Kleine Anfrage des Abg. Greilich (FDP) vom 23.08.2016 betreffend Überstellung von Straftätern in die Türkei und Antwort der Ministerin der Justiz Vorbemerkung des Fragestellers: Auf Grundlage des Überstellungsübereinkommens des Europarates können in Deutschland verurteilte Straftäter zur weiteren Verbüßung einer Haftstrafe an Herkunftsländer überstellt werden. Grundsätzlich richtet sich der Strafvollzug und die Möglichkeit vorzeitiger Haftentlassung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates, allerdings hat sich Deutschland im Rahmen des Abkommens vorbehalten, die Zustimmung zur Überstellung mit der Bedingung zu verbinden, dass ein Gnadenerweis nur im Einvernehmen mit dem deutschen Gnadenträger erfolgt. Aufgrund der innenpolitischen Lage in der Türkei gibt es Anhaltspunkte, dass die türkische Regierung eine erhebliche Zahl von Straftätern aus türkischen Gefängnissen im Rahmen eines Notstanddekretes entlassen will, um Kapazitäten für Gefangene infolge des Putschversuchs zu schaffen. Diese Vorbemerkungen des Fragestellers vorangestellt, beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1. Wie viele Personen aus Hessen wurden in den Jahren seit 2010 im Rahmen des Abkommens an die Türkei überstellt? Hinsichtlich der Anzahl der Überstellungen von Verurteilten an andere Staaten wird keine Statistik geführt. Eine Auswertung der elektronisch erfassten Rechtshilfevorgänge im Hessischen Ministerium der Justiz ergab, dass seit 2010 vier verurteilte türkische Staatsangehörige auf der Grundlage des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 in die Türkei überstellt worden sind. Frage 2. Hat die Landesregierung Erkenntnisse darüber, ob aus Hessen an die Türkei überstellte Straftäter vorzeitig aus der Haft entlassen worden sind? Wenn ja, bitte detaillierte Darstellung der Fälle. Die Landesregierung hat lediglich in einem Fall Erkenntnisse darüber, dass ein aus Hessen an die Türkei überstellter Straftäter seit 2010 vorzeitig aus der Haft entlassen worden ist. Der betreffende Verurteilte wurde am 18. März 1999 vom Landgericht Frankfurt am Main wegen Mordes in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit einem Waffendelikt, zu einer lebenslangen Freiheitstrafe verurteilt. Zugleich wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Das Urteil ist seit 2. Februar 2000 rechtskräftig. Im Juli 2000 beantragte der Verurteilte bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main seine Überstellung in die Türkei zur dortigen weiteren Strafvollstreckung. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main lehnte den Antrag des Verurteilten am 29. Mai 2001 mit der Begründung ab, dass die Interessen der deutschen Rechtspflege an einer Fortsetzung der Vollstreckung überwiegen würden. Wegen des besonderen Maßes an Schuld, welche der Verurteilte auf sich geladen habe, sei es geboten, die weitere Strafvollstreckung in Deutschland durchzuführen. Mit Verbalnote vom Oktober 2003 teilte die Botschaft der Republik der Türkei mit, dass der Bruder des Verurteilten um dessen Überstellung gebeten habe. Die Anregung eines Überstellungsersuchens wurde jedoch von der Staatsanwaltschaft aus den Gründen des Bescheides vom 29. Mai 2001 weiterhin abgelehnt. Im September 2006 äußerte der Verurteilte erneut den Wunsch um Überstellung in sein Heimatland , was die Staatsanwaltschaft Frankfurt mit Bescheid vom 24. November 2006 zurückwies. Hiergegen erhob der Verteidiger des Verurteilten Einwendungen, weshalb mit Verbalnote im Eingegangen am 5. Oktober 2016 · Bearbeitet am 6. Oktober 2016 · Ausgegeben am 11. Oktober 2016 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/3704 05. 10. 2016 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3704 Juni 2007 bei den türkischen Behörden angefragt wurde, mit welcher Dauer der Strafverbüßung der Verurteilte bei einer Überstellung zu rechnen hätte. Mit Verbalnote vom Januar 2008 teilte die Botschaft der Republik Türkei mit, dass der Verurteilte bei erfolgter Überstellung voraussichtlich im Oktober 2014 bedingt aus der Haft entlassen werden könnte. Mit Bescheid vom 9. Februar 2008 wies die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main die Einwendungen des Verurteilten gegen den Bescheid vom 24. November 2006 zurück. Im August 2011 regte die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main schließlich doch ein Überstellungsersuchen an die türkischen Behörden an. Ursächlich hierfür war eine Entscheidung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Koblenz vom 3. Dezember 2010, aus der hervorging , dass die besondere Schwere der Schuld es gebiete, dass der Verurteilte mindestens 17 Jahre der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe verbüßen müsse. Danach wäre der Entlassungszeitpunkt der 19. Dezember 2014 gewesen. Dementsprechend stand eine Entlassung des Verurteilten in der Türkei im Oktober 2014 und somit nach 16 Jahren und 9 Monaten dem Interesse der deutschen Rechtspflege an einem gerechten Schuldausgleich nicht mehr grundsätzlich entgegen. Mit Verbalnote vom Oktober 2011 wurden die türkischen Behörden um Überstellung des Verurteilten unter der Bedingung ersucht, dass die Freiheitsstrafe bis mindestens 19. Dezember 2014 vollstreckt werde und dass vor einem eventuellen Gnadenerweis der deutsche Gnadenträger beteiligt werde. Mit Verbalnote vom Dezember 2011 teilte die türkische Botschaft mit, dass das türkische Justizministerium der Auffassung sei, der zu Überstellende werde einen Anspruch auf eine bedingte Entlassung etwa im Oktober 2014 haben. Von Gesetzes wegen wäre das Entlassungsdatum der 20. Dezember 2033. Die Entlassung auf Bewährung sei jedoch kein Automatismus, sondern es müsse durch ein Gerichtsurteil festgelegt werden, ob und ggf. wann der Verurteilte einen Anspruch auf eine Entlassung auf Bewährung habe oder nicht. Einer Überstellung wurde daraufhin mit Verbalnote vom März 2012 zugestimmt. Mit Verbalnote vom August 2012 wurde das vom 2. Schwurgericht Ankara am 24. April 2012 erlassene Umwandlungsurteil und die darin festgelegte Sanktion sowie die Haftfristenbescheinigung übermittelt und um Mitteilung gebeten, ob die Überstellung in diesem Zusammenhang bewilligt werde. In der Verbalnote selbst wurde nicht darauf hingewiesen, dass das von deutscher Seite avisierte Entlassungsdatum damit nicht zugesichert werden könne. Aus der beigefügten Haftfristenbescheinigung ergab sich jedoch, dass unter Anwendung türkischer Gesetze - insbesondere des Gesetzes Nr. 4616 - eine Entlassung schon im Jahre 2003 hätte erfolgen müssen. Mit Übersendung dieser Verbalnote teilte das Bundesamt für Justiz dem Hessischen Ministerium der Justiz zugleich mit, dass man das Auswärtige Amt gebeten habe, den türkischen Behörden mitzuteilen, dass man bereits im März 2012 die Zustimmung zur Überstellung übermittelt habe. Der Verurteilte wurde schließlich am 16. November 2012 den türkischen Behörden übergeben. Er wurde am Tag danach und somit knapp zwei Jahre vor dem ursprünglich genannten möglichen Entlassungstermin (Oktober 2014) aus der Haft entlassen. Die türkischen Behörden wiesen mit Verbalnote vom Oktober 2015 den Vorwurf zurück, gegen eine Zusicherung, der Verurteilte werde nicht vor dem 19. Dezember 2014 entlassen, verstoßen zu haben. Sie hätten im Gegenteil mitgeteilt, dass die Dauer der Vollstreckung von einer gerichtlichen Entscheidung abhänge. Die deutschen Behörden hätten in Kenntnis des Umwandlungsurteils und der Haftfristbescheinigung die Zustimmung zur Überstellung erteilt. Wie sich aus den oben mitgeteilten Abläufen ergibt, wurde die Zustimmung zur Überstellung jedoch auf der Grundlage der Verbalnote vom Dezember 2011 erteilt, mit der das türkische Justizministerium seine Auffassung mitteilte, der zu Überstellende werde einen Anspruch auf eine bedingte Entlassung etwa im Oktober 2014 haben. Frage 3. a) Wie oft wurde in den unter Frage 1. abgefragten Fällen die Zustimmung zur Überstellung mit der Bedingung verbunden, dass ein Gnadenerweis nur im Einvernehmen mit dem deutschen Gnadenträger erfolgt? b) In wie vielen dieser Fälle sind Gnadenerweise und/oder Haftentlassungen erfolgt? c) In wie vielen dieser Fälle wurde ein Einvernehmen mit dem deutschen Gnadenträger hergestellt ? Zu Frage 3 a: Die Bundesrepublik Deutschland hat durch den Vorbehalt zu Art. 12 des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983, wonach jede Vertragspartei im Einklang mit ihrer Verfassung oder anderer Gesetze eine Begnadigung, Amnestie oder eine gnadenweise Abänderung der Sanktion gewähren kann, erklärt, dass sie eine Überstellung von der Bedingung abhängig mache, dass eine Begnadigung nicht ohne vorherige Beteiligung des deutschen Gnadenträgers erfolgen darf. Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3704 3 In zwei der in der Antwort zu Frage 1. erwähnten Überstellungsvorgängen wurde diese Bedingung nochmals explizit im Überstellungsersuchen formuliert; auch im in der Antwort zu Frage 2 dargestellten Fall wurde so verfahren. Zu Frage 3 b: In zwei der in der Antwort zu Frage 1. erwähnten Fälle erfolgte eine bedingte Haftentlassung. In einem Fall war die Entlassung - soweit ersichtlich - nicht Folge eines Gnadenerweises. Sie erfolgte auf Grundlage der in der Türkei vor Überstellung erlassenen Umwandlungsentscheidung und der darin von Staatsanwaltschaft und Gericht ermittelten Fristen (Strafzeitberechnung ), die den deutschen Behörden vor Überstellung übermittelt worden war. Eine solche Strafzeitberechnung lag auch der Umwandlungsentscheidung in dem in der Antwort zu Frage 2. geschilderten Fall zugrunde. Die Entlassung dieses Verurteilten ging jedoch im Ergebnis auf eine Amnestie zurück, die durch das Gesetz Nr. 4616 vom 21. Dezember 2000 für Taten ergangen war, die vor dem 23. April 1999 begangen worden waren. Hauptzweck dieser Amnestie war die Entlastung der überfüllten Gefängnisse. Freiheitsstrafen wurden hiernach um (weitere) 10 Jahre herabgesetzt. Zu Frage 3 c: Ein Hinweis der türkischen Behörden in der Verbalnote vom August 2012 betreffend die Überstellung des in der Antwort zu Frage 2. erwähnten Verurteilten dahingehend, welche konkrete Bedeutung die Anwendung des Gesetzes Nr. 4616 habe und dass es sich hierbei um eine Amnestie handelt, die den Charakter einer Begnadigung hat, erfolgte nicht. Die türkischen Behörden übermittelten lediglich als Anlage die vorgenommene Strafzeitberechnung und baten insoweit um Mitteilung, ob eine Überstellung in diesem Zusammenhang bewilligt werde. Wie in der Antwort zu Frage 2. bereits ausgeführt, war die Bewilligung zu diesem Zeitpunkt auf der Grundlage der Verbalnote der türkischen Seite vom Dezember 2011 schon erfolgt. Frage 4. Sieht die Landesregierung auch bei einer Entlassung von Straftätern nicht per Begnadigung, sondern per Notstandsdekret, wie nun in der Türkei beabsichtigt, gewährleistet, dass Urteile hessischer Gerichte beachtet und rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt werden? Im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen in der Türkei ist fraglich, ob die bisherige Bewilligungs - und Überstellungspraxis beibehalten werden kann. Es bleibt zunächst abzuwarten, ob in der Türkei erlassene Regelungen zur Strafermäßigung oder Straferlass auch auf nach dem Vollstreckungsübereinkommen überstellte Personen anzuwenden sind. Dies würde in vielen Fällen eine Überstellung in die Türkei ausschließen. Frage 5. Wie wird Hessen künftig mit Blick auf die derzeitige innenpolitische Lage in der Türkei hinsichtlich weiterer Überstellungen von Straftätern vorgehen, insbesondere um einer abkommenswidrigen frühzeitigen Haftentlassung vorzubeugen? Eine Überstellung in die Türkei wird künftig nur noch auf der Grundlage einer konkreten und nicht auslegungsfähigen Zusicherung zur Mindestverbüßungsdauer durch die türkischen Behörden möglich sein. Das Hessische Ministerium der Justiz hat die Staatsanwaltschaften mit Erlass vom 12. Juli 2016 gebeten, künftig entsprechend zu verfahren. Wiesbaden, 28. September 2016 Eva Kühne-Hörmann