Kleine Anfrage des Abg. Greilich (FDP) vom 07.12.2016 betreffend Schulvermeidung I und Antwort des Kultusministers Die Kleine Anfrage beantworte ich wie folgt: Frage 1. Wie definiert die Landesregierung die Begriffe Schulvermeidung, Schulabstinenz und Schulverweigerung und ab wann sieht eine Schülerin bzw. einen Schüler als Schulvermeider an? Es gibt keine offizielle Definition in gesetzlicher Form. Der Begriff Schulvermeidung kann als eine Art Sammelbezeichnung für die verschiedenen Formen des Fernbleibens von der Schule angesehen werden. Die Begriffe Schulvermeidung und Schulabsentismus bzw. -abstinenz werden in der Regel synonym verwendet. Der Begriff Schulverweigerung, in der Literatur z.T. ebenfalls synonym verwendet, sollte aufgrund der impliziten Annahme, die Absenz habe stets mit aktiver Verweigerung zu tun, auch nur in diesen Fällen benutzt werden. Längere oder regelmäßig wiederkehrende Fehlzeiten, die nicht krankheitsbedingt oder anderweitig begründet entschuldbar sind, fallen unter den Begriff "Schulvermeidung". Dabei ist weniger von Bedeutung, ab wann man genau von "Schulvermeidung" spricht, als vielmehr, dass sich die Schule mit dem gesamten Thema "An- und Abwesenheit" beschäftigt. Hierbei gilt grundsätzlich: je früher, desto besser, um eine Verfestigung der Problematik im Einzelfall zu vermeiden. Frage 2. Wie viele Fälle von Schulvermeidung und Schulverweigerung sind der Landesregierung bekannt? (aufgelistet nach Jahrgangsstufen und Schulamtsbezirken)? Zunächst wird auf die Kleine Anfrage 19/1589 hingewiesen, in der bereits angeführt wurde, dass zur Häufigkeit von Schulabsentismus der Landesregierung verschiedene allgemein verfügbare wissenschaftliche Untersuchungen vorliegen, deren Ergebnisse sich aber nur bedingt verallgemeinern lassen. Es wird u.a. davon ausgegangen, dass bundesweit mindestens 5 % aller Schülerinnen und Schüler die Schule nur unregelmäßig mit einer breiten Spannbreite von Fehlzeiten besuchen. Übereinstimmung herrscht bei den bekannten Studien darüber, dass an Hauptund Förderschulen am meisten geschwänzt wird, wobei das Alter und die Anzahl der Fehltage in einem positiven Zusammenhang stehen und unter den massiven Schulschwänzern mehr Jungen als Mädchen zu finden sind. Basierend auf § 181 des Hessischen Schulgesetzes (HSchG) werden mit dem "Erlass zur Vereinheitlichung des Verfahrens zur Bearbeitung von Ordnungswidrigkeiten nach § 181 Hessisches Schulgesetz" vom 8. Juli 2013 (ABl. S. 423) Ordnungswidrigkeitenverfahren bei Schulpflichtverletzungen von Schülerinnen und Schülern ab 14 Jahren in den Staatlichen Schulämtern einheitlich erfasst. Im Jahr 2015 wurden insgesamt 3.210 Verfahren von den Staatlichen Schulämtern eingeleitet. Diese verteilen sich wie folgt auf die 15 Standorte: SSA KS SEWF HRWM FD GIVB LDLM MR HTK RTWI Fälle 297 129 94 126 158 148 63 138 326 SSA F OF MKK GGMT DADI BOW Fälle 399 421 219 354 139 199 Eingegangen am 19. Januar 2017 · Bearbeitet am 20. Januar 2017 · Ausgegeben am 23. Januar 2017 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/4288 19. 01. 2017 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/4288 Eine elektronische Auswertung nach Klassenstufen findet nicht statt, weil dieses Merkmal keine Bedeutung für das Ordnungswidrigkeitenverfahren hat. Frage 3. Sieht die Landesregierung die Notwendigkeit, auch die Fälle zu erfassen, die Kinder unter 14 Jahren betreffen? Wenn nein, warum nicht? Auch Fälle, in denen die Kinder weniger als 14 Jahre alt sind, werden seitens der Staatlichen Schulämter erfasst. Weil die Kinder nicht strafmündig sind, werden in diesen Fällen nur die Eltern belangt. Erst ab 14 Jahren kann ein Ordnungswidrigkeitenverfahren bei Verletzung der Schulpflicht gegen eine Schülerin oder einen Schüler eingeleitet werden. Frage 4. Wie werden die Fehlzeiten der Schülerinnen und Schüler erfasst und ab wann erfolgt die Information der Schulleitung, der Eltern, der Schulaufsicht und/oder des Jugendhilfeträger? Aufgrund des o.g. Erlasses werden Ordnungswidrigkeiten einheitlich in einer Datenbank an den Staatlichen Schulämtern erfasst. Die Überwachung der Schulpflicht ist für alle Schulen gesetzlich vorgeschrieben. Die Verantwortung dafür liegt gemäß § 88 Abs. 3 HSchG bei der Schulleiterin bzw. dem Schulleiter. Zur Dokumentation aufgetretener Fehlzeiten verwenden Schulen in der Regel folgende Maßnahmen: Erfassung von Fehlzeiten in Klassenbüchern, -listen oder mit Hilfe der Excel-Datei auf dem Bildungsserver, Ggf. Nutzung elektronischer Anwesenheitskontrollsysteme, Vermerk entschuldigter bzw. unentschuldigter Fehlzeiten im Zeugnis, in der Grundschule: Anruf bei den Eltern am ersten Fehltag. Bei erhöhten Fehlzeiten sind Lehrkräfte dazu angehalten, zunächst das Gespräch mit der Schülerin /dem Schüler und ggf. den Eltern zu suchen, um mit pädagogischen Mitteln auf die Schülerin /den Schüler einzuwirken oder, wenn nötig, z.B. die Schulpsychologie hinzuzuziehen. Abhängig von den Besonderheiten des Einzelfalls liegt es im Ermessen der Schule, einen Antrag auf Einleitung eines Bußgeldverfahrens zu stellen. Gibt es Anzeichen dafür, dass eine Schulvermeidung auf eine Kindeswohlgefährdung zurückgeführt werden kann, ist gemäß § 3 Abs. 10 HSchG seitens der Schule das Jugendamt einzuschalten . Näheres regelt hierzu auch das Bundeskinderschutzgesetz vom 22.Dezember 2011 (BGBl. I S. 2975). Frage 5. Wie viele Schulen nutzen das Angebot des Hessischen Bildungsservers auf http://schulvermeidung . schule.hessen.de/ und wie wird sichergestellt, dass die Vorlagen zur Fehlzeitenerfassung genutzt werden? Grundsätzlich erfolgt die Erfassung von Ordnungswidrigkeitenverfahren bei Verletzungen der Schulpflicht einheitlich auf Basis des in der Antwort zu Frage 2 genannten Erlasses. Das Angebot des Bildungsservers hat einen ergänzenden Charakter bzgl. pädagogischer und schulorganisatorischer Maßnahmen. Die dazugehörige Homepage wird im Durchschnitt 66 mal pro Woche besucht. Auf die Möglichkeit und den Nutzen einer systematischen Fehlzeitenerfassung wird dort hingewiesen. Die Wahl einer bestimmten Form der Fehlzeitenerfassung bleibt den Schulen passend zum schulspezifischen Vorgehen überlassen. Frage 6. Wie setzt sich die Arbeitsgruppe des Hessischen Bildungsservers zu diesem Themenschwerpunkt zusammen? Das Thema "Schulvermeidung/Absentismus" ist mit einer eigenen Struktur auf dem Bildungsserver vertreten. Für die inhaltliche Gestaltung und die regelmäßige Aktualisierung dieser Seiten ist das Referat III A.2 im Hessischen Kultusministerium zuständig. Bei der äußeren Gestaltung hat die Lehrkräfteakademie das Referat beratend unterstützt. Frage 7. Welche konkreten Maßnahmen, die über die Nennung von ursachenspezifischen allgemeinen Empfehlungen und Unterstützungspartnern hinausgehen, werden seitens der Landesregierung und der Schulaufsicht ergriffen, um die Fälle von Schulvermeidung vor Ort zu reduzieren? Ziel aller Maßnahmen muss es sein, die Schulen und Lehrkräfte für die Bedeutsamkeit einer zeitnahen und konsequenten Reaktion auf Fehlzeiten zu sensibilisieren. Wenn das Fehlen nicht unmittelbar registriert und angesprochen wird, werden ausschließlich die angenehmen Seiten des Schwänzens erlebt, und dies wirkt sich verstärkend auf das zukünftige Verhalten aus. Alle Staatlichen Schulämter haben schriftliche Empfehlungen zum Umgang mit Fehlzeiten im Allge- Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/4288 3 meinen und Schulvermeidung im Besonderen an die Schulen herausgegeben. Ablaufpläne und konkrete Ansprechpartner bieten dabei den Schulen Handlungssicherheit. Umfangreichere Handreichungen wurden von den Staatlichen Schulämtern Fulda, Bebra und Weilburg erstellt, in denen u.a. auf regionale Besonderheiten und Unterstützungsnetzwerke Bezug genommen wird, wie sie in einer allgemeinen Broschüre nicht berücksichtigt werden können. Die hessische Schulpsychologie gehört für Schulen zu den ersten Anlaufstellen, wenn Schülerinnen und Schüler auffällig häufig der Schule fernbleiben. Um alle Lehrkräfte über das schulpsychologische Beratungsangebot zu dieser Thematik und die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme ausreichend in Kenntnis zu setzen, wurde im August 2015 ein Informationsflyer erstellt, der den Schulen bei Bedarf von der Schulpsychologie ausgehändigt wird. Er enthält neben den typischen Beratungsanlässen auch Informationen über die schulisch notwendigen Handlungsschritte, für die eine schulpsychologische Begleitung angefordert werden kann. Letztendlich ist ein gezieltes individuelles Vorgehen im Einzelfall erforderlich. Frage 8. Ab welchem Zeitpunkt und nach wie vielen Tagen, Wochen oder Monaten werden Maßnahmen eingeleitet? Auf der Grundlage des o.g. Erlasses ist ein zeitnahes und einzelfallabhängiges Vorgehen unter Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich. Grundsätzlich gilt hierbei: Je länger Schülerinnen und Schüler der Schule fernbleiben und je weiter sie sich dadurch auch innerlich von der Schule entfernen, umso größer wird der Aufwand, sie zum regelmäßigen Schulbesuch mit einem geregelten Unterrichtsalltag zu motivieren. Frage 9. Welche Ordnungsmaßnahmen wurden wann und wie oft angewendet (aufgelistet nach Art der Maßnahme unter Ausweisung von Mehrfachfällen)? Es wird auf die Antwort zu Frage 2 verwiesen. Im Falle von Schulpflichtverletzungen werden Verfahren zu Ordnungswidrigkeiten gemäß § 181 HSchG eingeleitet. In schwerwiegenden Fällen kann es zu einer zwangsweisen Zuführung gemäß § 68 HSchG kommen. Pädagogische und Ordnungsmaßnahmen werden in § 82 HSchG geregelt und greifen bei Schulpflichtverletzungen in der Regel nicht. Nur bei nicht mehr vollzeitschulpflichtigen Schülerinnen und Schülern, die eine weiterführende Schule besuchen, ist nach § 82 Abs. 8 HSchG unter bestimmten Bedingungen ein Schulverweis zulässig. Nach § 82 Abs. 10 HSchG sind darüber hinaus Eintragungen und Vorgänge über Ordnungsmaßnahmen spätestens am Ende des zweiten Schuljahres nach der Eintragung zu löschen, sofern nicht während dieser Zeit eine erneute Ordnungsmaßnahme getroffen wurde. Frage 10. Welche Formen von "Frühwarnsystemen" gibt es an hessischen Schulen und welche Erfahrungen konnten bisher gemacht werden? Es wird auf die Antwort zu Frage 8 verwiesen. Grundsätzlich ist jede Lehrkraft verpflichtet, die Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler zu überprüfen, und die Schulleitung hat die Aufgabe , die Schulpflicht zu überwachen. Schulabsentismus tritt in der Regel nicht plötzlich auf. Häufig gibt es eine Reihe von Warnzeichen, die einer negativen Entwicklung vorausgehen können. Beispielsweise stört die Schülerin oder der Schüler häufig im Unterricht, zeigt nachlassende Leistungen, ist wenig motiviert oder unzufrieden mit der Schule, kommt häufig zu spät oder geht früher, fehlt einzelne Stunden mit oder ohne Entschuldigung in bestimmten Fächern, bei bestimmten Lehrkräften oder zu bestimmten Zeiten oder fehlt ungewöhnlich lange aufgrund von leichten Erkrankungen. Da viele der aufgeführten Vorboten eine dauerhafte Schulvermeidung nach sich ziehen können (aber selbstverständlich nicht müssen), wird in der angekündigten Broschüre des Kultusministeriums eine Checkliste zur Beobachtung und Dokumentation solcher Warnzeichen enthalten sein und den Schulen eine Erfassung früher Anzeichen einer beginnenden "Schulmüdigkeit" empfohlen. Wiesbaden, 6. Januar 2017 Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz