Kleine Anfrage der Abg. Gnadl, Alex, Barth, Faeser, Geis, Habermann, Hartmann, Hofmann, Hofmeyer, Löber, Müller (Schwalmstadt), Özgüven, Dr. Sommer, Strube, Waschke, Ypsilanti (SPD) vom 24.11.2017 betreffend Genitalverstümmelung in Hessen und Antwort des Ministers für Soziales und Integration Vorbemerkung der Fragestellerinnen: Eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend teilt mit, dass 50.000 Frauen und Mädchen in Deutschland von Genitalverstümmelung betroffen sind. Der Internationale Gedenktag "Nein zu Gewalt an Frauen" von TERRE DES FEMMES stellt in diesem Jahr dieses Thema in den Fokus. Auch in Hessen leben Frauen und Mädchen, die von Genitalverstümmelung betroffen oder gefährdet sind. Diese benötigen entsprechende Hilfe. Diese Vorbemerkung der Fragestellerinnen vorangestellt, beantworte ich die Kleine Anfrage im Einvernehmen mit dem Hessischen Minister des Innern und für Sport folgt: Frage 1. Welche Erkenntnisse liegen der Landesregierung über die Anzahl der von Genitalverstümmelung betroffenen Frauen und Mädchen, die in Hessen leben, vor? Laut Kassenärztlicher Vereinigung Hessen wurden die ICD-Codes "Weibliche Genitalverstümmelung in der Eigendiagnose" Z91.7 bis einschließlich Z91.74 im Jahr 2016 in 572 Fällen und 2017 (nur ersten Halbjahr) in 264 Fällen codiert. Bei den vorliegenden Daten ist zu berücksichtigen , dass von einer Untererfassung auszugehen ist, da nur die Daten der gesetzlich Versicherten und hier lediglich die auch tatsächlich codierten Fälle (Angabe ist beim Arzt erfolgt, Arzt hat daraufhin codiert) erfasst sind. Andere objektive Zahlen liegen nicht vor, auch gibt es keine validen Statistiken bezüglich der Anzahl der von weiblicher Genitalbeschneidung betroffenen Frauen und Mädchen in der Erstaufnahmeeinrichtung (EAE). Die Polizeikriminalstatistik erfasst Sachverhalte gemäß dem Delikt "Verstümmelung weiblicher Genitalien" nach § 226a Strafgesetzbuch (StGB) unter dem Oberbegriff der Körperverletzung. Es erfolgen weder eine gesonderte statistische Erfassung noch eine gesonderte Auswertung nach § 226a StGB. Daher können zum Umfang der Delikte bzw. zur Anzahl der betroffenen Frauen und Mädchen im Rahmen der Polizeikriminalstatistik keine Aussagen getroffen werden. Frage 2. Wie hoch wird die Dunkelziffer geschätzt? Hierzu liegen der Hessischen Landesregierung keine Erkenntnisse vor. Frage 3. Inwieweit wird Genitalverstümmelung bei Schulungen und in der Ausbildung von Jugendamtsmitarbeitern , Sozialarbeitern, Sozialpädagogen, Lehrern, Polizisten und Ärzten thematisiert, um gefährdete Mädchen und Frauen zu identifizieren, um ihnen helfen zu können? Bisher wird das Thema Genitalverstümmelung in den jeweiligen Ausbildungen von Jugendamtsmitarbeitern , Sozialarbeitern, Sozialpädagogen, Lehrern und Ärzten nicht explizit thematisiert . Es besteht jedoch die Möglichkeit der Weiterbildung durch verschiedene Anbieter und für verschiedene Adressaten. Eingegangen am 4. Januar 2018 · Bearbeitet am 8. Dezember 2018 · Ausgegeben am 12. Januar 2018 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/5458 04. 01. 2018 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/5458 In Hessen wurden und werden gerade aktuell zahlreiche Fachtagungen/Fortbildungen zum Thema weibliche Genitalbeschneidung/Female Genital Mutilation (FGM) angeboten. Als Beispiele seien genannt: die Fortbildungsveranstaltung "FGM - Female Genital Mutilation weibliche Genitalverstümmelung " am 3.11.2017 in Kassel, organisiert durch den Deutschen Hebammenverband DHV für Hebammen, Ärztinnen und Ärzte sowie andere Interessierte, die Fachtagung: Weibliche Genitalbeschneidung - "Schutz und Hilfe für betroffene Mädchen und Frauen" am 22.11.2017 organisiert durch Wildwasser Gießen e.V. für Fachkräfte aus dem pädagogischen, medizinischen und therapeutischen Bereich, der Arbeitskreis Häusliche Gewalt des Rheingau-Taunus-Kreises bietet eine Veranstaltung "Ein Schnitt in die Seele! Weibliche Genitalverstümmelung, die größte Menschenrechtsverletzung an Frauen und Mädchen weltweit" am 07.12.2017 an. Weiterbildung zum Thema findet für den Öffentlichen Gesundheitsdienst durch die Akademie für öffentliches Gesundheitswesen Düsseldorf statt; in diesem Rahmen wurden Fortbildungen u.a. in Frankfurt durchgeführt. Unabhängig von Fortbildungen und Fachtagungen bieten Vereine wie "Maisha", die Selbsthilfegruppe für Afrikanische Frauen in Deutschland e.V. in Frankfurt am Main, "Wildwasser" sowie FIM - Frauenrecht ist Menschenrecht e.V. regelmäßig eine Aufklärung an. Zusätzlich existiert schriftliches Informationsmaterial, das sich an die unterschiedlichen Berufsgruppen richtet. Als Beispiele seien genannt: Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen –Hintergründe und Hilfestellung für professionell Pflegende des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK), die Broschüre "Weiblicher Genitalverstümmelung begegnen - Ein Leitfaden für Fachkräfte in sozialen, pädagogischen und medizinischen Berufen" des CHANGE Projekts, das von TERRE DES FEMMES koordiniert und von der Europäischen Union unterstützt wird sowie die Empfehlungen der Bundesärztekammer (BÄK) zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalbeschneidung (FGM), die zuletzt 2015 aktualisiert wurde. In den kriminalpolizeilichen Fortbildungsangeboten an der Polizeiakademie Hessen ist das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung nach § 226a StGB fester Bestandteil. So werden beispielsweise in den Seminaren zu den Themen Vergewaltigung, sexueller Missbrauch und Kindesmisshandlung sowie Gewalt in der Ehe/Partnerschaft nicht nur die strafrechtlichen Bewertungen und entsprechende Hilfsangebote in diesem Kontext aufgezeigt, sondern auch die neuesten Studien im Zusammenhang mit der weiblichen Genitalbeschneidung vorgestellt. Frage 4. Welche Beratungs- und Aufklärungsangebote gibt es für die Eltern der heranwachsenden Mädchen , um Genitalverstümmelung frühzeitig zu verhindern? Die Beratungsstellen der pro familia e.V. sind dank der personellen Besetzung mit Sexualmedizinerinnen und -medizinern sowie Psychologinnen und Psychologen vielfach sowohl in der Beratung und Begleitung von Opfern der weiblichen Genitalbeschneidung tätig als auch für die Schulung von Multiplikatorinnen ansprechbar. Die kommunalen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten und Frauenberatungsstellen stehen regelmäßig in enger Kooperation mit den in der nachfolgenden Antwort zu Frage 5 aufgeführten Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen. In der Erstaufnahmeeinrichtung können Eltern heranwachsender Mädchen die niedrigschwelligen Angebote der Erstaufnahme nutzen. An allen Standorten der Erstaufnahmeeinrichtung steht ein Sozialdienst unterstützend zur Verfügung. Weiterhin gibt es Gesprächsangebote und eine regelmäßig durchgeführte Veranstaltung zum Thema "Gesundheit der Frau". Frage 5. Wo finden Frauen und Mädchen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind, in Hessen Hilfe? Eine Anzahl von Gesundheitsämtern in Hessen (z.B. die Gesundheitsämter in Frankfurt am Main und Wiesbaden) bieten humanitäre Sprechstunden an und arbeiten dabei mit niedergelassenen Ärzten der unterschiedlichsten Fachrichtungen, auch mit Gynäkologinnen und Gynäkolgen , zusammen. Dort finden auch von weiblicher Genitalbeschneidung oder Female Genital Mutilation (FGM) betroffene oder bedrohte Frauen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner und können an medizinische Einrichtungen oder andere helfende Organisationen weitervermittelt werden. In den gynäkologischen Abteilungen der hessischen Krankenhäuser, besonders auch an den Universitätskliniken in Frankfurt und Gießen wird die rekonstruierende Operation nach FGM angeboten. Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/5458 3 In den vergangenen Jahren haben sich in Frankfurt am Main folgende Selbsthilfegruppen und auf FGM spezialisierte Beratungsstellen etabliert, die überregional weitere Akteurinnen und Akteure unterstützen: Maisha e.V., eine Frankfurter Selbsthilfegruppe afrikanischer Frauen in Deutschland, info@maisha.org, die Beratungsstelle für afrikanische Familien beim Stadtgesundheitsamt Frankfurt, info.internationalesprechstunde@stadt-frankfurt.de und FIM - Frauenrecht ist Menschenrecht e.V., Beratungs- und Informationszentrum für Migrantinnen , info@fim-beratungszentrum.de, www.fim-frauenrecht.de. Sorgen-Telefon-Hotlines, wie die "Nummer-gegen-Kummer" - das Kinder- und Jugendtelefon sowie "Wildwasser"-Anlaufstellen und Frauenhäuser können hilfreich sein. Zur Unterstützung von betroffenen geflüchteten Frauen und Mädchen stehen in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Hessen verschiedene niedrigschwellige Hilfsangebote zur Verfügung. An jedem Standort der Erstaufnahmeeinrichtung ist ein Sozialdienst verfügbar, um bei akutem Bedarf schnell und unkompliziert Hilfe zu leisten. Das sozialpädagogische Personal bietet u.a. eine proaktive Unterstützung für Bewohnerinnen in besonderen Lebenslagen, Kinderbetreuung sowie aufsuchende Beratung. Ebenso befindet sich an jedem Standort eine medizinische Ambulanz . Hier werden regelmäßige ärztliche Sprechstunden angeboten. Vervollständigt wird das Angebot durch einen rund um die Uhr anwesenden Sanitätsdienst. Bei Bedarf stehen unterstützend Übersetzerinnen und Übersetzer zur Verfügung. Durch ein niedrigschwelliges und spezifisch angepasstes Angebot kann somit gezielt auf die individuellen Gesundheitsbedürfnisse eingegangen werden. Bereits im Rahmen der Erstuntersuchung aber auch während des Aufenthalts in der Erstaufnahmeeinrichtung identifiziert das Personal schutzbedürftige Personen, stellt in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Dezernaten im Regierungspräsidium Gießen eine bedarfsgerechte Unterstützung sicher und trifft Festlegungen zur Unterbringung an besonderen Standorten für Schutzbedürftige, sodass den individuellen Bedürfnissen Rechnung getragen wird und eine adäquate Unterbringung gewährleistet ist. Sobald eine weibliche Genitalbeschneidung bekannt wird, findet eine zügige ärztliche Konsultation in der medizinischen Ambulanz des Standortes statt. Äußert die Betroffene körperliche Beschwerden , können dort Sofortmaßnahmen eingeleitet werden. Ebenfalls erfolgt eine schnellstmögliche Vorstellung bei einer Fachärztin/einem Facharzt für Gynäkologie. An allen Standorten der Erstaufnahmeeinrichtung gibt es ergänzende Gesprächsangebote und eine regelmäßig durchgeführte Veranstaltung zum Thema "Gesundheit der Frau". Diese Veranstaltung findet bei der Bewohnerschaft regen Zuspruch. Zur Verbesserung der psychosozialen Versorgung Geflüchteter hat das Land Hessen Fördergelder zum Aufbau Psychosozialer Zentren zur Verfügung gestellt. Mittlerweile wurden vier Träger für die Regionen Kassel, Gießen, Rhein-Main und Darmstadt ausgewählt. Es ist geplant, dass diese Zentren noch im Jahr 2017 mit ihrer Arbeit beginnen. Frage 6. Wie hilft und unterstützt die Landesregierung Frauen und Mädchen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind? Liegt eine Asylberechtigung vor, werden medizinische Maßnahmen zur Rekonstruktion von der jeweiligen Krankenkasse übernommen. Zudem erfolgt eine psychologische Unterstützung durch die in den Antworten zu den Fragen 4 und 5 aufgeführten Beratungsstellen und Anlaufstellen. Frage 7. Wie hoch ist der Mittelansatz der Landesregierung für die Hilfe und Unterstützung von Frauen und Mädchen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind? Im Zeitraum 2014 bis Anfang 2017 führte "FIM-Frauenrecht ist Menschenrecht e.V." ein Projekt "Bildung und Aufklärung in der Familie" in Frankfurt durch mit einem Schwerpunkt auf die Gesundheitsförderung und das Empowerment in der Vernetzung. Die Förderung betrug 30.000 € für das Jahr 2014. Dieses Projekt befasste sich unter anderem mit der weiblichen Genitalbeschneidung . Die vielseitigen, niedrigschwelligen Angebote der Erstaufnahmeeinrichtungen befrieden unterschiedlichste Bedarfe. Weiterhin entstehen dort individuelle Gesundheitsausgaben, so z.B. bei einer notwendigen fachärztlichen Behandlung sowie zur psychologischen Betreuung von Betrof- 4 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/5458 fenen. Eine Einzeldarstellung der spezifischen Aufwendungen für von weiblicher Genitalbeschneidung betroffene Frauen und Mädchen ist nicht auswertbar. Zur Verbesserung der psychosozialen Versorgung Geflüchteter hat das Land Hessen insgesamt 1,6 Mio. € zur Verfügung gestellt, die in Form einer Förderung an vier neu zu etablierende Psychosoziale Zentren fließen (jeweils Höchstforderung von 400.000 € pro Jahr und Zentrum). Diese Zentren entstehen noch dieses Jahr in Kassel, Gießen, Frankfurt und Darmstadt. Frage 8. Inwiefern setzt sich die Landesregierung für die Bekämpfung der Genitalverstümmelung ein und in welcher Höhe ist der Mittelansatz für diese Maßnahmen? Ein wichtiger Ansatzpunkt ist die Aufklärung zu diesem Thema. Am 22. 11.2017 fand in Gießen eine Fachtagung zum Thema Genitalbeschneidung statt, die mit knapp 10.000 € gefördert wurde. Unter den Teilnehmenden waren viele soziale Beratungsfachkräfte , Hebammen, Ärztinnen, Netzwerkkoordinatorinnen und Jugendamtsmitarbeiterinnen. Hauptreferent war Herr Dr. Z. Er hat als Facharzt für Gynäkologie für von weiblicher Genitalbeschneidung betroffene Frauen eine Sondersprechstunde eingerichtet. Eine weitere Rednerin war Frau Charlotte N. N. Sie ist bei "FIM-Frauenrecht ist Menschenrecht e.V." in Frankfurt im Rahmen der psychosozialen Beratung tätig. Sie begleitet vor allem Frauen aus afrikanischen Ländern. Ihr Fokus liegt dabei auf der Aufklärungs- und Beratungsarbeit zu weiblicher Genitalbeschneidung . Die Kosten für die Fachtagung betrugen 10.000 €. Für den Bereich der Erstaufnahmeeinrichtung wird auf die Beantwortung zu den Fragen 5 und 7 verwiesen. Frage 9. Welche sonstigen niederschwelligen Beratungs- und Aufklärungsangebote, wie zum Beispiel Mädchentreffs, hält die Landesregierung für sinnvoll und wie will sie diese finanzieren? Hierzu wird auf die Beantwortung der Fragen 5, 6 und 7 verwiesen. Wiesbaden, 22. Dezember 2017 Stefan Grüttner