Kleine Anfrage der Abg. Gnadl (SPD) vom 29.09.2014 betreffend medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigungen und Antwort des Ministers für Soziales und Integration Vorbemerkung der Fragesteller: Studien zufolge wird nur ein Bruchteil aller Sexualdelikte aus verschiedenen Gründen auch polizeilich zur Anzeige gebracht. Vergewaltigungsopfer, die sich (noch) nicht zu einer Anzeige entschließen können, bekommen oft nur unzureichende medizinische und psychosoziale Betreuung. Eine Sicherung von Beweisspuren , die für eine spätere Anzeige notwendig wäre, findet oft nicht statt, wenn die Polizei nicht eingeschaltet wird - auch weil Opfer unter diesen Bedingungen teils aus Unwissenheit von Krankenhäusern oder Arztpraxen abgewiesen werden. An dieser "Versorgungslücke" schließen Initiativen wie die "Medizinische Akutversorgung nach Vergewaltigungen" in Frankfurt an, die unter anderem Vergewaltigungsopfern eine ärztliche Untersuchung mit vertraulicher Spurensicherung anbieten. Vorbemerkung des Ministers für Soziales und Integration: Die Landesregierung legt in der laufenden Legislaturperiode einen besonderen Schwerpunkt darauf , die bereits bestehenden Angebote zum Schutz von Frauen vor Gewalt und zur Versorgung von Opfern landesweit zu stärken und die Prävention auszubauen. Dies kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass dieses Vorhaben in das Sozialbudget aufgenommen wurde. Damit wird die Finanzierungssicherheit für Frauenhäuser gewährleistet und der Ausbau von Beratungs- und Interventionsstellen sowie von Schutzambulanzen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ermöglicht. Dies leistet zugleich einen zentralen Beitrag zur weiteren Umsetzung des Aktionsplans des Landes Hessen zur Bekämpfung der Gewalt im häuslichen Bereich wie auch des Hessischen Aktionsplans zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen (UN) über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die auch den bedarfsgerechten Schutz vor und nach sexualisierter Gewalt im Blickfeld haben. Die Landesregierung ist sich bewusst, dass dem Gesundheitswesen eine besondere Bedeutung bei Gewaltbelastung zukommt. Mit der Verbesserung der Kenntnisse und der Wissensvermittlung im Gesundheitssektor gilt es, für eine fachgerechte und sensible Gesundheitsversorgung insbesondere von Patientinnen, die durch geschlechtsspezifische Gewalt belastet sind, Sorge zu tragen. Das Hessische Ministerium für Soziales und Integration unterstützt bereits seit vielen Jahren Maßnahmen, die zur Verbesserung der medizinischen Versorgung von durch Gewalt belasteten Frauen, Mädchen und Jungen wie auch älter werdenden Menschen führen. Mit der wissenschaftlichen Qualität hessischer Vorhaben kommt Hessen einer Selbstverpflichtung als Gründungsmitglied der Violence Prevention Alliance, einer 2004 weltweit angelegten Vernetzung der Weltgesundheitsorganisation, nach. Diese Vorbemerkungen vorangestellt, beantworte ich die Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1. Ist der Landesregierung die "Medizinische Akutversorgung nach Vergewaltigungen" in Frankfurt bekannt? Ja. Die von der Beratungsstelle Frauennotruf in Frankfurt am Main ins Leben gerufene Vernetzungsinitiative "Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung" baut auf Erkenntnisse aus mit Landesmitteln geförderten Projektvorhaben auf, die entsprechend der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation aus 2004 auf eine standardisierte, multiprofessionell ausgerichtete medizinische Versorgung nach Vergewaltigung hinzielen. Die Initiative hat das Hessische Ministerium für Soziales und Integration von Beginn an fachlich begleitet. Eine erste Evaluation der flankierenden Öffentlichkeitskampagne hat das Hessische Ministerium für Soziales und Integration auch finanziell unterstützt. Eingegangen am 12. November 2014 · Ausgegeben am 18. November 2014 Herstellung: Kanzlei des Hessischen Landtags · Postfach 3240 · 65022 Wiesbaden · www.Hessischer-Landtag.de Drucksache 19/937 12. 11. 2014 19. Wahlperiode HESSISCHER LANDTAG 2 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/937 In einem ersten Schritt hat die Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt eine Vernetzung mit der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe und dem Institut für Forensische Medizin im Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität ab 2007 aufgebaut. 2013 konnte auf maßgebliche Initiative der Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt eine formell verabredete Vernetzung von sieben der acht Frankfurter Frauenkliniken mit der Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt sowie mit dem Institut für Forensische Medizin an der Goethe-Universität entstehen, mit welcher die medizinische Versorgung, eine gerichtsfeste Befundung, die fachgerechte Asservierung von Beweismitteln sowie niedrigschwellige spezialisierte Beratung nach sexualisiertem Übergriff hergestellt und als Regelangebot dieser Kliniken etabliert werden, ohne dass Ermittlungsbehörden zunächst eingeschaltet werden müssten. Die gerichtsfeste Befundung und das Sichern von Beweismitteln erfolgt mit der 2007 vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration herausgegebenen Dokumentationshilfe "Befunderhebung, Spurensicherung, Versorgung bei Verdacht auf sexualisierte Gewalt". Diese Anleitung hat die Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt im Auftrag des Ministeriums entsprechend den strengen wissenschaftlichen Standards entwickelt, die einer fachlichen Empfehlung der medizinischen Fachgesellschaften zugrunde liegen . Diese Veröffentlichung zählt zu den hessischen Anleitungen, die von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie der Bundesärztekammer und Kassenärztlichen Bundesvereinigung empfohlen werden. Frage 2. Welchen Kenntnisstand hat die Landesregierung über die Verbesserungen der Akutversorgung von Vergewaltigungsopfern in Frankfurt durch die genannte Initiative? Die professionelle Medienkampagne, die der Bekanntmachung des Angebots dient und fortwährend weiterentwickelt wird, erweist sich nach einer Evaluation der einleitenden Plakataktion im Jahr 2013 als positiv und wirksam (siehe http://www.soforthilfe-nach-vergewaltigung.de/, dort unter "zu den Plakat-Motiven"). Ein zentrales Ergebnis war, dass die Befragten die Idee der Plakataktion für sehr gut halten. Das gilt für die Männer ebenso wie für die Frauen, nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit. Die Fallzugänge sind nach jedem neuen Einsatz in der Öffentlichkeitsarbeit gestiegen, beispielsweise nach der Einführung eines Videos, das in der zweiten Jahreshälfte 2013 an den Wochenenden im öffentlichen Nahverkehr am späteren Abend abgespielt wurde. Das Interesse an der Übernahme dieses Ansatzes ist augenscheinlich. Dies zeigt sich sowohl an der Teilnahmezahl von über ein hundert Personen aus Hessen und weiteren Bundesländern an einer Fachtagung zur Struktur der Initiative im April 2014 als auch an den vielfältigen Konsultationen der Beratungsstelle Frauennotruf für weitere Kommunen innerhalb und außerhalb Hessens zu methodischen Fragen beim Aufbau einer klinikübergreifenden Vernetzung. Mit der Teilnahme von über vierzig Ärztinnen und Ärzten an einer hessenweit ausgeschriebenen ärztlichen Fortbildung im Mai 2014 ist eine besonders hohe Zahl an medizinischem Fachpersonal erreicht worden. Auch hier zeigt sich, dass das Interesse an entsprechender Kompetenzerweiterung steigt. Frage 3. Sieht die Landesregierung landesweiten Handlungsbedarf, die Akutversorgung von Vergewalti- gungsopfern zu verbessern? Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht? Vor dem Hintergrund der wissenschaftlich - auch international - belegten Feststellung, dass von einer sehr geringen Anzeigebereitschaft der Opfer sexualisierter Gewalt auszugehen ist, und dass es insbesondere bei Verdacht auf sexuelle Übergriffe nach wie vor zu Schwierigkeiten in der Akutversorgung in Deutschland kommt, besteht eine große Herausforderung darin, einerseits Handlungssicherheit in der Gesundheitsversorgung herzustellen und andererseits die Opfer durch leicht zugängliche medizinische Versorgung sowie Beratungsstellen zu erreichen. Die Notwendigkeit, durch Wissenstransfer und den Ausbau bewährter Vernetzungsformen die Versorgungslage zu verbessern, ist gegeben. Vielfältige Projekte der vergangenen Jahre bilden eine Grundlage zur Umsetzung dieser Ziele. Unter Federführung des Sozialressorts wurden seit 2003 mittlerweile vier Anleitungen für unterschiedliche medizinische Fachrichtungen zur Befunderhebung, Spurensicherung und interdisziplinären Versorgung nach strengen wissenschaftlichen Standards entwickelt, validiert und veröffentlicht; sie werden fortwährend auf ihre Praxistauglichkeit überprüft und weiterentwickelt . Hessische Dokumentationsanleitungen für die Ärzteschaft haben als Grundlagen für die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) gedient, wurden in das Qualitätsmanual der Bundesärztekammer und Kassenärztlichen Bundesvereinigung 2012 aufgenommen und werden vielfach in anderen Bundesländern eingesetzt. Im Jahre 2009 wurde das Förderprodukt 41 (Gesundheitliche Versorgung von Gewaltopfern) in den Landeshaushalt neu aufgenommen. Hierdurch konnte u.a. das wissenschaftlich begleitete Modellvorhaben im öffentlichen Gesundheitswesen, die Schutzambulanz Fulda, mit einer Lauf- Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/937 3 zeit bis Ende 2015 gefördert werden, das zum Ziel hat, die gesundheitliche Versorgung von Gewaltopfern zu optimieren, die Kompetenz der gerichtsverwertbaren Befundung und Spurensicherung (einschließlich Asservierung) unabhängig von Ermittlungsverfahren bereit zu halten und eine Versorgungslücke im lokalen Netzwerk zu schließen. Übergeordnetes Ziel ist es, die Übertragung des Ansatzes, das öffentliche Gesundheitswesen in die Gewaltprävention einzubinden , in weiteren Versorgungsregionen des Landes zu erleichtern. Ein wesentlicher Schwerpunkt ist deshalb auch hier der Wissenstransfer. Beide hessische Institute für Rechtsmedizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Goethe-Universität Frankfurt bieten im persönlichen Beratungsgespräch und in Fortbildungen Auskunft über das Erkennen von Gewalteinwirkungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen an. Das seit 2014 mit Landesmitteln eingerichtete Onlineportal "Forensisches Konsil Gießen " eröffnet erstmals unter Wahrung strengster Datenschutzvorkehrungen die Möglichkeit, Fragen an die Ärztinnen und Ärzte des Instituts für Rechtsmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen webbasiert zu stellen und ggf. ein rechtsmedizinisches Gutachten nach Übermittlung von Befunden anfertigen zu lassen. Dieses Angebot steht Gewaltbetroffenen sowie allen Personen zur Verfügung, die sich mit den Folgen von Misshandlungen, Vernachlässigung oder auch sexuellem Missbrauch befassen. Behandelnde Ärztinnen und Ärzte erhalten Hilfestellung bei der Befundung und gerichtsfesten Dokumentation sowie nach Bedarf die Möglichkeit zur Asservierung von Beweismaterial, selbstverständlich unabhängig von einem Ermittlungsverfahren. Die Hochschule Fulda hat in Kooperation mit dem Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf sowie mit der Förderung des Europäischen Sozialfonds und des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration den Webauftritt "Befund-Gewalt" entwickelt und im Jahr 2013 online gestellt (www.befund-gewalt.de). Hierbei handelt es sich um eine leicht zugängliche Online-Orientierung für das Erkennen und die gerichtsverwertbare Dokumentation von körperlichen Folgen von Gewalt, die sich an Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachkräfte und andere Gesundheitsfachberufe richtet. Auch hier werden die wissenschaftlich validierten Dokumentationsanleitungen Hessens bereitgestellt. Gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hat das Hessische Ministerium für Soziales und Integration im Jahr 2013 das "Ärztliche Praxishandbuch GEWALT" herausgegeben. Dieses Kompendium richtet sich an verschiedene medizinische Fachrichtungen und stellt erstmals in einem Band die Empfehlungen und Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland zusammen. Es enthält auch die hessischen und weitere evidenzbasierte Anleitungen, die sich für die entsprechend sensible Anamnese, medizinisch wie juristisch korrekte Befundung und Dokumentation von Gewaltfolgen im deutschsprachigen Raum bewährt haben. Frage 4. Welche Möglichkeiten sieht die Landesregierung, die Akutversorgung von Vergewaltigungsop- fern flächendeckend in Hessen zu verbessern? Frage 5. Wie bewertet die Landesregierung die Möglichkeit der Übertragbarkeit bzw. der Ausweitung der Initiative "Medizinische Akutversorgung nach Vergewaltigungen" aus Frankfurt auf das gesamte Bundesland? Frage 6. Durch welche Maßnahmen könnte die Landesregierung die Ausweitung der Frankfurter Initiative auf ganz Hessen bzw. die Übertragung des Modells auf die übrigen Landesteile unterstützen? Die Fragen 4, 5 und 6 werden wie folgt gemeinsam beantwortet: Die Landesregierung sieht in der Versorgung von gewaltbetroffenen Frauen und der Vorbeugung schwerwiegender Folgen bei geschlechtsspezifischer Gewalt ein prioritäres Anliegen. Daher sollen die bereits bestehenden Angebote zum Schutz von Frauen vor Gewalt und zur Versorgung von Gewaltopfern weiter gestärkt und ausgebaut werden. Mit den im Sozialbudget vorgesehenen Mitteln wird dies gewährleistet. Die Frankfurter Initiative kann hessenweit als gutes Beispiel dienen. Mit kontinuierlichen Fortbildungsaktivitäten und Beratungsleistungen der beteiligten Fachkräfte können methodische und organisatorische Fragen effektiv beantwortet werden. Dies wird zur Übertragbarkeit und Ausweitung der Initiative hessenweit beitragen. Die Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt hat die Übertragbarkeit auf andere Kommunen mitbedacht . Die Verbindung von Vernetzung, Qualifizierung und Medienarbeit sowie die entwickelten Materialien sind so konzipiert, dass sie auf andere Kommunen übertragen werden können . 4 Hessischer Landtag · 19. Wahlperiode · Drucksache 19/937 Die Landesregierung prüft derzeit für das Jahr 2015 die Förderung weiterer Aktivitäten, die die Ausweitung des Projekts unterstützen sollen: - Unterstützung interessierter Kommunen: An der Implementierung des Modells interessierte Kommunen sollen Beratung und fachliche Begleitung erhalten, um das Modell vor Ort umzusetzen . - Zentrale Fortbildungsveranstaltung für Ärztinnen und Ärzte aus Krankenhäusern und niedergelassenen Praxen und für medizinisches Fachpersonal (voraussichtlich April 2015). Die bereits seit mehreren Jahren durch das Land geförderten Fortbildungen für Ärztinnen und Ärzte, die wissenschaftlich fundierten hessischen Anleitungen zur Befunderhebung, Spurensicherung und interdisziplinären Versorgung, die online und in Buchform verfügbar sind, sowie die landesweit erreichbare Unterstützung durch die Institute für Rechtsmedizin, schaffen eine solide Grundlage für die Entwicklung von vergleichbaren Angeboten in anderen Kommunen. Wiesbaden, 3. November 2014 Stefan Grüttner