenkennwerte liegen der Landesregierung für den Neubau nicht vor. Annäherungsweise können Kostendaten aus mehreren Studien für den mehrgeschossigen Wohnungsbau (MFH), die das Institut Wohnen und Umwelt ausgewertet hat, herangezogen werden. Die Mehrkosten beziehen sich auf den KfW 70-Standard gegenüber der EnEV 2009/2014. Die ab 1. Januar 2016 geltenden Anforderungen der EnEV 2014 entsprechen ungefähr diesem Standard bzw. liegen sogar geringfügig darunter. Demnach sind voraussichtlich bei MFH ungefähre Kostensteigerungen ab 1. Januar 2016 wie folgt zu erwarten: Investive Mehrkosten durch erhöhte energetische Anforderungen (gegenüber EnEV 2009/2014) 2011 bis 2015 ab 01.01.2016 in €/m² Wohnfläche (Kostengruppen 300 + 400) 0 €/m² ca. 75 €/m² in Prozent (bezogen auf durchschnittliche Baukosten von 1.300/1.400 €/m²) 0 % ca. 5,8/5,4 % Tabelle: Investive Mehrkosten ab 1. Januar 2016 durch erhöhte energetische Anforderungen (brutto) im Neubau für den mehrgeschossigen Wohnungsbau (gegenüber EnEV 2009/2014) mit Gas-Brennwert-Kessel und thermischer Solaranlage (Warmwasser), Preisstand 2014. Quelle: www.iwu.de/fileadmin/user_upload/flyer/Mehrkosten_geg_EnEV_MFH_End.pdf Frage 2. Wie hoch schätzt die Landesregierung den Kostensteigerungseffekt höherer energetischer Anforderungen in den letzten fünf Jahren im Ballungsraum Rhein-Main auf die Entwicklung der durchschnittlichen Kaltmietpreise ein? Die Kostensteigerungen durch höhere energetische Anforderungen wirken sich zunächst auf die Herstellungskosten und nicht unmittelbar auf die Wohnungsmieten aus. Für die Frage, in wie weit diese Kosten auf die Mieterinnen und Mieter umgewälzt werden können, kommt es auf die Verhältnisse des jeweiligen Mietwohnungsmarktes an. Die derzeit zu beobachtenden Preissteigerungen bei Neubauten in Ballungsräumen sind zum größten Teil durch die gestiegenen Baulandpreise verursacht. In den größten deutschen Städten verlaufen die Preissteigerungen von den Herstellungskosten abgekoppelt. Hier wirkt sich die hohe Nachfrage bei zu knappem Angebot preistreibend aus. Entlastend für den Mietwohnungsmarkt wirken sich dagegen die gesunkenen Kapitalkosten und die Renditeerwartungen aus. Die Mieterinnen und Mieter profitieren von den energetischen Standards durch Kostenersparnisse bei den Betriebskosten. Frage 3. Wurden die bei der EnEV2014 und EnEV2016 in den Modellberechnungen zu Grunde gelegten Einsparpotenziale durch praxisnahe, reale und verallgemeinerbare Messungen überprüft? Die in den von der zuständigen Bundesregierung beauftragten Modellberechnungen zur Novellierung der EnEV verwendeten Energiebilanzverfahren (EnEV-Verfahren) berechnen einen (theoretischen) Endenergiebedarf unter Verwendung von Standardrandbedingungen (z.B. zur Raumtemperatur). Die in diesen Verfahren ermittelten Werte für den Endenergiebedarf weichen im Neubau sehr viel weniger von realen Verbrauchswerten ab als im Bestand und können daher als ausreichend genau bezeichnet werden. Diese allgemeine Einschätzung wurde durch wissenschaftlich begleitete Neubauprojekte und weitere Forschungsvorhaben bestätigt. Frage 4. Von welchem Zinsniveau und Kostensteigerungen im Bereich der Energiepreise p.a. gehen die Modellberechnungen bei der EnEV2014 und der EnEV2016 aus, damit die (modellhaft errechneten ) eingesparten Energiemengen die höheren Investitionsaufwendungen wirtschaftlich rechtfertigen ? Die Bundesregierung hat die der EnEV 2014 zugrunde liegenden Wirtschaftlichkeitsgutachten für die Fortschreibung der Energieeinsparverordnung veröffentlicht. Als Zinssatz für ein Hypothekendarlehen wurden 4,5 % (nominal) angesetzt; bei einer Inflationsrate von 1% ergibt sich daraus ein Realzins von (gerundet) 3,5 %. Höhere und niedrigere reale Zinsniveaus wurden alternativ betrachtet. Ausgehend von einem Basispreis von 7,5 €Cent/kWh für fossilen Brennstoff , von 4,5 €Cent für Pellets und 0,22 €Cent für Strom wurden für einen Betrachtungszeitraum von 40 Jahren für unterschiedliche Ausführungsvarianten Berechnungen durchgeführt, denen verschiedene reale jährliche Energiepreissteigerungen für alle Energieträger zu Grunde gelegt sind: 0,5 %/a (unterer Preispfad), 1,3 %/a (mittlerer Preispfad) sowie 1,7 %/a (oberer Preispfad). (Quellen: Untersuchung zur weiteren Verschärfung der energetischen Anforderungen an Gebäuden mit der EnEV 2012 - Anforderungsmethodik, Regelwerk und Wirtschaftlichkeit, BMVBS-Online-Publikation 30/12 Ergänzungsuntersuchungen zum Wirtschaftlichkeitsgutachten für die Fortschreibung der Energieeinsparverordnung, BMVBS-Online-Publikation 05/2012) Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3609 3 Frage 5. Welche Wohnungsbauunternehmen hat die Landesregierung dahingehend befragt, wie sich aus deren Sicht die gestiegenen energetischen Anforderungen auf die Schaffung zusätzlichen Wohnraums im Rhein-Main-Gebiet auswirken? Frage 6. Wie bewerten die befragten Wohnungsbauunternehmen die Auswirkungen der gestiegenen energetischen Anforderungen im Hinblick auf die Schaffung der dringend benötigten zusätzlichen Wohnungen? Die Fragen 5 und 6 werden aufgrund ihres Sachzusammenhangs zusammen beantwortet. Da die Energieeinsparverordnung nicht vom Land, sondern vom Bund verordnet wird, hat die Landesregierung keine Befragung bei den Wohnungsunternehmen durchgeführt. Frage 7. Welche weiteren Verschärfungen der energetischen Anforderungen für den Neu- und Umbau von Wohnungen sind nach Ansicht der Landesregierung wirtschaftlich gerechtfertigt? Die Landesregierung geht davon aus, dass die Bundesregierung bei Vorschlägen zur Festlegung des Niedrigstenergie-Gebäudestandards für Neubauten das Wirtschaftlichkeitsgebot des EnEG beachten wird. Außerdem gibt die delegierte Verordnung Nr. 244/2012 in Ergänzung zur EU- Gebäuderichtlinie (Richtlinie 2010/31/EU) einen Rahmen für eine Vergleichsmethode zur Berechnung kostenoptimaler Niveaus von Mindestanforderungen an die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden und Gebäudekomponenten vor. Frage 8. Wie hoch (in Prozent) dürfen nach Ansicht der Landesregierung weitere Baukostensteigerungen aufgrund steigender energetischer Anforderungen ausfallen, ohne dass die avisierten Ziele bei der Schaffung neuen Wohnraums verfehlt werden? Nach verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen sind insgesamt in den letzten Jahren unter Berücksichtigung der allgemeinen Teuerungsrate nur moderate Kostensteigerungen bei Hochbauleistungen zu beobachten gewesen. Ein hemmender Einfluss auf die Wohnbautätigkeit wird daher nicht gesehen. Aufgrund des maßgeblichen Einflusses der gesamtwirtschaftlichen Lage, insbesondere der Lohn- und Zinsentwicklung auf die zukünftige Wohnkaufkraft, kann eine Bewertung der vom Markt akzeptierten realen Kostensteigerungen im Voraus nicht vorgenommen werden. Die hemmenden Faktoren in den Ballungsräumen sind vor allem die zu langsame Mobilisierung der vorhandenen Flächenreserven und die Preise der Grundstücke. Wiesbaden, 22. August 2016 Tarek Al-Wazir