Kleine Anfrage des Abg. Degen (SPD) vom 09.05.2018 betreffend schulische Maßnahmen gegen Antisemitismus und Antwort des Kultusministers Vorbemerkung des Fragestellers: Jenseits der Installation eines Antisemitismusbeauftragten sind klare Informationen und Konzepte erforderlich, um Antisemitismus entgegenzuwirken. Vorbemerkung des Kultusministers: Extremismus und Radikalisierung muss sehr früh mit präventiven Maßnahmen in den Schulen begegnet werden. Hierzu hat das Land Hessen ein breites Angebot aufgebaut, das regelmäßig weiterentwickelt wird. Antisemitismus darf an hessischen Schulen keine Plattform finden. Schülerinnen und Schüler sollen auf der Basis des Hessischen Schulgesetzes in einer gewaltfreien, respektvollen und wertschätzenden Atmosphäre miteinander lernen können, ohne Ausgrenzung und Diskriminierung fürchten zu müssen. Hierbei helfen verschiedene schulische Instrumente (z.B. Unterrichtsprojekte, Schulprogramme und Schulordnungen) und verschiedene Unterstützungsangebote , die bereits genutzt und weiter ausgebaut werden. Diese Vorbemerkungen vorangestellt, beantworte ich die Kleine Anfrage im Einvernehmen mit dem Staatsminister und Chef der Staatskanzlei, dem Minister des Innern und für Sport und dem Minister für Soziales und Integration wie folgt: Frage 1. Wie viele hessische Schülergruppen besuchten insgesamt oder, falls der Landesregierung hierzu keine Daten vorliegen sollten, im Rahmen einer durch die Hessische Landeszentrale für politische Bildung (HLZ) bezuschussten Fahrt im aktuellen sowie im vorausgegangen Schuljahr ehemalige Konzentrationslager? (Darstellung bitte nach Name der Gedenkstätte sowie mit Angabe der Schulform ) Im Rahmen der Bezuschussung von Studienfahrten zu Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus durch die Hessische Landeszentrale für politische Bildung (HLZ) besuchten im Jahr 2017 466 Schülergruppen ein ehemaliges Konzentrationslager bzw. eine NS-Opfergedenkstätte. Aus dem Bildungsgang Hauptschule nahmen 77, aus dem Bildungsgang Realschule 184 und aus dem Bildungsgang Gymnasium 196 Schülergruppen an entsprechenden Fahrten teil. Neun Schülergruppen kamen u.a. aus beruflichen Schulen. Am häufigsten wurde das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald besucht (284). Es folgten Hadamar (93), Auschwitz (23), Breitenau und Trutzhain (12), Osthofen (11), das Dokumentationszentrum des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg (7), Struthof (7), Dachau (6), Mittelbau-Dora (6), Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus und/oder die "Topographie des Terrors" in Berlin (4), das NS- Dokumentationszentrum in Köln (3), das Anne-Frank-Haus in Amsterdam bzw. das KZ Westerbork (2), Flossenbürg (2), die Gedenkstätte Kalavrita in Griechenland (2), Neuengamme (2) sowie je einmal Gedenkstätten in Frankreich und Polen (Lublin). Im Jahr 2018 besuchten im Rahmen der Bezuschussung von Studienfahrten zu Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus durch die HLZ bislang 183 Schülergruppen ein ehemaliges Konzentrationslager bzw. eine NS-Opfergedenkstätte. Davon kamen 28 Schülergruppen aus dem Bildungsgang Hauptschule, 92 aus dem Bildungsgang Realschule, 59 aus dem Bildungsgang Gymnasium und vier u.a. aus beruflichen Schulen. Auch 2018 wurde von den bezuschussten Fahrten am häufigsten das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald besucht (132), es folgen Hadamar (26), Auschwitz (10), Breitenau und Trutzhain (6), das Dokumentationszentrum des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg (4), Osthofen (4) sowie Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus und/oder die "Topographie des Terrors" in Berlin (1). Eingegangen am 6. Juli 2018 · Bearbeitet am 6. Juli 2018 · Ausgegeben am 11. Juli 2018 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/6388 06. 07. 2018 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/6388 Zahlreiche Schulklassen besuchten und besuchen jedoch auch ehemalige Konzentrationslager und NS-Opfergedenkstätten, ohne hierfür einen Zuschuss bei der HLZ zu beantragen. Das gilt insbesondere für die NS-Opfergedenkstätten in Hessen. Eine zentrale Erfassung entsprechender Fahrten findet nicht statt. Frage 2. Welche weiteren Maßnahmen sieht das hessische Konzept zur Erinnerungskultur vor? Erinnern und Erinnerungskultur sind Teil historisch-politischer Bildung und somit Gegenstand des schulischen Lernens. Viele Schulen in Hessen integrieren Gedenktage oder den Besuch von Orten der Erinnerung, Gedenkstätten und Museen in langfristig wirkende pädagogische Konzepte historisch-politischer Bildung. Hierfür gibt es in zahlreichen Unterrichtsfächern wie Geschichte , Politik und Wirtschaft, Deutsch, Religion oder Ethik Anknüpfungspunkte. Neben dem Unterricht und Projekten der Schulen vor Ort unterstützt das Land die Entwicklung entsprechender Konzepte in vielfältiger Weise. Dazu gehören Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte genauso wie die Abordnung von Lehrkräften an hessische Gedenkstätten, Archive und Museen im Hinblick auf die Arbeit mit Schulen oder auch die Beratungen, Fortbildungen und Workshops des Pädagogischen Zentrums des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main, das ebenfalls mit abgeordneten Lehrkräften durch das Hessische Kultusministerium gefördert wird. Zudem bietet auch die HLZ Lehrkräftefortbildungen zu den Themen Nationalsozialismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus an. Frage 3. Wird die Beschäftigung mit diesem Konzept von den Staatlichen Schulämtern registriert und wenn ja, an welchen Schulen findet es Anwendung? Wie die in der Antwort auf Frage 2 beschriebenen Maßnahmen zur Erinnerungskultur als Teil politisch-historischer Bildung am besten langfristig wirken, hängt maßgeblich von den jeweiligen Bedingungen vor Ort ab. So kann es sinnvoll sein, Familiengeschichten von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Herkunftsländer oder zum Beispiel regionale Aspekte der NS- Vergangenheit vor Ort mit zu berücksichtigen, die sich teilweise aus Archivakten oder Akten regionaler Gedenkstätten erschließen lassen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht sinnvoll, den Schulen ein einheitliches Konzept zur Erinnerungskultur vorzuschreiben und die Beschäftigung damit über die Staatlichen Schulämter zu registrieren. Frage 4. Wie ermutigt die Landesregierung Lehrkräfte mit ihren Klassen Gedenkstättenbesuche durchzuführen ? In den Lehrplänen aller Bildungsgänge wird im Fach Geschichte unter dem Themenfeld "Nationalsozialismus " der Besuch von Gedenkstätten empfohlen. Auch die Zuschüsse für Gedenkstättenfahrten durch die HLZ sowie die Unterstützung von Schulen durch abgeordnete Lehrkräfte in den Gedenkstätten sowie Führungen und Workshop-Angebote in der Erinnerungsstätte Großmarkthalle in Frankfurt a.M. durch abgeordnete Lehrkräfte des Pädagogischen Zentrums des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums sind eine deutliche Ermutigung zum Besuch von Gedenkstätten. Zudem finden regelmäßig Fortbildungen für hessische Lehrkräfte an der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel statt. Die Lehrkräfte können sich vor Ort über aktuelle Entwicklungen im Bereich der Erinnerungspädagogik informieren, an Workshops zur Vermittlung des jüdischen Lebens in Europa teilnehmen sowie didaktische Methoden kennenlernen, um Schülerinnen und Schüler auf Besuche von NS-Gedenkstätten vorzubereiten. Grundlage der Fortbildung ist eine Vereinbarung zur kontinuierlichen Kooperation, unterzeichnet von Yad Vashem, der nationalen Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel, dem Hessischen Kultusministerium, der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, den Gedenkstätten Breitenau, Hadamar, Trutzhain und dem Dokumentations- und Informationszentrum DIZ Stadtallendorf sowie dem Pädagogischen Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums. Frage 5. Welche Zusammenarbeit der Schulen gibt es mit jüdischen Gemeinden, z.B. in Frankfurt? Schulen wenden sich zum Beispiel in Frankfurt a.M. regelmäßig an die jüdische Gemeinde im Hinblick auf den Besuch von Synagogen. Zudem hält die HLZ für Schulen Angebote zu regelmäßigen Besuchen von Vertreterinnen und Vertretern (z.B. Petra K., Lorenz S. B.) bereit, die über das heutige jüdische Leben berichten. Frage 6. Gibt es einen Überblick über Aktivitäten von Schulen zum Abbau von Antisemitismus? Das pädagogische Handeln in den hessischen Schulen ist von Werten und Haltungen getragen, die Schülerinnen und Schülern bereits in der Grundschule eine Orientierung und ein inneres Ge- Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/6388 3 rüst geben, das sie stark macht gegen Extremismus und Antisemitismus. Leitlinien sind dabei die Grundrechte des Grundgesetzes, insbesondere die unantastbare Würde des Menschen. Auf der Basis des Bildungs- und Erziehungsauftrags nach dem Hessischen Schulgesetz sollen die Schülerinnen und Schüler in einer gewaltfreien, respektvollen und wertschätzenden Atmosphäre miteinander lernen können, ohne Ausgrenzung und Diskriminierung fürchten zu müssen. Die Menschen- und Bürgerrechte werden an hessischen Schulen in einzelnen Unterrichtsfächern, aber auch fächerübergreifend vermittelt, wobei insbesondere im Geschichtsunterricht aufgezeigt wird, wie Demokratie und Menschenrechte systematisch zerstört wurden, bis hin zum beispiellosen Verbrechen des Holocausts. Falls bei aktuellen antisemitischen Vorfällen die Schulen Unterstützungsbedarf haben, stehen die Staatlichen Schulämter (z.B. die schulpsychologischen Ansprechpartner für Gewaltprävention) sowie Ansprechpartner des Projekts "Gewaltprävention und Demokratielernen" des Hessischen Kultusministeriums zur Verfügung. Die Landesregierung fördert darüber hinaus externe Beratungsstellen, Vereine und Projekte mit hoher fachspezifischer Expertise. Frage 7. Gibt es einen Überblick über Vorfälle von Antisemitismus an Schulen und bei Sportveranstaltungen ? Das Kultusministerium hat einen Erlass herausgegeben, der die Schulen um erhöhte Sensibilität und Wachsamkeit bittet, damit antisemitische Tendenzen an hessischen Schulen keine Plattform finden. Antisemitische Vorfälle sollen künftig von den Schulen an die jeweilige Schulaufsicht gemeldet werden, um einen Überblick über etwaige Vorkommnisse in Hessen zu erhalten. Alle bekannt gewordenen Fälle von Antisemitismus als Teilmenge der Hasskriminalität werden durch den Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen politisch motivierter Kriminalität nach bundesweit abgestimmten Erfassungskriterien registriert. Nachfolgend wird die Anzahl antisemitischer Fälle in Hessen mit den Tatorten "Schule" und "Sportveranstaltung" für die Jahre 2016 bis 2018 (Stand: 17.05.2018) angeführt: Jahr Schule Sportveranstaltung 2016 2 - 2017 3 5 2018 - - Frage 8. Welche Konsequenzen haben solche Vorfälle? Die Konsequenzen hängen von der Art des Vorfalls ab. Sie reichen von pädagogischen Maßnahmen , ggf. unter Einbeziehung der Schulleitung, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter , Schulpsychologinnen und Schulpsychologen bis hin zur Einschaltung von Strafverfolgungsbehörden . Frage 9. Welche Bildungsangebote enthalten die hessischen Integrationskonzepte gegen Antisemitismus? Gemäß dem Hessischen Integrationsplan der Landesregierung sollen Schülerinnen und Schüler in der Schule befähigt werden, unterschiedliche religiöse und kulturelle Werte zu achten und zu tolerieren, sofern sie nicht im Gegensatz zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland stehen . Das Lernziel lautet: Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen soll vorurteilsfrei begegnet werden. Die Landesregierung hat in der weiteren Umsetzung des Integrationsplans auch Integrationsverträge zu wichtigen gesellschaftspolitischen Themen abgeschlossen. Ein Vertrag wurde mit der Bildungsstätte Anne Frank vereinbart. Damit greift die Landesregierung die in der jüngsten Zeit zunehmenden Angriffe gegen Jüdinnen und Juden auch in Hessen auf und setzt eine aktive Initiative dagegen. Vor dem Hintergrund der antisemitischen und islamfeindlichen Vorfälle der jüngeren Zeit hat das Sicherheitsgefühl von Menschen, die in Hessen einer Minderheit angehören, spürbar gelitten. Zugleich sind für viele Angehörige der Mehrheitsgesellschaft die Ausmaße der Anfeindungen nur schwer greifbar, viele fühlen sich selbst verunsichert durch die Herausforderungen einer vielfältigen und zunehmend heterogenen Gesellschaft. Als Zentrum für politische Bildung und Beratung Hessen entwickelt die Bildungsstätte Anne Frank im Rahmen des Integrationsvertrags mit der Hessischen Landesregierung innovative Konzepte und Methoden, um Jugendliche und Erwachsene für die aktive Teilhabe an einer offenen und demokratischen Gesellschaft zu stärken. Im Rahmen des Landesprogramms "WIR" wird die Umsetzung des Integrationsvertrages auch finanziell gefördert. Darüber hinaus hat die Landesregierung aktuell eine Ausschreibung veröffentlicht, um Kommunen zwischen 10.000 und 50.000 Einwohnerinnen und Einwohnern bei der Erarbeitung von Vielfalts- und Integrationsstrategien zu unterstützen. 4 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/6388 Frage 10. Wie unterstützt die Landesregierung Schulen bei der Aufnahme von Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern, um die neuen Schülerinnen und Schüler für dieses Thema zu sensibilisieren? Die Vermittlung von Weltoffenheit und Toleranz ist ein zentraler Eckpunkt hessischer Bildungspolitik und beginnt in allen schulischen Maßnahmen und unabhängig von der Herkunftssprache . § 2 Abs. 2 HSchG sieht vor, dass mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule die Schulen ihre Schülerinnen und Schüler befähigen sollen, in Anerkennung der Wertordnung des Grundgesetzes und der Verfassung des Landes Hessen Menschen anderer Herkunft, Religion und Weltanschauung vorurteilsfrei zu begegnen und somit zum friedlichen Zusammenleben verschiedener Kulturen beizutragen sowie für die Gleichheit und das Lebensrecht aller Menschen einzutreten. Des Weiteren sollen Schulen ihren Schülerinnen und Schülern die dem Bildungs - und Erziehungsauftrag entsprechenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Werthaltungen vermitteln . Darüber hinaus ist das Thema Antisemitismus im Religions- und Ethikunterricht verankert . Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern aus den Intensivklassen wird über die Teilintegration ermöglicht, bereits vor Übergang in den Regelunterricht am Religions-, Ethik-, Politikund Geschichts- bzw. Gesellschaftslehre-Unterricht teilnehmen. Ferner werden die Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger durch die Partizipation in der Klassengemeinschaft durch Maßnahmen wie bspw. den Klassenrat, Exkursionen und kooperative Lernformen befähigt, eine demokratische Grundhaltung einzunehmen, Team- und Sozialkompetenz, Verantwortungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit weiterzuentwickeln. Als wichtiges Unterstützungsinstrument für den Übergang in den regulären Schulunterricht wurde im Februar 2017 auch aufgrund von Anregungen des Praxisbeirates zur Flüchtlingsbeschulung der "Schulische Integrationsplan" ins Leben gerufen. Ein wichtiger Bestandteil des in diesem Zusammenhang erstellten abgestimmten Fortbildungs- und Beratungsprogramms ist der Aspekt der Kultur- und Wertevermittlung. In dieses Konzept ist der Umgang mit Antisemitismus eingebettet. Somit wird sichergestellt, dass die Lehrkräfte umfangreich beraten werden und Unterstützung erfahren. Insgesamt können die zuvor genannten Maßnahmen auch für Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger genutzt werden . Zudem werden die Schulen sowohl durch die Fachberatung der Aufnahme- und Beratungszentren als auch durch die Ansprechpartner "Migration und Flüchtlingsberatung" der Schulpsychologie unterstützt. Wiesbaden, 28. Juni 2018 Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz