Der Minister für Inneres und Sport hat namens der Landesregierung die Kleine Anfrage mit Schreiben vom 6. August 2015 beantwortet. LANDTAG MECKLENBURG-VORPOMMERN Drucksache 6/4181 6. Wahlperiode 07.08.2015 KLEINE ANFRAGE der Abgeordneten Silke Gajek, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie in Mecklenburg-Vorpommern und ANTWORT der Landesregierung Die Richtlinie 2013/33/EU verpflichtet die Mitgliedstaaten, bei der Aufnahme besonders schutzbedürftiger Personen deren spezielle Situation zu berücksichtigen. Die Ziele der EU-Aufnahmerichtlinie sind bis zum 20. Juli 2015 in nationales Recht umzusetzen. Dafür muss der Bund ein entsprechendes Umsetzungsgesetz vorlegen. Das ist aber noch nicht geschehen. 1. Kommt im Falle einer nicht rechtzeitigen Umsetzung der Richtlinie 2013/33/EU durch den Bund aus Sicht der Landesregierung eine unmittelbare Geltung derselben in Betracht? a) Wenn ja, inwiefern? b) Wenn nicht, warum nicht? Zu 1, a) und b) Richtlinien zielen grundsätzlich nicht darauf ab, in den mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen unmittelbar geltendes Recht zu schaffen. Vielmehr sind die Richtlinienadressaten, die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, gehalten, die Regelungen der Richtlinie in innerstaatliches Recht umzusetzen, um eine Rechtsangleichung unter den Mitgliedsstaaten zu gewährleisten. Die Ziele der EU-Aufnahmerichtlinie waren bis zum 20. Juli 2015 in nationales Recht umzusetzen. Voraussetzung dafür ist zunächst, dass der Bund ein entsprechendes Umsetzungsgesetz vorlegt, was derzeit noch nicht der Fall ist. Drucksache 6/4181 Landtag Mecklenburg-Vorpommern - 6. Wahlperiode 2 Die Rechtsprechung des EuGH setzt für eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien voraus, dass trotz Fristablaufs eine notwendige Umsetzung nicht oder mangelhaft erfolgte und die Richtlinie Normcharakter aufweist. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH liegt dies immer dann vor, wenn die Bestimmungen der Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind. Inhaltlich unbedingt ist eine Bestimmung, wenn sie vorbehaltlos und ohne Bedingung anwendbar ist und keiner weiteren Maßnahme der Organe der Mitgliedsstaaten oder der Union bedarf. Hinreichend genau ist die Bestimmung, wenn sie unzweideutig eine Verpflichtung begründet, also rechtlich in sich abgeschlossen ist und als solche von jedem Gericht angewandt werden kann. Ob Richtlinien diese Anforderungen erfüllen, entscheidet im Streitfall abschließend der EuGH. 2. Welche Personengruppen bedürfen nach Ansicht der Landesregierung neben den in Artikel 21 der Richtlinie beispielhaft genannten Personengruppen (Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben) eines besonderen Schutzes? Nach Ansicht der Landesregierung umfasst Artikel 21 der Richtlinie 2013/33/EU bereits einen umfassenden Katalog an Personengruppen, die eines besonderen Schutzes bedürfen. Diese nicht abschließende Aufzählung ist sachgerecht, um weitere besonders schutzbedürftige Personengruppen jederzeit berücksichtigen zu können. Weitergehende Festlegungen könnten beispielsweise schon in dem vom Bund zu erstellenden Umsetzungsgesetz definiert werden. Jedoch wird jeder Einzelfall betrachtet, sodass auch Personengruppen, die nicht explizit von der EU-Aufnahmerichtlinie erfasst werden, bei Bedarf einen besonderen Schutz, beispielsweise durch eine Einzelunterbringung oder spezielle medizinische Behandlungen, erhalten. 3. Durch welche Maßnahmen wird in Mecklenburg-Vorpommern bereits sichergestellt, dass die spezielle Situation besonders schutzbedürftiger Personengruppen Berücksichtigung findet (bitte nach den einzelnen Gruppen besonders schutzbedürftiger Personen aufschlüsseln)? Im Rahmen der Erstuntersuchung werden die Bewohnerinnen und Bewohner der Landesaufnahmeeinrichtung in Nostorf-Horst auf ihren allgemeinen körperlichen und psychischen Zustand sowie auf übertragbare Krankheiten nach § 62 Absatz 1 Asylverfahrensgesetz in Verbindung mit § 36 Absatz 4 Infektionsschutzgesetz untersucht. Landtag Mecklenburg-Vorpommern - 6. Wahlperiode Drucksache 6/4181 3 Dazu gehören insbesondere - Blutdruck- und Pulsmessung, - Röntgenuntersuchung der Lunge (ab 16 Jahren, jedoch nicht bei Schwangeren), - Blutuntersuchung auf freiwilliger Grundlage inklusive HIV-Testung auf Wunsch, - Anamnese und - körperliche Untersuchung. Die vorgeschriebenen Röntgenuntersuchungen werden darüber hinaus extern im Krankenhaus Boizenburg vorgenommen. Im Rahmen der Erstuntersuchung haben die Asylbewerberinnen und Asylbewerber auch Gelegenheit, Beschwerden vorzutragen. Bei Notwendigkeit werden die Asylbewerberinnen und Asylbewerber um Wiedervorstellung zu einem späteren Termin in den medizinischen Bereich der Aufnahmeeinrichtung eingeladen oder an einen Facharzt überwiesen. Zusätzlich können die Asylbewerberinnen und Asylbewerber während der Sprechzeiten bei Bedarf jederzeit beim medizinischen Dienst vorsprechen. Darüber hinaus steht in Mecklenburg-Vorpommern für die Gruppe der Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, das Psychosoziale Zentrum für Migranten in Vorpommern zur Verfügung. Die durch Landes- und EU-Mittel finanzierte Einrichtung stellt der oben genannten Personengruppe psychologische und soziale Beratung durch qualifiziertes Personal zur Verfügung. Aufgrund der Zunahme schutzbedürftiger Personen wird derzeit der Ausbau des psychosozialen Beratungsangebotes in Mecklenburg-Vorpommern geprüft. Die spezielle Situation der Betroffenen von Menschenhandel kann durch eine Beratung/Begleitung durch die Fachberatungsstelle für Betroffene von Menschenhandel und Zwangsverheiratung berücksichtigt werden. Diese Beratungsstelle hält auch eine Schutzwohnung vor, sodass Betroffene gesondert untergebracht werden können. Auch für Betroffene von Vergewaltigung oder sexueller Gewalt stehen die Beraterinnen der fünf Beratungsstellen für Betroffene von sexueller Gewalt im Land MecklenburgVorpommern zur Verfügung. Darüber hinaus könnten Betroffene dieser Personengruppe in den neun Frauenhäusern im Land untergebracht werden. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge stellen eine besonders schutzbedürftige Flüchtlingsgruppe dar. Diese Kinder und Jugendlichen, die aus ihren Herkunftsländern allein nach Deutschland kommen und ihre Familien verlassen, gehören zu den schutzbedürftigsten Personengruppen überhaupt. Es sind junge Menschen, die häufig Schreckliches erlebt haben, zum großen Teil physisch und psychisch stark belastet oder möglicherweise hochtraumatisiert sind. Im Achten Buch Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - ist klar formuliert, unter welchen Voraussetzungen ausländische Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus sämtliche Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch nehmen beziehungsweise erhalten können. Drucksache 6/4181 Landtag Mecklenburg-Vorpommern - 6. Wahlperiode 4 Das Jugendamt ist nach § 42 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch verpflichtet, unbegleitete ausländische Minderjährige in Obhut zu nehmen. Eine dem Kindeswohl entsprechende Unterbringung, Versorgung und Betreuung unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher liegt damit nach geltendem Recht in der Primärzuständigkeit des örtlichen Jugendamtes. Durch das Schulgesetz und die „Bestimmungen zur Eingliederung und zum Schulbesuch von Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache in Schulen Mecklenburg-Vorpommerns (Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur vom 1. August 2011)“ wird gewährleistet, dass die das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur betreffenden Artikel 14 (Grundschulerziehung und weiterführende Bildung Minderjähriger ) und Artikel 16 (Berufliche Bildung) der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung), umgesetzt werden. 4. Welche weiteren Maßnahmen werden in Umsetzung der Richtlinie 2013/33/EU aus Sicht der Landesregierung in MecklenburgVorpommern zu ergreifen sein (bitte nach den einzelnen Gruppen besonders schutzbedürftiger Personen aufschlüsseln)? Auf dem Spitzentreffen der Landesregierung mit der kommunalen Ebene am 16.02.2015 wurden zur Asyl- und Flüchtlingsthematik bereits grundlegende Vereinbarungen zum weiteren Vorgehen getroffen. Zudem tagt eine Arbeitsgruppe der Staatssekretärinnen und Staatssekretäre zu dem Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik im zweiwöchigen Rhythmus, die sich mit konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Aufnahme, Versorgung und Integration von Flüchtlingen, darunter ebenfalls die in Artikel 21 der Richtlinie 2013/33/EU genannten Personengruppen, befasst. Darüber hinaus wird die Landesregierung künftige Gesetzesinitiativen des Bundes zur Umsetzung der Richtlinie 2013/33/EU aktiv begleiten. Durch Einbindung des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur in die ressortübergreifende Arbeitsgruppe des Ministeriums für Inneres und Sport sowie in der Arbeitsgruppe „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ im Arbeitsbereich des Ministeriums für Arbeit, Gleichstellung und Soziales soll sichergestellt werden, dass der Zugang von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zum Bildungssystem Schule nach individuellen Voraussetzungen sachgerecht umgesetzt werden kann. Es besteht derzeit jedoch noch keine Einigung zwischen dem Bund und den Ländern, wer für die Identifizierung als besonders schutzbedürftige Person zuständig ist. Nach Auffassung der Länder ist dies eine Aufgabe des Bundes, die sich für ihn aus der EU-Verfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU) ergibt.