Kleine Anfrage der Abg. Dr. Sommer (SPD) vom 06.12.2016 betreffend Auswirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs und Antwort des Ministers für Soziales und Integration Vorbemerkung der Fragestellerin: Seit 2009 werden unterschiedliche Risikostrukturen im jeweiligen Versichertenbestand der gesetzlichen Krankenkassen durch den sogenannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) ausgeglichen. Dabei werden die vom Gesundheitsfonds vereinnahmten Mittel in erheblichem Maß anhand des Versorgungsbedarfs für 80 ausgewählte schwere und chronische Erkrankungen auf die gesetzlichen Krankenkassen verteilt . Zurzeit werden auf diesem Wege etwa 200 Mrd. Euro im Jahr an die noch gut 120 gesetzlichen Krankenkassen ausgeschüttet. Verschiedene Studien und Stellungnahmen fordern Modifikationen, u.a. wurde ein Folgegutachten mit dem Ziel einer Einführung eines Regionalfaktors in den Morbi-RSA, gefordert. In der Drucks. 19/3119 wurde Stellung zur Berücksichtigung einer regionalen Komponente im Morbi-RSA gezogen. Derzeit liegen neue Erkenntnisse aus Studien vor. Vorbemerkung des Ministers für Soziales und Integration: Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) spielt bei der Verteilung der Mittel des Gesundheitsfonds eine zentrale Rolle in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Regelungen des Morbi-RSA müssen daher einerseits gewährleisten, dass die Mittelzuflüsse an die einzelnen Krankenkassen eine medizinisch angemessene Versorgung der Versicherten ermöglichen , andererseits dürfen von ihm aber keine Anreize zur Risikoselektion, Wettbewerbsverzerrungen oder Unwirtschaftlichkeit ausgehen. Der Morbi-RSA als lernendes System muss daher im Hinblick auf seine Auswirkungen und die fortwährende Weiterentwicklung der medizinischen Versorgung in regelmäßigen zeitlichen Abständen einer Gesamtanalyse unterzogen werden, um auf dieser Basis eine adäquate Fortentwicklung der gesetzlichen Regelungen des Morbi-RSA durchführen zu können. Diese Vorbemerkungen vorangestellt, beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1. Liegen der Landesregierung im Vergleich zu der Landtagsdrucksache 19/3119 neue Erkenntnisse über die regionalen Verteilungswirkungen des Morbi-RSA vor? Im Juni 2016 wurde das im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege in Auftrag gegebene Gutachten "Die Notwendigkeit einer regionalen Komponente im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich unter wettbewerbspolitischen und regionalen Aspekten " von den Professoren Ulrich, Wille und Thüsing veröffentlicht. Dieses Gutachten ist die Fortsetzung des ersten Gutachtens zur Berücksichtigung einer regionalen Komponente im morbiditätsorientierten RSA von September 2014. Die grundsätzlichen Erkenntnisse aus dem ersten Gutachten bleiben bestehen und werden unverändert im Folgegutachten bestätigt. Auch dieses Gutachten spricht sich für die Einführung einer regionalen Komponente in den Morbi-RSA aus, weist aber auch zugleich darauf hin, dass auch andere Reformkonzepte denkbar sind, die zum gleichen Ergebnis führen könnten. Neben der Fortschreibung der Datengrundlage und einer detaillierteren Betrachtung von regionalen Versorgungsunterschieden besteht die eigentliche inhaltliche Erweiterung aus einer verfassungsrechtlichen Bewertung der Zulässigkeit einer Regionalkomponente im Risikostrukturausgleich durch Prof. Thüsing. Eingegangen am 9. Januar 2017 · Bearbeitet am 12. Januar 2017 · Ausgegeben am 16. Januar 2017 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/4284 09. 01. 2017 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/4284 Frage 2. Wie bewertet die Landesregierung das Folgegutachten zur Einführung eines Regionalfaktors in den Morbi-RSA und die diesbezüglichen Vorschläge des Freistaates Bayern? Das unter Frage 1 angeführte Gutachten stellt eine empirische Fortschreibung und Erweiterung sowie eine gesundheitspolitische Aktualisierung des Gutachtens von den Professoren Ulrich und Wille "Zur Berücksichtigung einer regionalen Komponente im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA)" vom September 2014 dar. Unter Berücksichtigung der empirischen Ergebnisse des Gutachtens wird die Einführung einer regionalen Komponente in den Morbi-RSA befürwortet ohne jedoch eine konkrete Operationalisierung dieses Vorschlags vorzunehmen . Insoweit stellt dieses Gutachten neben anderen vorliegenden Gutachten zu Teilaspekten des Morbi-RSA einen wichtigen Beitrag für die notwendige Diskussion einer Weiterentwicklung des Morbi-RSA dar. Frage 3. Liegen der Landesregierung Erkenntnisse darüber vor, wie andere Bundesländer das Folgegutachten bewerten und welche Handlungsziele sie diesbezüglich verfolgen? Die Frage der Berücksichtigung einer Regionalkomponente im Morbi-RSA wird von den einzelnen Bundesländern, sofern entsprechende Informationen vorliegen, unterschiedlich bewertet, das Meinungsspektrum reicht von Ablehnung bis zum Wunsch nach bevorzugter Berücksichtigung . Die Mehrheit der Länder plädiert aber grundsätzlich für eine umfassende wissenschaftliche Auswertung sowohl der Auswirkungen des geltenden Morbi-RSA als auch für eine Folgenabschätzung möglicher Weiterentwicklungsoptionen des Morbi-RSA. Frage 4. Welche Anhaltspunkte gibt es nach Einschätzung der Landesregierung dafür, dass der bestehende Morbi-RSA nicht nur zu finanziellen Verwerfungen zwischen den Ländern, sondern auch zu sachlich nicht begründbaren finanziellen Verwerfungen im Kassenwettbewerb führen könnte? Belastbare Daten für die in der Frage angesprochenen Verwerfungen liegen der Landesregierung nicht vor. Viele kritische Anmerkungen zum Morbi-RSA erfolgen seitens einzelner Krankenkassen bzw. Kassenarten aus ihrer eigenen Betroffenheit heraus und sollten daher in eine Diskussion über eine Weiterentwicklung des Morbi-RSA mit einfließen. Frage 5. Welche Ursache und welche Bedeutung für Hessen und für in Hessen lebende gesetzlich Versicherte sieht die Landesregierung darin, dass regional agierende Kassen in angrenzenden Bundesländern sehr günstige Zusatzbeitragssätze anbieten? Kann die Einführung einer Regionalkomponente in den Morbi-RSA aus Sicht der Landesregierung die Spanne der unterschiedlichen Beitragssätze zwischen den Bundesländern reduzieren? Da auch nach Vorlage des o.g. Gutachtens die Auswirkungen einer regionalen Komponente im Morbi-RSA auf das gesamte Bundesgebiet nicht vorhergesagt werden können, kann die Frage nach einer Reduzierung der Spanne der unterschiedlichen Zusatzbeiträge der einzelnen Krankenkassen nicht beantwortet werden. Möglicherweise könnte eine Regionalkomponente die Spreizung der Zusatzbeitragssätze reduzieren. Dies sollte im Rahmen einer Gesamtevaluation des Morbi-RSA wissenschaftlich untersucht werden. Hierbei ist aber vorher zunächst zu klären, wie eine Regionalkomponente definiert wird. Der Landesregierung liegen keine belastbaren Daten oder Informationen, die die Ursachen der unterschiedlichen Zusatzbeiträge der gesetzlichen Krankenkassen begründen können, vor. Frage 6. In welcher Form und Zielverfolgung plant die Landesregierung die Beteiligung des Landes Hessen an einem Folgegutachten (siehe Antwort auf die Kleine Anfrage (Drucks. 19/3119 vom 24.03.2016), nachdem das Ausgleichsjahr 2015 zwischenzeitlich abgeschlossen wurde? Zurzeit stellt sich nicht die Frage nach einer Beteiligung an einem Folgegutachten. Hierzu wird auch auf die Beantwortung der Frage 7 und 8 verwiesen. Frage 7. Welche weiteren Wirkungen, Modifikationen bzw. Verbesserungspotenziale des Morbi-RSA müssen aus Sicht der Landesregierung analysiert werden und wie sollen die dabei gewonnenen Erkenntnisse im lernenden System Morbi-RSA berücksichtigt werden? Frage 8. Welche Verbesserungspotenziale (z.B. bezogen auf die Anzahl der derzeit ausgewählten schweren und chronischen Erkrankungen, einer besseren Berücksichtigung von sozio-ökonomischen Faktoren etc.) sieht die Landesregierung bei der Umsetzung des Morbi-RSA, um einerseits eine angemessene und auskömmliche Finanzierung der Versorgung der hessischen Versicherten sicher zu stellen und andererseits ein hinreichendes Maß an Wirtschaftlichkeitsanreizen beizubehalten? Die Frage 7 und 8 werden wie folgt gemeinsam beantwortet: Zurzeit werden eine Reihe von Maßnahmen zu einer Fort- bzw. Weiterentwicklung des Morbi- RSA vorgeschlagen. Es handelt sich hier jeweils um Einzelaspekte, die, um ihre Sinnhaftigkeit Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/4284 3 belegen zu können, in einer wissenschaftlich belastbaren Gesamtbewertung zusammen betrachtet werden müssen. Zu nennen sind hier als Stichworte (die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit): Berücksichtigung von Morbidität und Einkommen bei Krankengeldzuweisungen auf der Grundlage des Gutachtens nach § 269 SGB V, Weiterentwicklung der Zuweisungen für Auslandsversicherte auf der Grundlage des Gutachtens nach § 269 SGB V, Berücksichtigung sozio-ökonomischer Faktoren, Berücksichtigung einer regionalen Komponente (in diesem Kontext ist zugleich die Frage zu prüfen, ob es hier eines Abgleichs mit dem von dem Gemeinsamen Bundesausschuss zur Bedarfsplanung in Auftrag gegebenen Gutachtens bedarf), Prüfung der Aufhebung der Begrenzung des Morbi-RSA auf 80 Krankheiten, Prüfung des Umgangs mit Hochkostenfällen und Prüfung der Anwendung der Logarithmusfunktion statt der Wurzelfunktion bei der Krankheitsauswahl . Alle Maßnahmen zur Fort- und Weiterentwicklung des Morbi-RSA müssen sich daran messen lassen, dass sie keine Anreize für Risikoselektion, Manipulationen und Wettbewerbsverzerrungen setzen, aber zugleich Wirtschaftlichkeitsanreize und insgesamt die Zielgenauigkeit des Morbi-RSA erhöhen. Zusammenfassend bedarf es daher einer vertieften wissenschaftlichen Analyse der Folgen möglicher Änderungen am System des Morbi-RSA, um diesen so weiter zu entwickeln, dass selbstverständlich auch den Anforderungen des Solidarprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung angemessen Rechnung getragen wird. Das Bundesministerium für Gesundheit hat mit Erlass vom 13. Dezember 2016 den "Wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs " beim Bundesversicherungsamt (BVA) beauftragt, bis zum 30. September 2017 ein Sondergutachten unter Berücksichtigung der bisher vorliegenden RSA-Jahresausgleiche die Wirkungen des Morbi-RSA zu erstellen sowie die Folgen relevanter Vorschläge zur Veränderung des Morbi-RSA empirisch abzuschätzen. Auf Vorschlag des BVA sollen hierzu zwei weitere Mitglieder in den Wissenschaftlichen Beirat berufen werden. Wiesbaden, 31. Dezember 2016 Stefan Grüttner