Der Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur hat namens der Landesregierung die Kleine Anfrage mit Schreiben vom 24. Februar 2014 beantwortet. LANDTAG MECKLENBURG-VORPOMMERN Drucksache 6/2652 6. Wahlperiode 25.02.2014 KLEINE ANFRAGE der Abgeordneten Ulrike Berger, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Effekte des gemeinsamen Lernens seit Einführung der Regionalen Schule (2002) und der schulartunabhängigen Orientierungsstufe (2006) und ANTWORT der Landesregierung Vorbemerkung Vor der Einführung der Regionalen Schule und vor Einführung der schulartunabhängigen Orientierungsstufe lagen aus der Bildungswissenschaft bereits aussagekräftige Befunde über die Auswirkungen entsprechender Strukturreformen vor. Der Landesgesetzgeber hat vor diesem Hintergrund eine komplette Systemumstellung vorgesehen. Bei einer solchen Systemumstellung sind aus forschungsmethodischen Gründen - anders als bei einer modellhaften Umstellung eines Teilsystems wie zum Beispiel im Rahmen des Inklusionsversuches auf Rügen - keine wissenschaftlichen Evaluationen dahingehend möglich, zu untersuchen, welche isolierten Effekte durch einzelne Maßnahmen eintreten, weil keine Kontrollgruppe vorhanden sein kann. Nichtsdestotrotz erkennt die Landesregierung die Bedeutung einer kontinuierlichen pädagogisch-qualitativen Weiterentwicklung der Orientierungsstufe und der Regionalen Schule und hat mit zahlreichen Maßnahmen die Umstellung unterstützt und die Weiterentwicklung begleitet. Drucksache 6/2652 Landtag Mecklenburg-Vorpommern - 6. Wahlperiode 2 Mit dem 5. Gesetz zur Änderung des damaligen Schulgesetzes für das Land Mecklenburg-Vorpommern wurde im Jahr 2002 das 1991 eingeführte dreigliedrige Schulsystem aufgegeben und statt der bisherigen Schularten Haupt- und Realschule die Regionale Schule eingeführt. Ab dem Schuljahr 2002/2003 wurden in den 5. Klassen keine nach Hauptschülern und Realschülern getrennten Klassen mehr gebildet. Im Jahr 2006 wurde außerdem die schulartunabhängige Orientierungsstufe eingeführt . 1. Wurde vonseiten der Landesregierung eine Evaluation der Zusammenlegung von Haupt- und Realschule durchgeführt bzw. in Auftrag gegeben, insbesondere im Hinblick auf die Effekte des gemeinsamen Lernens und das Erreichen der im Gesetzentwurf aus dem Jahr 2001 (Drucksache 03/2458) formulierten Zielstellungen und Erwartungen? a) Wenn ja, wann und durch wen wurde diese Evaluation durch- geführt? b) Welche Ergebnisse hat diese Evaluation erbracht? c) Wenn nicht, aus welchem Grund wurde sie unterlassen? Die Fragen 1, a), b) und c) werden zusammenhängend beantwortet. Aus den in der Vorbemerkung genannten Gründen hat die Landesregierung keine wissenschaftliche Evaluation der Umstellung des Schulsystems vorgesehen, die isolierte Effekte untersucht. Im Übrigen legt die Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie nahe, dass Strukturreformen - verglichen etwa mit dem Einfluss der Persönlichkeit der Lehrkraft und der konkreten Gestaltung des Unterrichtes - einen vergleichsweise geringen Einfluss auf das Gelingen des Bildungsprozesses haben. Aus den PISA-Studien ist außerdem seit mehr als zehn Jahren ersichtlich, dass das längere gemeinsame Lernen zwar keine notwendige Bedingung für gelingendes Lernen ist, aber auch kein Hinderungsgrund. Neben möglichen positiven Leistungseffekten durch anregende Lernmilieus sind daher gerade gewollte soziale Effekte eine wichtige Grundlage für Strukturreformen im Sinne des längeren gemeinsamen Lernens. Landtag Mecklenburg-Vorpommern - 6. Wahlperiode Drucksache 6/2652 3 2. Sofern keine Evaluation vorliegt, wie schätzt die Landesregierung die Ergebnisse der Zusammenlegung von Haupt- und Realschule ein? a) Konnten folgende im Gesetzentwurf formulierten Zielstellungen aus Sicht der Landesregierung erreicht werden: Erhöhung der Bildungschancen für die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler; Ausschöpfung von Begabungsreserven; bessere Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf die Anforderungen der Berufsbildung; bessere Motivation und Förderung Leistungsschwächerer durch das Lernverhalten Leistungsstärkerer; höhere Integrationswirkung sowie geringere Verhaltensauffälligkeiten und daraus resultierende Leistungsschwächen? b) Wurde die Zielstellung erreicht, den Unterricht lebens- und praxisnäher zu gestalten, indem - wie angekündigt - neue Unterrichtsformen , vor allem der handlungsorientierte und fächerverbindende Projektunterricht, ausgebaut wurden? Zu 2 und a) Die Fragen 2 und 2 a) werden zusammenhängend beantwortet. Aufgrund der bereits erwähnten forschungsmethodischen Restriktion ist eine wissenschaftlich gesicherte Messung der Auswirkung der Schulstrukturreformen auf einzelne Gelingensfaktoren schulischer Prozesse nicht möglich. Der Erfolg der systemweiten Umstellungen kann daher am ehesten anhand allgemeiner Erfolgsdaten im Schulsystem vor dem Hintergrund zentraler Prüfungen beurteilt werden. Die Landesregierung verweist insbesondere auf die stetige Zunahme der Quote der Hochschulzugangsberechtigten (2002: 22,0 Prozent, 2013: 37,6 Prozent). Dementsprechend weniger Schülerinnen und Schüler legen die Mittlere Reife ab (2002: 47,7 Prozent, 2013: 39,0 Prozent). Grundsätzlich sprechen diese Zahlen auf hoher Aggregationsebene dafür, dass es gelungen ist, Schülerinnen und Schüler besser zu fördern, „Begabungsreserven“ besser auszuschöpfen und die Durchlässigkeit des Schulsystems zu erhöhen. Die hervorragende Qualität naturwissenschaftlicher Bildung in Mecklenburg-Vorpommern ist außerdem erst kürzlich durch die im Oktober 2013 veröffentlichte Ländervergleichsstudie 2012 des Institutes zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der HumboldtUniversität Berlin bestätigt worden, der zufolge sich Mecklenburg-Vorpommern in Mathematik und in den Naturwissenschaften in der Spitzengruppe der Länder befindet. Die Quote der Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit Berufsreife erreichte im Jahr 2002 einen Wert von 19,2 Prozent und stagniert seit mehreren Jahren bei etwa zehn bis elf Prozent. Drucksache 6/2652 Landtag Mecklenburg-Vorpommern - 6. Wahlperiode 4 Die Quote der Schülerinnen und Schüler ohne Berufsreife liegt nach einem zwischenzeitlichen Höchstwert von 15,8 Prozent (2008) derzeit bei knapp über zehn Prozent. Der Höchststand im Jahr 2008 ist allerdings weder auf die Einführung der Orientierungsstufe zurückzuführen (die betroffenen Schülerinnen und Schüler hatten noch das alte System durchlaufen) noch auf die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule, sondern in relevantem Umfang vielmehr auf zu wenige Angebote zum Erwerb der Berufsreife in den Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Die Landesregierung hat in diesem Bereich daher bereits Änderungen eingeleitet. Zu b) Die Gestaltung eines lebens- und praxisorientierten Unterrichts spielt insbesondere im nichtgymnasialen Bildungsgang eine wesentliche Rolle. Bei der Umsetzung dieses Unterrichtskonzeptes werden die Lehrkräfte durch die Beraterinnen und Berater des Unterstützungssystems begleitet. An zwölf Schulen des Landes wird eine spezielle Form der Umsetzung eines praxisorientierten Unterrichts praktiziert. Diese Schulen führen einmal wöchentlich den Projektlerntag „Handeln, Entdecken und Erkunden (HEE)“ durch. Dieser Projektlerntag hat den Anspruch, allen Schülerinnen und Schülern der jeweiligen Schule in der Jahrgangsstufe 7 an einem Tag in der Woche ein lebens- und praxisnahes Lernangebot zu unterbreiten. 3. Wurde vonseiten der Landesregierung eine Evaluation der schulartunabhängigen Orientierungsstufe durchgeführt bzw. in Auftrag gegeben, insbesondere im Hinblick auf die Effekte des längeren gemeinsamen Lernens? a) Wenn ja, wann und durch wen wurde diese Evaluation durchge- führt? b) Welche Ergebnisse hat diese Evaluation erbracht? c) Wenn nicht, aus welchem Grund wurde sie unterlassen? 4. Sofern keine Evaluation vorliegt, wie schätzt die Landesregierung die Ergebnisse der Einführung der schulartunabhängigen Orientierungsstufe ein? Die Fragen 3 und 4 werden zusammenhängend beantwortet. Es wird auf die Antworten zu den Fragen 1 und 2 verwiesen. Landtag Mecklenburg-Vorpommern - 6. Wahlperiode Drucksache 6/2652 5 5. Welche Erkenntnisse gibt es darüber, wie sich der gemeinsame Unter- richt in der Regionalen Schule und in der schulartunabhängigen Orientierungsstufe im Hinblick auf Leistungsvermögen, prosoziales Verhalten und subjektive Einschätzungen (Lernfreude, Selbstkonzept) von Schülerinnen und Schülern verschiedener Leistungsspektren ausgewirkt hat? Es wird auf die Antwort zu Frage 2 verwiesen. 6. Welche Erfahrungen und Erkenntnisse haben sich bei der Anwendung der im Gesetzentwurf aus dem Jahr 2001 und der in der Verwaltungsvorschrift zur schulartunabhängigen Orientierungsstufe geforderten Binnendifferenzierung des Unterrichts ergeben? a) Gab es zum binnendifferenzierten Unterricht entsprechende Fort- bildungen und wenn ja: für wie viele Lehrkräfte (ersatzweise, wie viele Plätze für Teilnehmerinnen und Teilnehmer)? b) Welche Erkenntnisse gibt es darüber, ob der binnendifferenzierte Unterricht an der Regionalen Schule und in der Orientierungsstufe in der Regel angewandt wird? c) Welche methodischen und didaktischen Unterstützungen gibt es hierfür vonseiten der Landesregierung (z. B. Lehrmaterial)? Die Fragen 6, a), b) und c) werden zusammenhängend beantwortet. Das Institut für Qualitätsentwicklung Mecklenburg-Vorpommern bietet Fort- und Weiterbildungsangebote zu verschiedenen unterrichtsrelevanten Themen an. Alle Angebote sind so ausgerichtet, dass ein differenziertes Arbeiten an der Umsetzung im Unterricht möglich ist. Die Fortbildungsangebote zum binnendifferenzierten Unterricht lassen sich aber insbesondere über den seit 2010 als Fokussierung ausgewiesenen Fortbildungsschwerpunkt „Kompetenzorientierter Unterricht“ ermitteln. Im Zeitraum 2010 bis 2013 sind insgesamt 17.861 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der oben aufgeführten Schwerpunktsetzung zugeordnet. Zusätzlich zu den Fortbildungsangeboten ist durch das seit 2008 vorhandene Beratungs- und Unterstützungssystem für alle allgemein bildenden Schulen das Thema Binnendifferenzierung ein wesentlicher Bestandteil von Unterrichtsentwicklung. Im Kontext von „Kompetenzorientiertem Unterricht“ sowie „Individueller Förderung/Inklusion“ im Zusammenhang mit Unterrichtsentwicklung sind dazu in den Schulen vielfältige Anstrengungen unternommen worden, den Schülerinnen und Schülern Lernangebote zu unterbreiten, die für alle eine den eigenen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen entsprechende Lernentwicklung möglich macht. Drucksache 6/2652 Landtag Mecklenburg-Vorpommern - 6. Wahlperiode 6 Das Beratungs- und Unterstützungssystem liefert Unterstützung bei der Erstellung von binnendifferenzierten Angeboten, Aufgaben und Lernarrangements. Über die Fortbildungsangebote des Instituts für Qualitätsentwicklung Mecklenburg-Vorpommern werden Materialien für individuelle Förderung bereitgestellt. Diese Materialien sind didaktisch aufbereitet. Das Institut für Qualitätsentwicklung Mecklenburg-Vorpommern unterstützt dabei die Entwicklung von Materialien. Zuletzt wurde an den Regionalen Schulen und den Gesamtschulen das Projekt „Bildung macht stark“ etabliert. Die Beschaffung weiterer Materialien obliegt dem jeweiligen Schulträger. 7. Wie haben sich die Zahl und der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Schule ohne Schulabschluss, mit dem Abschluss der Berufsreife und der Mittleren Reife verlassen haben, seit Einführung der Regionalen Schule gegenüber der früheren Haupt- und Realschule jeweils entwickelt? Welchen Einfluss hatte die Einführung der Regionalen Schule aus Sicht der Landesregierung auf diese Entwicklung? Es wird auf die Antwort zu Frage 2 verwiesen. 8. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung über die Auswirkungen der bis zu zweimaligen Schulwechsel (nach Klasse 4 und nach Klasse 6) innerhalb von zwei Jahren, die durch die schulartunabhängige Orientierungsstufe nötig werden können? a) Wie wirken sich die Wechsel zwischen verschiedenen Schulen mit unterschiedlichen Schulprogrammen auf das Lernverhalten und die Lernleistungen aus? b) Welche Auswirkungen hat der nur zweijährige Verbleib eines Teils der Schülerinnen und Schüler der Orientierungsstufe an der Schule auf das Verhältnis der Schülerinnen und Schüler der Orientierungsstufe zu ihrer Schule und ihren Lehrkräften sowie das Verhältnis der Schülerinnen und Schüler der Orientierungsstufe zu den älteren Schülerinnen und Schülern der Schule? c) Gibt es Erkenntnisse darüber, wie sich die Einführung der Regionalen Schule und der schulartunabhängigen Orientierungsstufe auf das Schulklima, insbesondere auf die Häufigkeit ernster Konfliktsituationen in den Schulen ausgewirkt hat? Die Fragen 8, a), b) und c) werden zusammenhängend beantwortet. Der Landesregierung liegen keine Hinweise vor, dass der Schulwechsel systembedingt zu Problemen führt. Den Lehrkräften gelingt es nach Erkenntnissen der Landesregierung sehr gut, die Schulwechsel zu begleiten. Landtag Mecklenburg-Vorpommern - 6. Wahlperiode Drucksache 6/2652 7 9. Hat sich die Durchlässigkeit des Schulsystems durch die Einführung der Regionalen Schule und der schulartunabhängigen Orientierungsstufe aus Sicht der Landesregierung erhöht? Es wird auf die Antwort zu Frage 2 verwiesen. 10. Hat sich die Akzeptanz des Abschlusses der Berufsreife bei den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern gegenüber dem früheren Hauptschulabschluss wie erhofft erhöht? Der Landesregierung liegen hierzu keine wissenschaftlich validen Daten vor. Effekte des gemeinsamen Lernens seit Einführung der Regionalen Schule (2002) und der schulartunabhängigen Orientierungsstufe (2006)