Kleine Anfrage der Abg. Degen und Merz (SPD) vom 14.09.2016 betreffend Beschulung minderjähriger zugewanderter Kinder und Jugendlicher in hessischen Erstaufnahmeeinrichtungen und Antwort des Kultusministers Vorbemerkung der Fragesteller: Der Hessische Rundfunk berichtete Anfang September davon, dass rund 1000 Flüchtlingskinder in den hessischen Erstaufnahmeeinrichtungen seit Monaten keinen Unterricht erhalten. Das Kultusministerium teilte auf Nachfrage mit, dass die Verweildauer der Kinder in den Erstaufnahmen möglichst kurz sei. Vorbemerkung des Kultusministers: Ausgehend von dem in der Vorbemerkung der Fragesteller zitierten Bericht ist darauf hinzuweisen , dass in den hessischen Erstaufnahmeeinrichtungen Angebote zur Sprachförderung existieren . Den nachfolgenden Ausführungen ist zu entnehmen, weshalb das Hessische Kultusministerium die momentan vorherrschende Praxis - die geflüchteten Kinder und Jugendlichen erst dann einer Schule zuzuführen, wenn sie einer Gebietskörperschaft zugewiesen worden sind - als sinnvoll erachtet. Diese Vorbemerkungen vorangestellt, beantworte ich im Einvernehmen mit dem Hessischen Minister für Soziales und Integration die Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1. Wie viele Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter sind in den hessischen Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht? In der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung, ihren Außenstellen und Standorten sind derzeit 692 Kinder im Alter zwischen 6 und 16 Jahren untergebracht (Stand: 26. September 2016). Durch täglich neu ankommende Asylsuchende und tägliche Zuweisungen von Asylsuchenden in die Kommunen verändert sich die Angabe täglich. Frage 2. Wie viele dieser Kinder und Jugendlichen halten sich dort bereits seit a) bis zu drei Monaten, b) bis zu sechs Monaten, c) bis zu neun Monaten, d) zwölf Monaten oder länger auf? (Bitte nach Erstaufnahmeeinrichtungen getrennt auflisten) Von den genannten 692 Kindern und Jugendlichen halten sich in den Standorten insgesamt a) bis zu 3 Monate 365 Kinder und Jugendliche b) bis zu 6 Monate 181 Kinder und Jugendliche c) bis zu 9 Monate 146 Kinder und Jugendliche auf. Da sich die Zahlen durch Ab- und Zugänge oder Verlegungen in andere Standorte täglich ändern , erfolgte keine getrennte Auflistung nach Standorten. Eingegangen am 9. November 2016 · Bearbeitet am 9. November 2016 · Ausgegeben am 11. November 2016 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/3792 09. 11. 2016 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3792 Frage 3. Wie hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in den Erstaufnahmeeinrichtungen keinen Unterricht erhalten, in den letzten zwei Jahren entwickelt? (bitte die Zahlen zum 30.06. und 31.12 nach Erstaufnahmeeinrichtungen getrennt auflisten) Ausgehend von einem durchschnittlichen Anteil von etwa 15 % von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 6 und 16 Jahren an der Gesamtbelegung der HEAE lassen sich für die genannten Stichtage folgende Entwicklungen festhalten: Zum 30.06.2015 waren es 974 Kinder und Jugendliche, zum 31.12.2015 waren es 3.540 und zum 30.06.2016 handelte es sich um 1.269 Kinder und Jugendliche. Frage 4. Wie informiert sie die verantwortlichen Erziehungsberechtigten dieser Kinder darüber, dass das Recht auf Schulbesuch besteht? Im Rahmen der in der HEAE regelmäßig vorgetragenen und gezeigten Präsentationen zu Sprache und Werten sowie Frauen- und Kinderrechten werden der Schulbesuch in Deutschland, die Schulpflicht und das Schulrecht thematisiert. Frage 5. Auf welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht die Aussage des Sprechers des Kultusministeriums , dass das Unterrichten der Kinder und Jugendlichen in den Erstaufnahmeeinrichtungen pädagogisch nicht sinnvoll ist? Zunächst einmal ist hier darauf hinzuweisen, dass in dem Bericht, auf den in der Vorbemerkung der Fragesteller referiert wird, der Sprecher des Kultusministeriums nicht - wie in Frage 5 formuliert - ausgedrückt hat, dass das Unterrichten in Erstaufnahmeeinrichtungen pädagogisch nicht sinnvoll ist, sondern dass eine direkte Einschulung vor der Zuweisung in eine Kommune und dem damit verbundenen erneuten Ortswechsel aus psychologisch-pädagogischer Sicht nicht unproblematisch ist. Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen in den hessischen Erstaufnahmeeinrichtungen ist zunächst unklar, wie lange ihre Verweildauer dort anhält bzw. wie schnell und oft dann sehr plötzlich eine Zuweisung in eine Gebietskörperschaft und damit ein Umzug erfolgt. Besucht ein Kind oder Jugendlicher bereits eine Schule während des Aufenthalts in einer Erstaufnahmeeinrichtung , muss bei Zuweisung in eine Gebietskörperschaft nach kurzer Verweildauer ein Schulwechsel erfolgen. Sowohl für die betroffenen Kinder und Jugendlichen als auch für die Schulen ist eine Beschulung während der Zeit in der Erstaufnahmeeinrichtung aufgrund dieser unklaren Verweildauer pädagogisch-psychologisch eine hohe Belastung, da der Aufbau von Beziehungen für alle Beteiligten jederzeit beendet sein kann. Dies geht beispielsweise aus Berichten betroffener Schulen hervor, deren Lehrkräfte bangen, ob der ihnen anvertraute Flüchtling morgen wieder in die Schule kommen kann. Jüngste Erfahrungsberichte hessischer Lehrkräfte, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sowie ehrenamtlich im schulischen Bereich Tätiger auf dem Fachtag Deutsch als Zweitsprache am 16. und 17. September in Gießen stützen diese Erfahrungen an den hessischen Schulen. In John Hatties Metaanalyse "Visible Learning" ist "Mobility", also der Wohnort- und der damit verbundene Schulwechsel, mit dem größten negativen Effekt auf den schulischen Lernerfolg im Vergleich aller dort vorgestellten Einflussgrößen verzeichnet. Als Hauptgrund wird hier genannt , dass es für Betroffene nicht einfach ist, sich an möglicherweise sehr unterschiedliche Kontexte anzupassen, was durch den Verlust der bisherigen Peer-Group zusätzlich erschwert wird. Gerade für die Leistungen im Fach Deutsch bestätigt dies auch eine empirische Studie für den deutschsprachigen Raum von Margit Stamm, die bis 2012 an der Universität Fribourg Lehrstuhlinhaberin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaft war und weiterhin in der internationalen Bildungsforschung, auch im Zusammenhang mit Migration, tätig ist. Mit Blick auf diese Kinder und Jugendlichen besteht die Gefahr, dass Flüchtlinge, die meinen in einer Schule angekommen zu sein, diese aber aufgrund ihrer Zuweisung in eine Gebietskörperschaft wieder verlassen müssen, eine sekundäre Traumatisierung erfahren. Auf die Maßnahmen, die innerhalb der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtungen durchgeführt werden (vgl. Frage 7), wird hingewiesen. Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/3792 3 Frage 6. Ist die Nichtbeschulung von Kindern und Jugendlichen in Erstaufnahmeeinrichtungen aus Sicht der Landesregierung mit der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 28) und dem Recht jedes Kindes auf Zugang zu Bildung und Schulunterricht vereinbar und wenn ja, warum? Die Regelungen zur Schulpflicht sind in den §§ 56 bis 68 des Hessischen Schulgesetzes in der Fassung vom 14. Juni 2005 (GVBl. I S. 441), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. März 2015 (GVBl. S. 118), enthalten. Die Schulpflicht in Bezug auf Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache ist ergänzend durch den § 46 der Verordnung zur Gestaltung des Schulverhältnisses (VOGSV) vom 19. August 2011 (ABl. S. 546), zuletzt geändert durch Verordnung vom 29. April 2014 (ABl. S. 234), geregelt. Beide zitierten Rechtsgrundlagen stehen insofern nicht im Widerspruch zu dem in der Frage zitierten Artikel 28 der UN-Kinderrechtskonvention sowie zu dem § 1 des Hessischen Schulgesetzes in der Fassung vom 14. Juni 2005 (GVBl. I S. 441), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. März 2015 (GVBl. S. 118), als diese keine Rechte absprechen, sondern vielmehr im Hinblick auf Asylbewerberkinder, die im Rahmen ihres Anerkennungsverfahrens bereits einer Gebietskörperschaft zugewiesen sind, deren ausgesprochenes Recht zu einer Pflicht erheben. In Hessen beginnt demnach die Beschulung von Kindern und Jugendlichen in den hessischen Schulen in der Regel nach Zuweisung in eine Gebietskörperschaft. Theoretisch können Kinder und Jugendliche, die keiner Gebietskörperschaft zugewiesen sind, das Recht auf eine Beschulung in Anspruch nehmen, was sich praktisch jedoch nur in Ausnahmefällen vollzieht. Zusätzlich sei darauf hingewiesen, dass mit den Bausteinen des schulischen Gesamtsprachförderkonzepts des Hessischen Kultusministeriums von den Vorlaufkursen bis hin zu den InteA- Klassen an den beruflichen Schulen ein Angebot besteht, welches Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache weit über das schulpflichtige Alter hinaus unterstützt. Frage 7. Mit welchen pädagogischen Konzepten stellt sie sicher, dass alle Kinder und Jugendliche mit einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten in einer Erstaufnahmeeinrichtung dieses Recht tatsächlich wahrnehmen können? Die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung ist nach dem Asylgesetz für die Erstaufnahme von Asylsuchenden, die in Hessen einen Asylantrag stellen wollen, zuständig sowie für die damit erforderliche Unterbringung, Betreuung und Versorgung bis zur Zuweisung in die Kommunen. Im Rahmen der Betreuung wird in allen Einrichtungen eine regelmäßige Betreuung von Kindern und Jugendlichen angeboten, in der diese mit der deutschen Sprache vertraut gemacht werden. Darüber hinaus gibt es an mehreren Standorten in Kooperation mit Hochschulen oder ehrenamtlich tätigen Organisationen für Kinder und Jugendliche ein Angebot an Kursen, die neben Grundkenntnissen der deutschen Sprache auch Inhalte wie Rechnen, Erd- oder Landeskunde sowie Verkehrserziehung berücksichtigen. Wiesbaden, 27. Oktober 2016 Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz