Kleine Anfrage des Abg. Greilich (FDP) vom 25.10.2017 betreffend Radikalisierung von Schülerinnen und Schülern und Antwort des Ministers des Innern und für Sport Die Kleine Anfrage beantworte ich im Einvernehmen mit dem Kultusminister wie folgt: Frage 1. In wie vielen Fällen gab es Informationen und ggf. Handlungsbedarf wegen radikalisierten Schülerinnen und Schülern an Schulen? Der Hessischen Landesregierung ist eine niedrige dreistellige Zahl von Fällen bekannt, in denen es Informationen zu radikalisierten bzw. vermeintlich radikalisierten Schülerinnen und Schülern gibt bzw. gab. In etwa der Hälfte der Fälle bestand Handlungsbedarf und es wurden neben Gesprächen in der Schule teilweise andere Behörden zur Unterstützung eingeschaltet. Einzelne Fälle erfüllen Straftatbestände, weshalb von Amts wegen Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. In einigen Fällen wurden darüber hinaus Gefahrenabwehrvorgänge eröffnet, bei denen weitere polizeiliche Maßnahmen eingeleitet wurden oder auf die "Beratungsstelle Hessen - Religiöse Toleranz statt Extremismus" (Violence Prevention Network e.V. (VPN)) verwiesen wurde. In den anderen Fällen haben sich die Verdachtsmomente nicht erhärtet oder sie haben sich aufgeklärt bzw. die betreffenden Schülerinnen und Schüler oder deren Eltern haben sich von einer Radikalisierungsabsicht glaubhaft distanziert. Frage 2. Wie haben sich die Zahlen in den letzten fünf Jahren entwickelt? Da das Land Hessen keine einheitliche Statistik im Sinne der Fragestellung führt, können zu den Entwicklungen keine Aussagen getroffen werden. Frage 3. Wie viele der Fälle davon betreffen jeweils Kinder im Grundschulalter? Der Hessischen Landesregierung ist eine einstellige Zahl von Fällen bekannt, bei denen es Informationen bzw. Hinweise hinsichtlich einer vermeintlichen Radikalisierung von Grundschulkindern gab. In keinem Fall haben sich die Verdachtsmomente bestätigt. Frage 4. Wie viele Fälle sind der Landesregierung bekannt, in denen Lehrkräfte, Schulpsychologen oder sonstige pädagogische Fachkräfte um Rat im Umgang mit radikalisierten Kindern suchten? Der Hessischen Landesregierung ist bisher eine niedrige zweistellige Zahl von Lehrkräften, Schulpsychologen oder sonstigen pädagogischen Fachkräften, die um Rat im Umgang mit radikalisierten Kindern suchten, bekannt geworden. Darüber hinaus hat die Beratungsstelle Hessen bislang über 80 Multiplikatorenfortbildungen für Lehr- und sonstige Fachkräfte zum Umgang mit Radikalisierung im islamistischen Bereich durchgeführt. Frage 5. Wie bewertet die Landesregierung die Problembeschreibung seitens der Radikalisierungs-Hotline des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, wonach zunehmend Grundschulkinder mit islamistischen Tendenzen auffallen, und wie stellt sich die Situation in Hessen dar? In Hessen fallen Grundschulkinder nicht zunehmend mit islamistischen Tendenzen auf. Dennoch ist die Landesregierung für die Problematik radikalisierter Kinder sensibilisiert. Gerade dann, wenn bereits die Eltern radikalisiert sind und die Kinder in einem salafistischen Umfeld aufwachsen , ist besondere Aufmerksamkeit geboten. In diesem Zusammenhang hat es hessenweit zwischen Oktober 2016 und April 2017 unter Beteiligung des Hessischen Informations- und Kompetenzzentrums gegen Extremismus (HKE), des LfV Hessen sowie Violence Prevention Network e.V. (VPN) insgesamt 10 Fortbildungsveranstaltungen für alle interessierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der hessischen Jugendämter gegeben. Eingegangen am 8. März 2018 · Ausgegeben am 16. März 2018 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/5352 08. 03. 2018 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/5352 Frage 6. Gibt es bezüglich dieses Phänomens besondere Hilfestellung und Unterstützung für die Schulen und Lehrkräfte? An hessischen Schulen ist Offenheit und Toleranz gegenüber unterschiedlichen religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen und Wertvorstellungen gewahrt. Gleichzeitig werden die auf politischen, sozialen oder religiösen Kontexten beruhenden Herausforderungen äußerst ernst genommen. Zusammen mit dem auch auf dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag basierenden Unterricht gibt es daher in Hessen eine Reihe von unterstützenden Maßnahmen, die demokratische Werte und Haltungen bei den Schülerinnen und Schülern stärken , sodass es erst gar nicht zu Radikalisierungsprozessen kommt. Dazu gehören zum Beispiel interkulturelle und interreligiöse Projekte, Fortbildungen zum Klassenrat, Demokratietage, Kinderrechte -Programme, das Europaschul-Netzwerk, UNESCO-Projektschulen, "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage" und die Einbeziehung außerschulischer Lernorte wie NS- Opfer-Gedenkstätten oder Gedenkstätten zur Erinnerung an die deutsche Teilung und die SED- Diktatur. In diesem Zusammenhang sind auch Beratungs- und Lehrerfortbildungs-Angebote des HKM-Projekts "Gewaltprävention und Demokratielernen" einzuordnen, in denen es unter anderem um demokratischen Umgang miteinander, um Wertschätzung, Verantwortungsübernahme und Selbstwirksamkeit geht. Im Bereich der Radikalisierung gibt es für Schulen und Lehrkräfte darüber hinaus verschiedene spezifische Hilfestellungen und Unterstützungsangebote. Nachfolgend sind exemplarisch einige davon aufgeführt: - Die "Beratungsstelle Hessen - Religiöse Toleranz statt Extremismus" in Trägerschaft des Violence Prevention Network e. V. (VPN) bietet ein breites Spektrum an Angeboten und Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Qualifizierung, Intervention, Deradikalisierung und Ausstiegsberatung an. Die Angebote sind grundsätzlich für alle Menschen in Hessen gedacht , die Beratung oder Unterstützung in der Auseinandersetzung mit religiös begründetem Extremismus benötigen. Dazu zählen neben der Familie und dem sozialen Umfeld insbesondere auch Schulen. Darüber hinaus kommt das Modellprojekt "Den Extremismus entzaubern ! Wissen erweitern und Handlungskompetenzen stärken" - ebenfalls in Trägerschaft von VPN - in hessischen Schulen in Form von Workshops mit jungen Menschen zum Einsatz, die bereits mit der Thematik des extremistischen Salafismus in Berührung gekommen sind. - Das Projekt gegen (religiösen) Extremismus "PRO Prävention - Kontra Extremismus" ist bei dem Integrationsbüro des Kreises Offenbach angesiedelt. Es führt Schulungs- und Aufklärungsveranstaltungen unter anderem für Fachkräfte aus den Bereichen Schule, Jugend- und Sozialarbeit zu den Themen Islam, Muslimfeindlichkeit, Salafismus und Dschihadismus durch. PRO Prävention steht außerdem im Austausch mit Behörden. Ein Beraterteam unter Beteiligung des Polizeipräsidiums Südosthessen berät Einrichtungen und Institutionen bei interkulturellen Fragen, führt Gespräche und greift im Konfliktfall zeitnah ein. - Das "beratungsNetzwerk hessen - gemeinsam für Demokratie und gegen Rechtsextremismus " stellt ein umfangreiches Angebot zur Verfügung, um demokratische Strukturen zu stärken, Rechtsextremismus vorzubeugen sowie Betroffenen Hilfe zu geben. Die Teams des Netzwerks beraten hessenweit Schulen, Eltern und Familienangehörige, Kommunen, Vereine und andere Hilfesuchende. - Die pädagogische Fachstelle "Rote Linie - Hilfen zum Ausstieg" unterstützt junge Menschen, Angehörige und pädagogische Bezugspersonen dabei, Einstiege in den Rechtsextremismus zu vermeiden. Das Angebot richtet sich unter anderem auch an Lehrkräfte in Schulen. - Das Land Hessen unterstützt das Netzwerk für Demokratie und Courage (NDC). Die Workshops von ehrenamtlich tätigen jungen Menschen richten sich in erster Linie an Schülerinnen und Schüler, um insbesondere Rechtsextremisten entgegentreten zu können. NDC erarbeitet aber auch mit Lehrkräften Handlungsoptionen gegen rechtsextremistische Aktivitäten und Argumentationen. - Als wichtiger Akteur der Rechtsextremismusprävention ist auch das Pädagogische Zentrum des Fritz-Bauer-Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt zu nennen. Eine Vielzahl von Angeboten richtet sich an Schulen und wird von abgeordneten Lehrkräften getragen. Das Pädagogische Zentrum verbindet dabei die Themenfelder jüdische Geschichte und Gegenwart sowie Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust. Auf dieser Grundlage bearbeitet es differenziert in Form von Beratungen, Lehrerfortbildungen, Workshops sowie Unterrichtsmaterialien unter anderem die Themen Antisemitismus und Rassismus und leistet damit eine wichtige Präventionsarbeit. - Das Jüdische Museum Frankfurt hat ein Programm zur antisemitismuskritischen Extremismusprävention ("Anti-Anti - Museum goes school") aufgelegt. Einem personenorientierten Ansatz folgend richtet sich das Projekt an Schülerinnen und Schüler an berufsbildenden Schulen. Es zielt auf die Persönlichkeitsstärkung der Schülerinnen und Schüler durch Anre- Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/5352 3 gung und Intensivierung der Selbstreflexion, Empowerment, Aufklärung und kulturelle Teilhabe . Ebenso will dieses Projekt die transkulturelle Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern stärken. Das aus Drittmitteln finanzierte Projekt soll nach erfolgreich abgeschlossener Pilotphase an der Philipp-Holzmann-Schule in Frankfurt auf mehrere Berufsschulen in Frankfurt übertragen werden. - Zu nennen ist ferner die pädagogische Arbeit der hessischen NS-Opfer-Gedenkstätten in Hadamar , Breitenau, Trutzhain und Stadtallendorf, die mit Unterstützung abgeordneter Lehrkräfte Schulen ein pädagogisches Angebot unterbreiten. - Partnerschaften für Demokratie: Die Partnerschaften für Demokratie werden gefördert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie Leben!" sowie durch die Hessische Landesregierung. Gefördert werden Projekte für Demokratie und gegen Extremismus. Die Fördermittel werden unter anderem für die Präventionsarbeit an Schulen sowie für Informations- und Beratungsangebote für Lehrkräfte und Sozialarbeiter eingesetzt. - Mit zahlreichen Lehrerfortbildungen leistet das Landesamt für Verfassungsschutz einen wichtigen Beitrag, damit Radikalisierung frühzeitig erkannt und entsprechende Maßnahmen vor Ort ergriffen werden können. So konnte bereits eine Vielzahl von Multiplikatoren für die Gefahren sensibilisiert werden. - Für Lehrkräfte bietet das Projekt "Gewaltprävention und Demokratielernen" (GuD) des Hessischen Kultusministeriums Fortbildungen zum Umgang mit extremistischem Salafismus an. - Ebenso ermöglicht das Projekt "Mehr als Du glaubst! Religiöse Vielfalt im ländlichen Raum Hessens" der Bildungsstätte Anne Frank eine Auseinandersetzung mit den Themen Religion und Religiosität in der Migrationsgesellschaft. Angeboten werden Workshops für Schülerinnen und Schüler sowie Fortbildungen für Lehrkräfte. Dabei werden Erscheinungsformen religiöser Diskriminierung, der Umgang mit religiöser Vielfalt in der Schule und die Darstellung von Religion in den Medien thematisiert. - Das Hessische Ministerium des Innern und für Sport hat in Kooperation mit dem Hessischen Kultusministerium und der Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien den Schulungs - und Lehrfilm "RADIKAL" herausgegeben. Der 17-minütige Film ist für die Präventionsarbeit mit jungen Menschen (etwa ab 14 Jahren) geeignet. Es werden Radikalisierungsprozesse in den Phänomenbereichen Linksextremismus, Rechtsextremismus und Islamismus /Salafismus nachgezeichnet und zahlreiche Anknüpfungspunkte angeboten, die zu einem besseren Verständnis von Radikalisierungsprozessen beitragen sowie die eigenständige Meinungsbildung und Argumentationsfähigkeit fördern. Zur Unterstützung der Präventionsarbeit mit Schülerinnen und Schülern befindet sich umfangreiches Begleitmaterial auf der DVD, das sich sowohl an junge Menschen als auch an Lehrkräfte richtet und Arbeitsblätter, Informationen zu den Themen Extremismus und (virtuelle) Radikalisierung sowie Hinweise auf einschlägige Beratungsstellen bereithält. Der Film wurde an alle weiterführenden Schulen in Hessen verteilt. Er wird kostenlos zur Verfügung gestellt und kann jederzeit von Schulen oder Lehrkräften angefordert werden. Im August 2017 wurde "RADIKAL" als bester Kurzfilm Rhein-Main auf dem Filmfestival "Shorts at Moonlight" ausgezeichnet. Frage 7. Inwieweit erfolgt diesbezüglich ein Austausch mit außerschulischen Einrichtungen, die im Bereich der Extremismusbekämpfung tätig sind, und welche Maßnahmen werden auf den Weg gebracht? Im Rahmen der verschiedenen Hilfestellungen und Unterstützungsangebote findet ein reger Austausch mit außerschulischen Einrichtungen, die im Bereich der Extremismusbekämpfung tätig sind, statt. So sind die Sicherheitsbehörden in Hessen beispielsweise in ausgewählten lokalen Ämternetzwerken (zum Beispiel "Netzwerk Extremismusprävention Hanau", Frankfurter Ämternetzwerk gegen Extremismus) aktiv. Dort tauschen Behörden wie Staatliches Schulamt, Jugendamt , Einwohnermeldeamt, Sozialamt, Jugendjobcenter usw. auf Arbeitsebene zeitnah Informationen aus und arbeiten eng zusammen, um auf operativer Ebene schnell notwendige gefahrenabwehrende Maßnahmen treffen zu können. Das Hessische Kultusministerium tauscht sich beispielsweise mit Lehrkräften und Einrichtungen wie Gedenkstätten und Archiven sowie dem Pädagogischen Zentrum des Fritz-Bauer-Instituts und des Jüdischen Museums aus. Im Übrigen wird auf die Beantwortung der Frage 6 verwiesen. Frage 8. In wie vielen Fällen wurden andere Behörden eingeschaltet und hat die Landesregierung Erkenntnis darüber mit welchem Ergebnis? Nach Kenntnis der Landesregierung wurden bislang in einer zweistelligen Zahl von Fällen andere Behörden eingeschaltet, jeweils unter Beachtung der allgemein gültigen Datenschutzregelungen . Bei diesen Behörden handelt es sich insbesondere um Polizeidienststellen, die Staatsanwaltschaft , das Landesamt für Verfassungsschutz, das örtlich zuständige Jugendamt, das staatliche Schulamt, die Stadtverwaltung der jeweiligen Kommunen sowie das Demokratiezentrum 4 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/5352 Hessen und die "Beratungsstelle Hessen - Religiöse Toleranz statt Extremismus" (Träger: VPN). Die Zusammenarbeit bzw. Kooperation mit den Behörden ist immer darauf gerichtet, schnellstmöglich zu handeln und die betreffenden Personen in ein geordnetes Leben zurückzuführen . Frage 9. Sind der Landesregierung Fälle bekannt, in denen sich Kinder und Jugendliche wegen einer familiären Radikalisierung an schulische und außerschulische Fachkräfte oder Behörden wandten? Der Landesregierung ist ein Fall bekannt, in dem sich eine Jugendliche wegen familiärer Radikalisierung an Lehrkräfte wandte. Vereinzelt sind Fälle bekannt, in denen sich Eltern wegen der Radikalisierung der eigenen Kinder an die Schule wandten. Wiesbaden, 22. Februar 2018 In Vertretung: Werner Koch