Kleine Anfrage der Abg. Faulhaber (DIE LINKE) vom 12.01.2017 betreffend Wohnsitzauflage für Geflüchtete und Antwort des Ministers des Innern und für Sport Vorbemerkung der Fragestellerin: Mit dem im August 2016 in Kraft getretenen sogenannten Integrationsgesetz wurde die Freizügigkeit von Asylberechtigten, anerkannten Flüchtlingen, subsidiär Schutzberechtigten und ähnlichen Gruppen anerkannter Schutzsuchender massiv eingeschränkt. Diese Personengruppen sind gem. § 12a Abs. 1 AufenthG verpflichtet , für den Zeitraum von drei Jahren ab Anerkennung oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Bundesland den gewöhnlichen Aufenthalt (Wohnsitz) zu nehmen, in das sie zur Durchführung des Asylverfahrens oder im Rahmen des Aufnahmeverfahrens zugewiesen worden sind. Personen, die in einer Aufnahmeeinrichtung oder einer anderen vorübergehenden Unterkunft wohnen, können zur "Versorgung mit angemessenem Wohnraum" darüber hinaus gem. § 12a Abs. 2 AufenthG gezwungen werden, ihren Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen. Die Wohnsitzauflage kann gem. § 12a Abs. 3 AufenthG auch zur Förderung der "nachhaltigen Integration" verhängt werden, sofern dadurch u.a. die Versorgung mit angemessenem Wohnraum erleichtert wird. Zwecks angeblicher "Vermeidung sozialer und gesellschaftlicher Ausgrenzung" kann Betroffenen gem. § 12a Abs. 4 AufenthG auch untersagt werden, ihren Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen. Zulässig soll ein solches Zuzugsverbot insbesondere sein, "wenn zu erwarten ist, dass der Ausländer Deutsch dort nicht als wesentliche Verkehrssprache nutzen wird". Diese Vorbemerkung der Fragestellerin vorangestellt, wird die Kleine Anfrage im Einvernehmen mit dem Minister für Soziales und Integration wie folgt beantwortet: Frage 1. Wie viele ausländische Staatsangehörige, die der Verpflichtung nach § 12a Abs. 1 S. 1 AufenthG unterliegen, lebten zum 31.12.2016 oder letztmöglichen Stichtag in Hessen? Eine landeseigene Statistik zu den nach § 12a AufenthG verfügten Wohnsitzauflagen wird nicht geführt. Die Wohnsitzverpflichtung kann von den Ausländerbehörden derzeit auch nicht in das Ausländerzentralregister (AZR) eingetragen werden, so dass aus diesem Register keine statistischen Daten gewonnen werden können. Der Bundesgesetzgeber beabsichtigt, einen entsprechenden Speichersachverhalt im AZR zu schaffen. Hierzu bedarf es aber einer Novellierung des Gesetzes über das Ausländerzentralregister (AZRG). Die nachträgliche Erhebung der Daten durch die Ausländerbehörden wäre mit einem unvertretbar hohen Verwaltungsaufwand verbunden gewesen, da dies eine manuelle Sichtung des gesamten in Betracht kommenden Aktenbestandes erforderlich gemacht hätte. Frage 2. Wie viele ausländische Staatsangehörige, die der Verpflichtung nach § 12a Abs. 1 S. 1 AufenthG unterliegen, waren auf Grund der Ausnahmeregelung in § 12a Abs. 1 S. 2 AufenthG nicht verpflichtet , einen Wohnsitz in Hessen zu nehmen? Da eine landeseigene Statistik zu Wohnsitzauflagen nicht geführt wird, können im Umkehrschluss auch keine Daten zur Ausnahmeregelung in § 12a Abs. 1 S. 2 AufenthG ermittelt werden . Aber auch künftig wird diese Frage im Falle einer Änderung des AZRG nicht zu beantworten sein. Zusätzliche Speichersachverhalte werden im AZR nur für ausländerrechtliche Entscheidungen oder Maßnahmen eingerichtet, nicht für Fallgestaltungen, in denen die Ausländerbehörden von diesen Entscheidungen oder Maßnahmen absehen. Eingegangen am 8. März 2017 · Bearbeitet am 9 . März 2017 · Ausgegeben am 10. März 2017 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/4396 08. 03. 2017 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/4396 Hinsichtlich der nachträglichen Datenerhebung durch die Ausländerbehörden wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. Frage 3. Wie viele ausländische Staatsangehörige, die der Verpflichtung nach § 12a Abs. 1 AufenthG unterliegen, wohnten zum 31.12.2016 oder letztmöglichen Stichtag in einer hessischen Aufnahmeeinrichtung oder anderen vorübergehenden Unterkunft im Sinne von § 12a Abs. 2 AufenthG? Frage 4. Welche vorübergehenden Unterkünfte bestehen in Hessen (bitte auflisten)? Die Fragen 3 und 4 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Ausländische Staatsangehörige, die der Verpflichtung nach § 12a Abs. 1 AufenthG unterliegen, leben und lebten nicht in den hessischen Aufnahmeeinrichtungen des Regierungspräsidiums Gießen. Diese dienen der Erstaufnahme, so dass sich die Asylsuchenden während ihres Aufenthalts in den Aufnahmeeinrichtungen noch im Asylverfahren befinden. Die Verpflichtung nach § 12a Abs. 1 AufenthG knüpft jedoch an die spätere Anerkennung als Asylberechtigter, Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG oder subsidiär Schutzberechtigter im Sinne von § 4 Abs. 1 des AsylG oder an die erstmalige Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 22, 23 und 25 Abs. 3 AufenthG an. In Hessen befinden sich gegenwärtig 11 Aufnahmeeinrichtungen (Standorte: Gießen I, Rödgener Straße; Gießen II, Meisenbornweg; Neustadt; Rotenburg; Büdingen; Kassel-Calden; Kassel- Niederzwehren; Darmstadt Michaelisstraße; Hanau, Babenhausen sowie Wiesbaden, American Arms). Über Unterkünfte in den Kommunen liegen keine nach Art der Unterbringung differenzierten Zahlen vor. Nach § 3 Abs. 1 des Landesaufnahmegesetzes (LAG) sind die Landkreise und Gemeinden in Hessen verpflichtet, die aufzunehmenden Personen in Unterkünften, die einen menschenwürdigen Aufenthalt ohne gesundheitliche Beeinträchtigung gewährleisten, unterzubringen . Die Umsetzung des gesetzlichen Auftrags unterfällt der Selbstverwaltung der jeweiligen Gebietskörperschaft. Frage 5. An welchen Orten in Hessen ist im Sinne des § 12a Abs. 4 AufenthG zu erwarten, "dass der Ausländer Deutsch dort nicht als wesentliche Verkehrssprache nutzen wird"? Frage 6. Wie werden solche Orte ermittelt? Die Fragen 5 und 6 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Gemäß § 12a Abs. 4 AufenthG kann ein Ausländer, der der Verpflichtung nach Abs. 1 unterliegt , zur Vermeidung von sozialer und gesellschaftlicher Ausgrenzung verpflichtet werden, seinen Wohnsitz nicht an einem bestimmten Ort zu nehmen, insbesondere wenn zu erwarten ist, dass der Ausländer Deutsch dort nicht als wesentliche Verkehrssprache nutzen wird. Ob zu erwarten ist, dass eine Person an einem bestimmten Ort Deutsch nicht als wesentliche Verkehrssprache nutzen wird, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Wichtiges Kriterium für eine solche Prognose ist die Möglichkeit für Betroffene an einem bestimmten Ort weitgehend ohne Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft zu leben. Die Landesregierung hat solche Orte nicht nach allgemeinen Kriterien ermittelt oder festgelegt. Frage 7. Plant die Landesregierung, eine landesrechtliche Regelung im Sinne von § 12a Abs. 9 AufenthG zu erlassen? Frage 8. In wie vielen Fällen haben hessische Ausländerbehörden oder andere zuständige Behörden zum 31.12.2016 oder letztmöglichen Stichtag Wohnsitzauflagen nach § 12a Abs. 2, 3 oder 4 AufenthG erlassen? (Bitte nach jeweiliger Rechtsgrundlage aufschlüsseln) Frage 9. Wie wurde in diesen Fällen der jeweilige Wohnort bestimmt? Die Fragen 7 bis 9 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Der Entscheidungsprozess der Hessischen Landesregierung zur Frage, ob von der neu eingeräumten Ermächtigung in § 12a Abs. 9 AufenthG, Organisation, Verfahren und angemessenen Wohnraums zur Wohnsitzsteuerung landesrechtlich zu regeln, Gebrauch gemacht wird, ist noch nicht abgeschlossen. Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/4396 3 Frage 10. Wie beurteilt die Landesregierung die Vereinbarkeit der Wohnsitzauflagen nach § 12a AufenthG mit dem Völker- und Europarecht, insbesondere mit dem Recht auf Freizügigkeit und den Diskriminierungsverboten in der Genfer Flüchtlingskonvention sowie anderen Menschenrechtsverträgen ? Die neue Wohnsitzregelung des § 12a AufenthG erfasst neben einigen Personengruppen mit humanitärem Aufenthaltsrecht vorrangig Personen mit internationalem Schutzstatus, denen nach Art. 33 der EU-Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikations-RL) in Übereinstimmung mit Art. 26 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ein Freizügigkeitsrecht zusteht. Dessen Bedeutung wurde im Urteil des EuGH vom 1. März 2016 - C-443/14 u. C-444/14 - geklärt. Das Ergebnis des EuGH war eindeutig: Eine Wohnsitzauflage für bestimmte Ausländergruppen und unter klar definierten Voraussetzungen ist zulässig, soweit diese der Integration dient und die betroffene Gruppe sich in einer besonderen Lebenssituation befindet, die sich von der Situation derjenigen Ausländer unterscheidet, die keiner Wohnsitzregelung unterfallen (Rn. 57-64 des Urteils). Die Entscheidung des EuGH zur Auslegung der Richtlinie und der GFK ist für nationale Behörden und Gerichte verbindlich. Die Vorschrift des § 12a AufenthG orientiert sich an den Vorgaben des EuGH und ist daher nach Auffassung der Landesregierung mit dem Völker- und Europarecht vereinbar. Wiesbaden, 28. Februar 2017 Peter Beuth