Kleine Anfrage der Abg. Degen und Roth (SPD) vom 24.08.2018 betreffend kreationistischer Einfluss auf Schülerinnen und Schüler und Antwort des Kultusministers Vorbemerkung der Fragesteller: Der Sender "ARTE" hatte 2006 eine Dokumentation über die Aktivitäten christlicher Fundamentalisten in Deutschland ausgestrahlt, in der es auch um Versuche ging, Einfluss auf Schulen zu gewinnen. An zwei Gießener Schulen sei im Biologieunterricht die biblische Schöpfungslehre unterrichtet worden und ein nicht zugelassenes Lehrbuch eines Kreationisten-Zusammenschlusses benutzt worden. Im März dieses Jahres erschien ein Artikel in der "Berliner Morgenpost", in dem es hieß, die kreationistische Bewegung dränge vermehrt an deutsche Schulen. Vorbemerkung des Kultusministers: Grundlage des Unterrichts an hessischen Schulen sind die Kerncurricula des Landes, die jeweils durch Rechtsverordnung für verbindlich erklärt werden (§ 4 Abs. 1 und 5 des Hessischen Schulgesetzes). Der Einfluss Dritter auf Unterrichtsinhalte und Unterrichtsgestaltung, der den Kerncurricula widerspricht, ist damit unzulässig. Dies gilt auch für die Vermittlung wissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse zur Evolutionslehre im Fach Biologie. Diese Vorbemerkungen vorangestellt, beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1. Liegen der Landesregierung Erkenntnisse darüber vor, dass an Bekenntnisschulen in Hessen die Lehrpläne nicht umgesetzt werden? Falls nein, auf welcher belastbaren Grundlage trifft sie diese Aussage? Diesbezügliche Erkenntnisse liegen nicht vor. So wurden weder im Rahmen der schulaufsichtlichen Begleitung der Schulen in freier Trägerschaft entsprechende Auffälligkeiten festgestellt, noch gab es aus dem Kreise der Eltern oder der betroffenen Schülerinnen und Schüler entsprechende Hinweise. Auch gezielte Nachfragen aus Anlass der vorliegenden Kleinen Anfrage bei den zuständigen Staatlichen Schulämtern ergaben keine entsprechenden Hinweise. Frage 2. Sieht sie die Möglichkeit, dass durch eine Vermengung von Glaube und Wissenschaft bei der Behandlung der Evolutionstheorie im Biologieunterricht der vorgeschriebene Lehrplan unterwandert werden könnte? Falls nein, warum nicht? Die Frage ist hypothetisch und setzte voraus, dass Lehrkräfte entgegen der Vorgabe des § 4 Abs. 1 des Hessischen Schulgesetzes (HSchG) ihren Unterricht nicht auf der Grundlage vorgegebener Kerncurricula erteilen. § 4 Abs. 1 HSchG schreibt vor: “Verbindliche Grundlage für den Unterricht sind Pläne (Kerncurricula), die übergangs- und abschlussbezogene Bildungsstandards (…) mit fachspezifischen Inhaltsfeldern (Kern von Lernbereichen) verknüpfen und lernzeitbezogene Kompetenzerwartungen einschließlich der zugrunde liegenden Wissensstände enthalten ". Wie in der Antwort zu Frage 1 ausgeführt, liegen aktuell keine Erkenntnisse vor, dass dem nicht Genüge getan worden wäre. Frage 3. Liegen der Landesregierung Erkenntnisse darüber vor, dass Kreationisten seit 2006 versucht haben , ihre Ansichten an privaten oder öffentlichen Schulen in Hessen erneut zu verbreiten? Entsprechende Erkenntnis liegen nicht vor. Auch gezielte Nachfragen aus Anlass dieser Kleinen Anfrage bei den zuständigen Staatlichen Schulämtern ergaben keine Hinweise. Eingegangen am 8. Oktober 2018 · Bearbeitet am 9. Oktober 2018 · Ausgegeben am 12. Oktober 2018 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/6716 08. 10. 2018 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/6716 Frage 4. Liegen ihr Erkenntnisse über Lehrkräfte vor, die evolutionskritische Ansichten an hessischen Schulen lehren oder seit 2006 gelehrt haben? Auf die Antworten zu den Fragen 1 und 2 wird verwiesen. Frage 5. Ist ihr der Verein "Wort&Wissen" bekannt, der sowohl Seminare für Lehrerinnen und Lehrer als auch Schülerinnen und Schüler und zudem Schulen kostenfrei Unterrichtsmaterialien über die Schöpfungsgeschichte anbietet? Der in der Frage genannte Verein ist bekannt, ohne dass es nähere Berührungspunkte mit dem Kultusministerium gab. Bezüglich des möglichen Einsatzes von Unterrichtsmaterialien ist ergänzend auf Folgendes hinzuweisen : Lehrwerke (auch für das Fach Biologie) bedürfen nach § 4 Abs. 2 lit. b der Verordnung über die Zulassung von Schulbüchern und digitalen Lehrwerken (Zul-VO) vor der Nutzung im Unterricht der Zulassung durch das Hessische Kultusministerium. Um die Zulassung zu erhalten , muss das Lehrwerk nach § 3 Abs. 1 Zul-VO u.a. allgemeinen Verfassungsgrundsätzen und Rechtsvorschriften sowie dem Bildungs- und Erziehungsauftrag nach § 2 des Schulgesetzes entsprechen , es muss mit den Kerncurricula, Bildungsstandards und Lehrplänen vereinbar sein und den pädagogischen Anforderungen genügen. Werden ergänzende Materialien im Unterricht eingesetzt (sog. "sonstige Schriften"), sind diese gemäß § 4 Abs. 3 Ziffer 2 Zul-VO durch die Schulleitungen zuzulassen. Dabei gelten gemäß § 8 Zul-VO die gleichen Prüfkriterien wie bei der Zulassung durch das Hessische Kultusministerium . Der Verein "Wort und Wissen" hat bisher kein Lehrwerk zur Zulassung eingereicht. Anfragen von Schulen, die Werke des Vereins im Unterricht nutzen wollen, gab es bislang keine. Schulen , die Werke des Vereins nutzen würden, oder Beschwerden über die Nutzung von Werken des Vereins im Unterricht sind nicht bekannt. Frage 6. Wie beurteilt sie die Aktivitäten des Vereins? Bei dem Verein Wort und Wissen (Studiengemeinschaft Wort und Wissen e.V.) handelt es sich nach seinem Selbstverständnis um einen Verein christlicher Prägung, der einen auf der Bibel fußenden Schöpfungsglauben vertritt und dies in Publikationen verbreitet. Aufgrund der Verpflichtung des Staates zu religiöser Neutralität unterbleibt eine weitergehende Bewertung. Frage 7. Wie beurteilt sie die Befürchtung, dass durch die Vermengung von Glaubensfragen in wissenschaftlichen Fächern eine Generation von Wissenschaftsskeptikern heranwachsen könnte? Anhaltspunkte für eine solche Vermengung liegen nicht vor. Für den Unterricht gelten verbindliche Vorgaben, die sicherstellen, dass Schule und Unterricht dem Bildungsauftrag aus Art. 56 der Verfassung des Landes Hessen gerecht werden. Im Übrigen wird auf die Beantwortung der nachfolgenden Frage 8 verwiesen. Frage 8. Was unternimmt sie, um zu verhindern, dass an hessischen Schulen Lehrkräfte tätig sind, die den Kreationismus als valide Alternative zur Evolutionstheorie verbreiten? Gemäß den hessischen Kerncurricula ist der Kreationismus nicht als Alternative zur Evolutionstheorie im Unterricht darzustellen, vielmehr wird auf eine kritische Auseinandersetzung abgezielt . Es ist die Pflicht der Lehrkräfte, in den von ihnen unterrichteten Fächern sich in den Lehrinhalten an den zugrunde liegenden Fachwissenschaften und fachwissenschaftlichen Wissensständen zu orientieren und die insoweit gesicherten Erkenntnisse zu vermitteln (vgl. § 4 Abs. 1 HSchG). Dazu gehören in der Biologie die Evolutionslehre und in Religion Fragen der Schöpfung. Zur Vermittlung von fachwissenschaftlichen Erkenntnissen gehört auch die reflektierte Auseinandersetzung mit Kritik, die sich gegenüber wissenschaftlich gewonnenen Einsichten äußert. So kann beispielsweise die Lehrkraft im Kerncurriculum für die gymnasiale Oberstufe (KCGO) im Fach Biologie in der Qualifikationsphase vier das Folgende wählen: "Q4.4 Entwicklung der Evolutionstheorie (2 Wochen) grundlegendes Niveau (Grundkurs und Leistungskurs) Schöpfungsmythos und Lamarcks erste Ideen Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/6716 3 Darwin und Wallace in ihrer Zeit Darwins Reise und erste Erklärung zu Variabilität, Anpassung und Artbildung (z.B. Galapagos -Finken) Darwins Widersacher - gestern und heute (z.B. Kirche, Kreationismus, Creative Design)". Das abprüfbare Wissen der Evolutionsbiologie kann von Schülerinnen und Schülern oder Lehrkräften nicht durch die biblische Schöpfungslehre oder kreationistische Ansätze ersetzt werden. Evolutionsbiologie ist Gegenstand des Unterrichts. Gleichzeitig dürfen Schülerinnen und Schüler nicht gezwungen werden, gegenläufige Glaubensvorstellungen aufzugeben. Auch in den Kerncurricula für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht ist ein reflektierter Umgang mit den Themenfeldern angelegt. So heißt es im KCGO für evangelische Religion: "In Kurshalbjahr E2 wird der spezifische Zugang von Religion zur Wirklichkeit verdeutlicht. Wie unterscheidet sich das Fach Evangelische Religion von anderen (Schul-)Fächern, welches Menschenbild und welche Deutung von Wirklichkeit werden hier vertreten? Diese Fragen stellen sich insbesondere mit Blick auf die Wahrheit der Bibel und auf das Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaften (Auseinandersetzung mit Fundamentalismus und Kreationismus)". Im KCGO für katholische Religion ist festgeschrieben : "E2.2 Schöpfung - ein biblischer Grundbegriff das Schöpfungslied (Genesis 1,1 - 2,4a): Entstehung im babylonischen Exil, bibeltheologisch ausgelegt als mitlaufender Anfang andere biblische Schöpfungstexte: z.B. Schöpfungslied (Psalm 148); Schöpfungserzählung (Gen 2,4b - 25); Schöpfungsbelehrung (Jesus Sirach 16,24 - 17,10); Schöpfungsdisput (Hiob 38 - 39) Glaube und Wissen als Modi der Weltbegegnung Kreationismus und Szientismus: ein Gegensatz, der weder in der Bibel noch in der Wissenschaft eine Grundlage hat evolutives Weltbild und moderne Schöpfungstheologie - Ansätze der Verständigung". Nach § 4 Abs. 1 HSchG und § 4 Abs. 1 der Dienstordnung für Lehrkräfte, Schulleiterinnen und Schulleiter und sozialpädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind Lehrkräfte an hessischen Schulen dazu verpflichtet, Unterricht auf der Grundlage der hessischen Kerncurricula zu erteilen. Die Dienstordnung legt fest, dass Lehrkräfte die geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften und Anordnungen der Schulaufsichtsbehörden, Weisungen der Schulleiterin oder des Schulleiters und die Beschlüsse der Schulkonferenz und der Lehrerkonferenzen beachten müssen. Sie sind verpflichtet, sich über die geltenden Vorschriften, Weisungen und Konferenzbeschlüsse zu informieren. Nach § 86 Abs. 3 HSchG haben Lehrkräfte zudem in Schule und Unterricht entsprechend Art. 56 der Verfassung des Landes Hessen politische, religiöse und weltanschauliche Neutralität zu wahren. Die Schulleiterinnen und Schulleiter sind als Vorgesetzte dafür verantwortlich, dass die Schulen ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag erfüllen und dass die vorstehend genannten dienstrechtlichen Vorgaben eingehalten werden. Die Schulleiterin oder der Schulleiter kann den Unterricht der Lehrkräfte an ihrer/seiner Schule jederzeit besuchen. Ihre Tätigkeit unterliegt der Dienstund Fachaufsicht der Staatlichen Schulämter, die etwaigen Hinweisen auf Verstöße in geeigneter Weise nachgeht. Freie Schulen mit besonderer weltanschaulicher Prägung unterliegen ebenfalls der staatlichen Schulaufsicht. Diesen Schulen steht es frei, über die staatlichen Curricula hinauszugehen; jedoch nicht in dem Sinne, dass diese mit anderen Inhalten gefüllt werden. Auch diese Schulen dürfen nach § 171 Abs. 3 HSchG "in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurücksteh[en]". Dies gilt auch für ihren wissenschaftlichen Anspruch. Wiesbaden, 27. September 2018 Prof. Dr. Ralph Alexander Lorz