Kleine Anfrage des Abg. Schaus (DIE LINKE) vom 22.03.2017 betreffend linksextremistische Einstufung eines angeblichen Flugblattes des Jugendverbandes SOLID Wiesbaden durch das Landesamt für Verfassungsschutz ohne jeglichen Nachweis und Antwort des Ministers des Innern und für Sport Vorbemerkung des Fragestellers: In seiner Stellungnahme zur Anhörung "Linksextremismus" stufte das Landesamt für Verfassungsschutz einzelne Strömungen der Partei DIE LINKE erneut als verfassungsfeindlich ein und führte als einzigen Beleg(!) seiner These an: "Aktuell ist der Mobilisierungsaufruf der Ortsgruppe Linksjugend [´solid] Wiesbaden zu der linksextremistisch beeinflussten Gegendemonstration der Kundgebung "Demo für alle" am 30. Oktober 2016 in Wiesbaden nennenswert.1 Das war bemerkenswert, weil: es gar keinen Aufruf der Linksjugend [´solid] Wiesbaden zu dieser Demonstration gab. Richtig ist das mit über 50 weiteren Organisationen - darunter SPD, Grüne, Liberale… - der Aufruf des "Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt" auf Facebook verbreitet, sowie das Bündnis aktiv unterstützt wurde, auf dieser sogenannten "linksextremistisch beeinflussten" Demonstration ein Mitglied der Landeregierung als Redner auftrat und Abgeordnete der Regierungs- und anderen Fraktionen daran teilnahmen, der Sinn dieser sogenannten "linksextremistisch beeinflussten" Demonstration die Verteidigung des aktuellen Lehrplans der Landesregierung gegen reaktionäre Angriffe der klerikal-konservativen und AfD-nahen "Demo für alle" war. In der genannten Anhörung konnte das Landesamt für Verfassungsschutz trotz mehrfacher Bitte keinen Inhalt oder Beleg eines "Mobilisierungsaufruf der Ortsgruppe Linksjugend [´solid] Wiesbaden" darstellen, vorlegen 2 oder seither auch nicht nachreichen. Der Innenminister verwies auf mündliche Nachfrage im Innenausschuss am 07.12.2016 am 12.01.2017 endlich auf die Facebook-Seite der Linksjugend [´solid] Wiesbaden3, auf welcher sich jedoch, wie oben beschrieben, nachweislich nur der Bündnis-Aufruf zu finden war und ist, welcher von über 50 Organisationen unterstützt wurde. Vorbemerkung des Ministers des Innern und für Sport: Am 16. November 2016 fand in der 62. Sitzung des Innenausschusses des Hessischen Landtags eine öffentliche Anhörung zum politischen Extremismus statt. Im Rahmen dieser Anhörung wurde die Nennung der Ortsgruppe Linksjugend ['solid] Wiesbaden im Zusammenhang mit der vom Landesamt für Verfassungsschutz Hessen (LfV) damals als linksextremistisch beeinflusst eingestuften Gegendemonstration am 30. Oktober 2016 in Wiesbaden hinterfragt. Diese Vorbemerkungen vorangestellt, wird die Kleine Anfrage wie folgt beantwortet: Frage 1. Ist ein Mitglied der Landesregierung auf einer sogenannten "linksextremistisch beeinflussten Demonstration" als Redner aufgetreten? Frage 2. Haben Mitglieder der Regierungsfraktionen an einer sogenannten "linksextremistisch beeinflussten Demonstration" teilgenommen? Frage 3. Werden diese Mitglieder der Landesregierung und der Regierungsfraktionen nun als "linksextremistische Strömungen" beobachtet? Wenn nein, warum nicht? Die Fragen 1 bis 3 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––- 1 "Wir müssen erst mit unserer Aufsicht besprechen, wie wir das dann bilateral erörtern können. Ich denke, man wird auf Sie zukommen und klären, wie wir das organisieren können", INA 19/62, 16.11.2916, S. 71 2 INA 19/64 - 12.01.2017, S 12 3 S.7 der Stellungnahme, siehe auch INA 19/62, 16.11.2016, S. 58 Eingegangen am 5. Oktober 2017 · Bearbeitet am 5. Oktober 2017 · Ausgegeben am 9. Oktober 2017 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/4711 05. 10. 2017 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/4711 Dem Hessischen Innenministerium liegen keine abschließenden Informationen über die Teilnahme oder einen Redebeitrag von Mitgliedern der Landesregierung oder des Hessischen Landtags an der Veranstaltung vor. Frage 4. Da es den oben genannten Aufruf von SOLID Wiesbaden offensichtlich nie gegeben hat, a) hat das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz dann öffentlich die Unwahrheit gesagt? b) Wenn ja, warum? c) Wenn nein, wo ist dann der Aufruf? Frage 5. Sollte kein fiktiver SOLID-Aufruf, sondern der reale Aufruf des "Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt " gemeint gewesen sein, für wie viele der über 50 Unterstützerorganisationen gilt die Unterstützung als Beleg von "Verfassungsfeindlichkeit" und warum? (bitte nach Organisationen und Gründen aufschlüsseln) Frage 6. Sollte sich der Verfassungsschutz und die Landesregierung auf sogenannten "nachrichtendienstliche Erkenntnisse" herausreden, wer außer dem Verfassungsschutz selbst könnte den Wahrheitsgehalt überprüfen? Frage 7. Hält es die Landesregierung unter dem Gesichtspunkt von Persönlichkeitsrechten für verhältnismäßig und unter dem Gesichtspunkt realer innenpolitischer Bedrohungen für lageangemessen, ein Dutzend Jugendlicher öffentlich als Verfassungsfeinde zu diffamieren und per Geheimdienst zu überwachen ohne für eine Verfassungsfeindlichkeit auch nur die Spur eines Nachweises erbringen zu können? Die Fragen 4 bis 7 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Dem "Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt - gegen Diskriminierung und Ausgrenzung" ("Ihr seid nicht alle!"), das gegen die "Demo für alle - Ehe und Familie vor! Stoppt Gender-Ideologie und Sexualisierung unserer Kinder" am 30. Oktober 2016 in Wiesbaden mobilisierte, gehörten 95 Gruppierungen und Organisationen an. Darunter befanden sich acht dem Phänomenbereich Linksextremismus zuzurechnende Gruppierungen, so auch - neben REBELL Wiesbaden - die Linksjugend ['solid] Wiesbaden. Die Linksjugend ['solid] Wiesbaden ist eine der Partei DIE LINKE. nahestehende Jugendorganisation , die im hessischen Verfassungsschutzbericht 2015 (S. 76 f.) unter der Überschrift "Offen extremistische Zusammenschlüsse in und bei der Partei DIE LINKE." erwähnt wird. Die Linksjugend ['solid] unterstützt in ihrem Programm (beschlossen am 5. April 2008, geändert am 20./22. März 2009) die Ziele eines "grundsätzlichen Systemwechsel[s]" und die "Überwindung kapitalistischer Produktions- und Herrschaftsverhältnisse": "Als SozialistInnen, Kommunist Innen, AnarchistInnen kämpfen wir für eine libertäre, klassenlose Gesellschaft jenseits von Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat". Die ['solid]-Ortsgruppe Wiesbaden ist auf der Internetseite des der linksextremistischen Szene zuzurechnenden Infoladens linker Projekte in Wiesbaden als eine der "tätigen Gruppen" aufgeführt . Im Infoladen linker Projekte sind ebenso die in der öffentlichen Anhörung am 16. November 2016 angesprochene Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die Marxistisch- Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) und die Rote Hilfe e.V. tätig, die gleichfalls im hessischen Verfassungsschutzbericht 2015 erwähnt sind. Die Organisation REBELL Wiesbaden, die sich am Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt - gegen Diskriminierung und Ausgrenzung, beteiligte , ist der Jugendverband der MLPD (vgl. Verfassungsschutz in Hessen, Bericht 2015, S. 82). Einzelne ['solid]-Ortsgruppen weisen eine inhaltliche Nähe zu der autonomen Gruppierung kritik &praxis - radikale linke [f]frankfurt auf. So verlinkte und kommentierte die Linksjugend ['solid ] Köln das in einem Video dieser autonomen Gruppierung gezeigte Banner (Aufschrift "Deutschland, du mieses Stück scheiße!", Schreibweise wie im Original) unter anderem mit dem Appell "solidarity without limits". Die Linksjugend ['solid] Wiesbaden teilte auf Facebook die Aufrufe des Bündnisses für Akzeptanz und Vielfalt - gegen Diskriminierung und Ausgrenzung und rief zur Teilnahme an der Veranstaltung auf. Neben dem Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt - gegen Diskriminierung und Ausgrenzung mobilisierten seit Ende September 2016 linksextremistische Gruppierungen zu Aktionen gegen die "Demo für alle - Ehe und Familie vor! Stoppt Gender-Ideologie und Sexualisierung unserer Kinder". Diese Linksextremisten engagierten sich in dem Bündnis Demo für Alle? - Läuft nicht!, dem 23 "Unterstützer_Innen" angehörten, die mehrheitlich dem Phänomenbereich Linksextremismus - insbesondere autonomen und anarchistischen Gruppierungen - zuzurechnen sind, so etwa die Interventionistische Linke, kritik&praxis - radikale linke [f]frankfurt und turn*left ffm. Darüber hinaus riefen weitere autonome Gruppen und Autonome in entsprechenden Internetauftritten zur Teilnahme an den Gegenprotesten auf. Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/4711 3 Für den 30. Oktober 2016 organisierten autonome Gruppierungen die Einrichtung eines Ermittlungsausschusses . Das Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt - gegen Diskriminierung und Ausgrenzung , an dem sich die Linksjugend ['solid] Wiesbaden beteiligte, begründete dies wie folgt: "Solltet Ihr eine Festnahme mitbekommen. Meldet den Namen der Person direkt an den Ermittlungs Ausschuss. Die Rufnummer wird hier bald bekannt gegeben und auch vor Ort verteilt." (Schreibweise wie im Original). Darüber hinaus wurde das Aktivwerden von "Demosanitätern", wie sie Autonome regelmäßig bei Demonstrationen einsetzen, geplant. Eine Linksjugend-['solid]-Gruppe aus Rheinland-Pfalz richtete für die Anreise zur Gegendemonstration in Wiesbaden eigens eine Facebook-Seite ein. Darauf befand sich ein abgewandeltes Logo der linksextremistischen antifaschistischen Aktion, das von einer mindestens dem Umfeld des Bündnis Demo für Alle? - Läuft nicht! zuzurechnenden Wiesbadener autonomen Gruppe aufgegriffen bzw. abgebildet wurde. Das Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt - gegen Diskriminierung und Ausgrenzung und das Bündnis Demo für Alle? - Läuft nicht! kannten sich gegenseitig. Im Internet verwiesen beide Bündnisse oder dem jeweiligen Bündnis angehörende extremistische Gruppierungen auf das jeweils andere Bündnis. Am Veranstaltungstag selbst teilte das Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt - gegen Diskriminierung und Ausgrenzung die Twitter-Einträge des Bündnisses Demo für alle? - Läuft nicht! und verwies auf den von Autonomen betriebenen Ermittlungsausschuss. Eine Distanzierung von diesem Bündnis durch das Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt - gegen Diskriminierung und Ausgrenzung erfolgte nicht. Die Gesamtteilnehmerzahl der Gegendemonstration lag laut Polizeiangaben bei 1.000 bis 1.200 Personen. Eine Trennung zwischen beiden Bündnissen war nicht feststellbar. 300 bis 400 Personen blockierten einen Teil der Aufzugsstrecke der "Demo für Alle". Dabei wurde unter anderem "Fight the power, fight the system" skandiert. Aus der Blockade heraus versuchten rund 100 Personen mittels der bei Autonomen üblichen Kleingruppentaktik weitere Störungen und Blockaden zu organisieren, was die Polizei verhinderte. Die im Vorfeld avisierten Demosanitäter waren vor Ort. Die autonome Gruppe kritik&praxis radikale Linke [f]rankfurt zeigte im Demonstrationszug ein Transparent mit der Aufschrift "Tod der Reaktion - kp frankfurt". Aufgrund der oben aufgeführten linksextremistischen Beteiligten, der Vorbereitung und des Verlaufs der Gegendemonstration sieht die Landesregierung eine linksextremistische Beteiligung der zum überwiegenden Teil von nichtextremistischen Gruppierungen getragenen Veranstaltung am 30. Oktober 2016 in Wiesbaden gegeben. Nahezu alle relevanten linksextremistischen Gruppierungen hatten nicht nur im Rhein-Main-Gebiet für eine Teilnahme mobilisiert. Auch der Anteil von rund 10 % gewaltbereiter Personen war für eine solche Demonstration wie in Wiesbaden , die aus einem gemischten Teilnehmerkreis von Nichtextremisten und Linksextremisten bestand, typisch. Gezielt nutzen Linksextremisten Bündnisse - wie etwa das Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt - gegen Diskriminierung und Ausgrenzung -, um in der Öffentlichkeit Akzeptanz für ihre Inhalte und ihr Vorgehen zu erhalten. Größere Demonstrationen breiter Bündnisse nutzen demonstrationserfahrene Personen - insbesondere Autonome - demnach, um ihr Wissen und ihr "Organisationsgeschick" einzubringen und eigene Methoden zu etablieren. Mit diesem Wissen gelingt es Linksextremisten mitunter, Entscheidungsträgern auch in nichtextremistischen Bündnissen oder Gruppierungen (auch bei anderen Themen- und Aktionsfeldern) "beratend" zur Seite zu stehen oder bei Veranstaltungen bewährte autonome Strukturen als nicht hinterfragte, akzeptierte Mittel zu etablieren: In dieser Weise organisierten Autonome für den 30. Oktober 2016 die Einrichtung eines Ermittlungsausschusses und den Einsatz der Demosanitäter. Die Rolle der Linksjugend ['solid] in dem vom LfV Hessen nicht beobachteten Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt - gegen Diskriminierung und Ausgrenzung ist nicht bekannt. Die Beobachtung des Bündnisses sowie die Bewertung demokratischer Personen und Gruppierungen als extremistisch verbieten sich, wenn dort wie im vorliegenden Fall weit überwiegend nichtextremistische Strukturen mitwirken. Allerdings bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, Aktivitäten extremistischer Strukturen bei solchen Veranstaltungen nicht zu erfassen, zu bewerten und zu bearbeiten . Frage 8. Beabsichtigt die Landesregierung organisatorische oder personelle Konsequenzen im LfV aus diesem gravierenden Fall zu ziehen? Nein, die Landesregierung sieht keinen Handlungsbedarf, da eine sehr differenzierte Herangehensweise festzustellen war. 4 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/4711 Abschließend ist zu konstatieren, dass Demonstrationen zu sozialpolitischen Aspekten zum demokratischen Handlungsspektrum gehören. Dabei gilt es bei diversen Themenfeldern, zu denen Linksextremisten (ggf. maßgeblich) an solchen Veranstaltungen teilnehmen, diesen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Hierbei sollte stets eine klare und deutliche Abgrenzung durch nicht-extremistische Gruppen und Organisationen erfolgen. Erforderlich ist eine besondere Sensibilität für Argumentationslinien, Aktionen und Maßnahmen, mit deren Hilfe Extremisten versuchen , auf den politischen Willensbildungsprozess zu ihren Gunsten Einfluss zu nehmen. In diesem Zusammenhang bietet auch das LfV jederzeit seine fachliche Expertise an. Es wird hervorgehoben , dass Extremismus in jedweder Form keinen politischen Rückhalt in Hessen genießt und genießen wird. Wiesbaden, 16. September 2017 Peter Beuth