Kleine Anfrage des Abg. Rock (FDP) vom 12.07.2016 betreffend Abstandsgrenzen von Windkraftanlagen zu gefährdeten Arten und Antwort der Ministerin für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Die Kleine Anfrage beantworte ich im Einvernehmen mit dem Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung wie folgt: Frage 1. Welche Abstandsgrenzen zu welchen besonders schutzbedürftigen Arten werden im Rahmen der Genehmigung von Windkraftanlagen durch die drei hessischen Regierungspräsidien in der Praxis zu Grunde gelegt? Bei Vorkommen sogenannter windkraftsensibler schutzbedürftiger Arten im Umfeld beantragter Windenergieanlagen wird in jedem Einzelfall in Abhängigkeit der konkreten Sachverhaltsermittlung des Antragstellers eine naturschutzfachliche Bewertung durch die Zulassungsbehörde vorgenommen . Die Regierungspräsidien legen hierbei die Abstandsempfehlungen zu Grunde, die im "Leitfaden Berücksichtigung der Naturschutzbelange bei der Planung und Genehmigung von Windkraftanlagen (WKA) in Hessen" (damaliges Ministerium für Umwelt, Energie, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, damaliges Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung vom 29. November 2012) genannt sind. Soweit sich aus den aktuellen Empfehlungen der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten "Abstandsempfehlungen für Windenergieanlagen zu bedeutsamen Vogellebensräumen sowie Brutplätzen ausgewählter Vogelarten" (sogenanntes "Helgoländer Papier 2015") neuere Erkenntnisse ergeben und die Einbeziehung der länderspezifischen Besonderheiten des Naturraums vorgeschlagen wird, findet auch dies Berücksichtigung. In den meisten Fällen werden die Abstandsempfehlungen im Zulassungsverfahren in der Form eingesetzt, dass bei entsprechenden Brutvorkommen innerhalb der empfohlenen Abstände genauere Untersuchungen über das konkrete Flugverhalten - beispielsweise des jeweiligen Vogelpaares - vorgenommen werden, sogenannte Raumnutzungsanalysen. Auf diese Weise wird zum Beispiel ermittelt, ob die geplanten Windenergieanlagen (WEA) tatsächlich in einem Bereich stehen werden, in denen regelmäßige Flugbewegungen zu erwarten sind und daher ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko gegeben wäre. Ist dies nicht der Fall und sind auch keine sonstigen artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände zu prognostizieren (keine erhebliche Störung der Lokalpopulation , kein Verlust von Fortpflanzungs- und Ruhestätten), können die Anlagen genehmigt werden, unabhängig von pauschalen Abstandsempfehlungen. In die Entscheidung werden nach konfliktvermeidender Standortauswahl notwendige Vermeidungs - und funktionale Ausgleichsmaßnahmen - soweit geeignet - einbezogen und festgesetzt. Frage 2. In welchen Bereichen weichen die vorgeschriebenen Abstandsgrenzen in welcher Weise von den Empfehlungen der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten (Helgoländer Papier) ab? Die "Abstandsempfehlungen für Windenergieanlagen zu bedeutsamen Vogellebensräumen sowie Brutplätzen ausgewählter Vogelarten" der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten (das sogenannte "Helgoländer Papier") wurden im Jahr 2007 veröffentlicht und im Jahr 2015 überarbeitet. Die Länderarbeitsgemeinschaft empfiehlt darin konkrete Mindestabstände oder Prüfbereiche für Windenergieanlagen (WEA) zu bestimmten Vogellebensräumen und Brutvorkommen WEA-sensibler Arten. Die zur Vermeidung eines signifikant erhöhten Tötungsrisikos im Einzelfall fachlich ermittelten und daher rechtlich erforderlichen Mindestabstände können in Abhängigkeit von den Habitatbedingungen höher oder niedriger liegen als die Empfehlungen Eingegangen am 30. August 2016 · Bearbeitet am 5. September 2016 · Ausgegeben am 8. September 2016 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/3613 30. 08. 2016 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3613 des Helgoländer Papiers. Die 55. Amtschefkonferenz Umwelt hat am 21. Mai 2015 im Kloster Banz den TOP 12: "Abstandsempfehlungen für Windenergieanlagen zu bedeutsamen Vogellebensräumen sowie Brutplätzen ausgewählter Vogelarten" der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten abschließend behandelt und hierzu folgenden Beschluss gefasst, der mit dem oben genannten Vorgehen in Hessen im Einklang steht: "1. Die Amtschefkonferenz nimmt den Bericht der LANA über die Abstandsempfehlungen der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten zur Kenntnis. 2. Die Amtschefkonferenz nimmt darüber hinaus zur Kenntnis, dass inzwischen vielfältige wissenschaftliche Studien zum Verhalten windenergieempfindlicher Vogelarten vorliegen . Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die naturräumlichen Gegebenheiten, die Flächennutzung sowie das vorkommende Artenspektrum und daher die jeweiligen Nutzungskonflikte in den Regionen unterschiedlich sein können. Einheitliche Empfehlungen sind deshalb nicht möglich. Die in den Ländern zu ergreifenden Maßnahmen müssen dem Rechnung tragen. Dadurch finden im Ländervergleich zunächst unterschiedlich erscheinende Positionen ihre fachliche Rechtfertigung. 3. Die Amtschefkonferenz stellt fest, dass die Planungs- und Vorhabenträger durch Raumnutzungsanalysen jeweils nachweisen können, dass sich WEA tatsächlich nicht negativ auf die jeweils vorkommenden Vogelarten auswirken. Sie begrüßt insbesondere die Empfehlungen ornithologischer Fachstudien, erhebliche Beeinträchtigungen windenergieempfindlicher Arten durch gezielte Maßnahmen (bspw. Flächennutzung) zu minimieren. Die Amtschefkonferenz legt Wert darauf, dass Vermeidungsmaßnahmen genutzt werden, um frühzeitig Konflikte von Artenschutz und Windenergienutzung auszuschließen." Die zur Vermeidung eines erhöhten Tötungsrisikos im Einzelfall erforderlichen Abstände werden in Hessen regelmäßig eingehalten. Die hierbei der Zulassungsbehörde zustehende fachbehördliche Einschätzungsprärogative ist durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigt worden (BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2013 - 4 C 1.12 -, juris Rn. 14). Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat in verschiedenen Entscheidungen fachbehördlich hinreichend begründete Überoder Unterschreitungen empfohlener Abstände als zulässig erachtet [z.B. Beschluss vom 17. Dezember 2013, Az.: 9 A 1540/12.Z (Dens) oder Beschluss vom 28. Januar 2014, Az.: 9 B 2184/13 (Hilsberg)]. Frage 3. Für welche Vogel- und Fledermausarten wurden die Anforderungen an Abstandsgrenzen in den letzten drei Jahren in den Geltungsbereichen der Regierungspräsidien Darmstadt, Kassel und Gießen reduziert? Eine pauschale "Reduktion" von Abstandsgrenzen mit der Folge, dass der Schutz vor dem Eintritt eines artenschutzrechtlichen Verbotstatbestandes nach § 44 Abs. 1 BNatSchG für Vogeloder Fledermausarten nicht mehr gewährleistet ist, erfolgte nicht. Wie bereits in der Antwort zu Frage 2 ausgeführt, können pauschale Abstandsempfehlungen im Einzelfall dann unterschritten werden, wenn festgestellt wird, dass bedingt durch die Art der Habitatnutzung oder -ausstattung kein erhöhtes Kollisionsrisiko entsteht. Ferner können Maßnahmen festgeschrieben werden, die auf andere Art und Weise als durch einen "Mindest-Abstand zwischen Windenergieanlage und schutzbedürftigem Artvorkommen" die Vermeidung eines signifikant erhöhten Tötungsrisikos sicherstellen. Dies kann z.B. eine Betriebszeitenregelung mit entsprechender Abschaltung von WEA sein. Die Regierungspräsidien wenden diese Möglichkeiten an. Auf die Antworten zu den Fragen 1 und 2 wird verwiesen. Frage 4. Wie begründet die Landesregierung die Absenkung naturschutzrechtlicher Standards? Eine Absenkung naturschutzrechtlicher Standards ist aus Sicht der Landesregierung nicht gegeben (s. Antworten zu den Fragen 3 und 4). Bei einigen Arten (z. B. der Mopsfledermaus) wurde bereits seit 2013 geprüft, ob der Mindestabstand weiterhin als alleinige Maßnahme zur Vermeidung des Eintritts von artenschutzrechtlichen Verbotstatbeständen zu betrachten ist oder ob angesichts eines fortgeschrittenen Kenntnisstandes zur Konfliktträchtigkeit zwischen WEA- Nutzung und Schutz der Arten alternativ auch andere fachlich geeignete Vermeidungsmaßnahmen mit geringeren Einschränkungen für den Windenergieausbau möglich sind (z. B. mit Hilfe einer Betriebszeitenregelung). Dies bedeutet keine Absenkung von naturschutzrechtlichen Standards , sondern entspricht dem rechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Vermeidung Bei der Prüfung, ob artenschutzrechtliche Verbotstatbestände erfüllt sind, hat die Rechtsprechung der Zulassungsbehörde einen naturschutzfachlichen Beurteilungsspielraum eingeräumt. Die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätze zur naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative der Planfeststellungsbehörde im Planfeststellungsverfahren (vgl. BVerwG Urteile vom 9. Juli 2008/Az.: 9 A 14.07, vom 12. August 2009/Az.: 9 A Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3613 3 64.07, vom 14. April 2010/Az.: 9 A 5.08 und vom 14. Juli 2011/Az.: 9 A 12.10) gelten auch in Genehmigungsverfahren. Dabei bezieht sich die behördliche Einschätzungsprärogative sowohl auf die Erfassung des Bestands der geschützten Arten als auch auf die Bewertung der Gefahren , denen die Exemplare der geschützten Arten bei Realisierung des zur Genehmigung stehenden Vorhabens ausgesetzt sein würden. Die Ausübung der artenschutzrechtlichen Einschätzungsprärogative kann im Einzelfall ebenfalls zur fachlich begründeten Abweichung von in Fachpapieren empfohlenen Mindestabständen führen. Auch dies stellt keine Absenkung von Naturschutzstandards dar. Frage 5. Welchen konkreten Einfluss haben die Absenkung naturschutzrechtlicher Standards, insbesondere die Reduzierung von Abstandsgrenzen und die Lockerung von Ausschlusskriterien auf die Ausweisung von Windvorranggebieten? Hierzu wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Auch für die Regionalplanung gilt, dass es der pauschalen Einhaltung bestimmter Abstände nicht bedarf, wenn diese aufgrund genauerer Informationen fachlich nicht geboten und daher weder rechtlich erforderlich sind noch rechtlich durchgesetzt werden könnten. Eine Absenkung naturschutzrechtlicher Standards oder Lockerung von Ausschlusskriterien erfolgt in diesen sachlich begründeten Fällen nicht. Frage 6. Bei der Genehmigung welcher konkreten Windkraftanlagen wurden im Einzelfall geringere Abstandsgrenzen zugelassen, die nach den allgemeinen Regelungen vorgesehen waren oder sind? In den Regierungspräsidien werden keine entsprechenden Statistiken zu konkreten Abständen bzw. den Inhalten der Genehmigungen geführt (hierzu wird auch auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen). In allen Zulassungsverfahren werden die im Einzelfall fachlich und rechtlich erforderlichen Abstandsgrenzen eingehalten. Wiesbaden, 19. August 2016 Priska Hinz